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So nah und doch so fern? | 1980er Jahre | bpb.de

1980er Jahre Editorial So nah und doch so fern? Die 1980er Jahre historisch erforschen 1980er: Typische Jahre "nach dem Boom" Das Subversive retten. Eine Denkfigur der 1980er Die Renaissance der Nationalen Frage in den 1980er Jahren Aids-Geschichte als Gefühlsgeschichte Politisches Handeln in multiethnischen Gesellschaften und das Erbe der 1980er Jahre: Beispiel Großbritannien Kein neuer Mythos. Das letzte Jahrzehnt West-Berlins Ära Kohl? Eine Kanzlerschaft in den 1980er Jahren

So nah und doch so fern? Die 1980er Jahre historisch erforschen - Essay

Angela Siebold

/ 14 Minuten zu lesen

Die 1980er Jahre waren ein spannungsgeladenes Jahrzehnt, in dem viele Veränderungen zwar nicht initiiert, aber allmählich relevant wurden. Das Jahrzehnt ist daher prädestiniert für transnationale und transkulturelle historische Betrachtungen.

Mit Verweis auf den Bestseller "Generation Golf" (2000) von Florian Illies stellte der Historiker Axel Schildt fest, die 1980er Jahre gälten gemeinhin als "langweilig (und geschmacklos)". In der Tat können dem Leser zu den "80ern" etwa Aerobic, Schulterpolster oder die Schwarzwaldklinik einfallen. Auch die historische Forschung verleiht den 1980er Jahren eine bisher eher konturlose Position zwischen Krise und Revolution. Dies wird sich, folgt man dem momentanen Trend, in den nächsten Jahren ändern, denn sowohl methodisch als auch thematisch sind die 1980er Jahre verstärkt ins Blickfeld der Geschichtswissenschaft geraten. Doch welche Deutungen dominieren bereits, und was kann eine Geschichte der 1980er Jahre prägen?

Entdeckung der 1980er Jahre als Forschungsfeld

Die 1980er sind aus heutiger Sicht ein ambivalentes Jahrzehnt: Einerseits liegen sie in der vergangenen, alten Welt des Kalten Krieges. Andererseits fragen Kritiker einer gegenwartsnahen historischen Forschung wie auch Zeitzeugen: Sind die 1980er Jahre überhaupt schon Geschichte? Nach und nach erfährt diese Zeit allerdings nun mehr Aufmerksamkeit in der historischen Forschung. Ein Grund hierfür liegt schlicht in der neuen Zugänglichkeit vieler Quellen: Es ist eine voraussagbare Konjunktur der zeithistorischen Forschung, dass Zeiten dann in den Blick genommen werden, wenn die 30-jährige Sperrfrist der Archive fällt.

Bislang existieren zu den 1980er Jahren vorwiegend drei verschiedene Gruppen historischer Darstellungen: Erstens gibt es Arbeiten, welche vor allem veröffentlichte Quellen zur Grundlage haben und damit nicht von Sperrfristen betroffen sind. Zweitens trifft die Einschränkung durch die Archive nicht für die DDR-Forschung zu, deren Akten bereits seit den frühen 1990er Jahren offen stehen. Letzteres erklärt die Diskussion um die Frage, ob die DDR-Geschichte im Vergleich zum westdeutschen Pendant bereits "ausgeforscht" sei. Drittens existieren mittlerweile zeithistorische Überblicksdarstellungen, welche die 1980er Jahre einbeziehen, sich dafür aber auch sozialwissenschaftlicher Forschungsergebnisse bedienen.

Zusätzlich stellen die 1980er historiografisch ein "nachholendes" Jahrzehnt dar: Zuletzt waren die 1970er Jahre häufiger Gegenstand zeitgeschichtlicher Forschungen. Parallel hierzu entstanden jedoch bereits Forschungen zur Zeit ab 1989 – auch im Takt politischer Gedenk- und Jubiläumskonjunkturen. Die dazwischen liegende Dekade trat dabei in den Hintergrund. Nun gilt es, die Forschungsergebnisse unter Beachtung dieser Zwischenzeit für eine Zeitgeschichte der langen Übergänge gewinnbringend