Im letzten Jahrzehnt der Bonner Republik hatten sich die Westdeutschen an die Zweistaatlichkeit gewöhnt. Das "Provisorium" war für sie längst keines mehr. Der von dem Politikwissenschaftler Dolf Sternberger ins Spiel gebrachte und von Jürgen Habermas übernommene Begriff des "Verfassungspatriotismus"
Vor dem Hintergrund einer postnationalen Gesellschaft, so das allgemeine Narrativ, konnten die dramatischen Ereignisse 1989/90 nur als "unverhoffte Einheit"
Wer erwartet hatte, dass der Regierungswechsel von der sozial- zur christliberalen Koalition in dieser Hinsicht einen Unterschied machen würde oder zumindest neue Töne angeschlagen werden könnten, sah sich getäuscht. Das Postulat der Wiedervereinigung wurde mit der gemeinsamen Verantwortung der beiden deutschen Staaten für den Frieden als "Koalition der Vernunft" beschworen.
Während die filigranen Verästelungen der Bonner Deutschlandpolitik hinreichend dokumentiert und analysiert worden sind, ist heute weithin vergessen, dass in den 1980er Jahren mit einiger Verwunderung eine "Renaissance der Deutschen Frage"
Dabei handelte es sich zwar in erster Linie um einen Diskurs unter bildungsbürgerlichen Eliten. Aber festzustellen, dass die Nationale Frage weniger die allgemeine Bevölkerung als die Intellektuellen und ihre Medien umtrieb, mindert nicht ihre Bedeutung, gilt diese Diskrepanz doch für nahezu jeden öffentlichen Diskurs um allgemeine politische Themen. Und sicherlich diente die Nationale Frage auch als Projektionsfläche, als "Abladeplatz des kulturkritischen Unbehagens an der Bundesrepublik, mit der unermüdlich gesuchten Identität als Angelpunkt".
Im Fall der Wiederbelebung des Nationalen handelte es sich vor allem um den Versuch unter jüngeren Akademikern, im Bildungsbereich und in den Medien – der Schock von 1968 lag nur ein Jahrzehnt zurück –, ein alternatives Angebot für die Suche nach "Identität" zu liefern. Insofern blieb die Wiederbelebung des Nationalen nicht in der Sphäre elitärer Selbstverständigung, mit den öffentlich vertretenen Positionen wurde um politisches Terrain gekämpft.
Im Folgenden werden Grundlinien der Diskussion des Nationalen auf der rechten beziehungsweise konservativen und auf der linken Seite des politischen Spektrums skizziert; daran schließen sich knappe Anmerkungen zu Einflüssen der Debatte auf die DDR an.
Nationale Frage auf der rechten Seite
Die traditionelle Verbindung von konservativer Politik und Nationalismus, zuletzt in der Koalition von Deutschnationalen und Nationalsozialisten, hatte nach dem Zweiten Weltkrieg keinen Bestand mehr. Nun stilisierten sich Sozialdemokraten – und auch die Kommunisten – als Sprecher der nationalen Belange, während die meisten Konservativen in der Ära Adenauer aus realpolitischer Einsicht dem Kurs der Westintegration folgten, der die deutsche "Einheit in Freiheit" nur als ferne Zukunft vorstellen ließ. Auch in den 1980er Jahren stand die Nationale Frage nicht im Zentrum der Unionspolitik und nicht einmal der rechten "Denkfabriken" am Rande und außerhalb der Union.
Das Nationale wurde von den meisten Konservativen nur noch als notwendiges Element für ein "funktionales Staatsverständnis" charakterisiert, das nicht ignoriert werden dürfe. "Wer das Thema der deutschen Identität politisch besetzt, ist einen großen Schritt im Kampf um die Macht vorangekommen", schrieb Werner Weidenfeld, ein politischer Berater des Kanzlers Helmut Kohl.
Dass die Bundesrepublik nicht als Teil, sondern als Kern Deutschlands anzusehen war, war aber längst im alltäglichen Bewusstsein ihrer Bürgerinnen und Bürger verankert, wenn etwa bei Sportwettkämpfen "Deutschland gegen die DDR" antrat. Die bizarre Kampagne gegen die – vermeintliche – Herabwürdigung der Bundesrepublik als "BRD" versinnbildlicht den Schwebezustand zwischen einer nationalen und einer spezifisch westdeutschen Position.
Als gefährlich galten den meisten konservativen Publizisten allerdings als "nationalrevolutionär" etikettierte Bewegungen, weil sie mit ihrer Flucht vor der Realität die "binnenstaatliche Integration in der Bundesrepublik" schwächen würden.
Diese Position, wie sie etwa der Bochumer Politikwissenschaftler Bernard Willms in seinen Schriften propagierte,
Der Nationalismus hatte aber auch eine ästhetisch-kriegerische, nicht direkt mit der politischen Programmatik verbundene Dimension, nämlich den intellektuellen Ekel vor der außenpolitischen Regierungsroutine und pazifistischen Grundstimmung in der Bevölkerung. Im gleichen Jahr, 1982, als Ernst Jünger den Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main erhielt, rechnete sein Anhänger Karl Heinz Bohrer, der neue Herausgeber der Zeitschrift "Merkur", mit der Zivilgesellschaft der Bundesrepublik ab. Im Falkland-Krieg der Engländer erblickte er auf britischer Seite "Ehre, Gerechtigkeit und Patriotismus", während westdeutsche Interpreten in dieser "Noblesse" nur eine "Obszönität" sehen könnten. Die "Friedensmentalität", "Freizeitmentalität" und "Händlergesinnung", eine terminologische Anleihe Bohrers bei den "Ideen von 1914", seien nicht in der Lage, ein solides "Staatsbewußtsein" zu schaffen.
Nationale Frage von links
Auch auf der linken Seite des publizistischen Spektrums wurde seit dem Ende der 1970er Jahre wieder intensiv über die Nationale Frage diskutiert. Der von Jürgen Habermas herausgegebene, tausendste (Doppel-)Band der angesehenen Edition Suhrkamp präsentierte im ersten Abschnitt "Die nationale Frage, wiederaufgelegt".
Ein breites Spektrum von Beiträgen, 18 Texte von 1978 bis 1980, dokumentierte ein Band des Rowohlt-Verlages (rororo-aktuell) – von Wolf Biermann und Peter Brückner bis zu Rudi Dutschke und Egon Bahr. Auch der "Befreiungsnationalist" Henning Eichberg fand Aufnahme.
Dass einige der Protagonisten der Revolte von 1968, darunter Bernd Rabehl, Horst Mahler und Reinhold Oberlercher, sich später nach rechtsaußen wandten, ist intensiv diskutiert worden; Rudi Dutschke, der eine weit fortgeschrittene "Amerikanisierung und Russifizierung" konstatierte und das fehlende "nationale Klassenbewußtein der deutschen Arbeiterklasse"
Der Traum von einem sozialistischen Gesamtdeutschland blieb vage von revolutionierten Massen bestimmt, die über die Bürokraten und Verwalter von Supermachtinteressen hinweg die nationale Einheit herstellen würden. In diesem Denken begegneten sich nationalistische Züge, wie sie im Kampf einiger maoistischer Gruppen gegen den "Sowjetimperialismus" als "Hauptfeind" zum Ausdruck kamen,
Auf der linken Seite ergab sich eine ähnliche Konstellation wie auf der rechten. Der Betonung der Nationalen Frage stellten sich umgehend Kritiker entgegen, zum einen aus dem linkssozialistischen und sozialdemokratischen Umfeld. Arno Klönne, führend im Sozialistischen Büro, wies darauf hin, dass der Begriff des Nationalen "von rechts her besetzt" sei und die "deutsche ‚National‘-Entwicklung (…) nicht nachträglich nach links hin umgedreht werden" könne. Eher sei festzustellen, dass rechte und "linke" Nationalisten sehr ähnliche politische Denkmuster vertreten würden, die Überhöhung eines imaginären Volkes und die Abwertung repräsentativer Demokratie. Die Trennung des ehemaligen Deutschen Reiches könne nicht rückgängig gemacht werden. "Den Nachbarländern fällt es schwer genug, zwei solcher Nachfolgestaaten zu verkraften, würde wieder einer daraus, wär’s zuviel für sie."
Der Staatsrechtler und ehemalige Bundesminister Horst Ehmke hatte bereits im Habermas-Band darauf hingewiesen, dass überhaupt erst die Neue Ostpolitik die deutsch-deutschen Beziehungen erträglich gemacht habe. Das Gegenkonzept, auch auf der konservativen Seite von nicht wenigen akklamiert, hieß "Kulturnation". Das gemeinsame kulturelle Erbe zu pflegen und den Austausch in der Gegenwart zu intensivieren, sollte langfristig eine Annäherung bewirken. Man müsse in diesem Zusammenhang keineswegs die "Rede vom Vaterland" scheuen, so der SPD-Vorsitzende Willy Brandt, soweit "wir sie vom Rausch fernhalten".
Die sogenannte Nebenaußenpolitik der SPD unter Brandt in den 1980er Jahren erweiterte die Parteikontakte mit der SED; dass allein ein europäischer Entspannungsprozess eine langfristige Perspektive der Verbesserung der deutsch-deutschen Beziehungen bewirken könnte, wurde dabei immer wieder herausgestellt. Vor diesem Hintergrund ist die große Zurückhaltung zu verstehen, mit oppositionellen Kräften in Polen, der Tschechoslowakei und der DDR enge Kontakte zu unterhalten, weil dies den Entspannungsprozess unterminiert hätte. Brandt forderte: "Die fruchtlose Diskussion, wie offen wohl die Deutsche Frage sei, sollte beendet werden. Sie bringt nichts."
Einflüsse der Diskussion um die Nationale Frage in der DDR
Das von Konservativen, aber auch in der SPD angefeindete Papier wurde vereinbarungsgemäß auch im "Neuen Deutschland", dem Zentralorgan der SED, veröffentlicht und beförderte in der DDR die wachsende Kritik am "realsozialistischen" System,
Mit der wachsenden Intensität des Kulturaustausches auf der Basis des Annäherungsprozesses im Rahmen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE-Prozess) seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre hatten sich westliche Einflüsse auf die DDR-Intellektuellen generell erhöht. Der oppositionellen Tradition – von Alfred Kantorowicz bis zu den Schülern von Ernst Bloch – folgend, neigten die wenigen Dissidenten zu neutralistischen Ideen, einer Herstellung der nationalen Einheit als Herauslösung aus den internationalen Machtblöcken;
Um 1980 war die Nation auch in der DDR-Propaganda wieder allgegenwärtig. Der zeitgenössische Preußen-Hype war ein gesamtdeutsches Phänomen. Ausdrücklich wurde von der SED dekretiert, dass man sich die gesamte deutsche Geschichte aneignen müsse. Die Rückseite davon war die Thematisierung der Nationalen Frage in dissidentischen Kreisen. Das Unbehagen an der Zweistaatlichkeit wurde ebenso wie in der Bundesrepublik literarisch verarbeitet, Wolf Biermanns "Preußischer Ikarus" kann durchaus in einem Zusammenhang mit Martin Walsers Bekenntnissen gesehen werden.
Bis zum Beginn der 1980er Jahre hatte sich das Kommunikationsnetz zwischen Intellektuellen beider Staaten weiter verdichtet.
Erst in den letzten Wochen jenes Jahres erfolgte der dramatische Wandel der Oppositionsbewegung auf den Straßen, als aus der Parole "Wir sind das Volk" der Ruf "Wir sind ein Volk" hervorging. Zugleich wurde "Deutschland einig Vaterland" skandiert, eine Verszeile der DDR-Nationalhymne von Johannes R. Becher, die freilich seit den 1970er Jahren nur noch instrumental präsentiert werden durfte. Es ist zwar bis heute nicht geklärt, wie dieser Parolenwechsel genau zustande kam und welche Rolle dabei Aktivisten aus Westdeutschland spielten. Aber das ist weniger erheblich als die Frage, welche Bedeutung die damit konnotierten nationalen Bezüge hatten. Vieles deutet darauf hin, dass die Teile der ostdeutschen Bevölkerung, die sich in diesen Demonstrationen artikulierten, einen Ausweg aus der letalen Krise der DDR, vor allem wirtschaftlich, nur in einer Vereinigung mit der Bundesrepublik sahen. Aber das spricht nicht für eine besondere Eindringtiefe nationalistischer Ideologie, sondern eher für eine nachvollziehbare rationale Entscheidung der Menschen.
Nach der Wiedervereinigung hielt sich die nationale Hochstimmung nicht sehr lange. Im Westen erinnerten sich Intellektuelle wehmütig an die "alte Bundesrepublik",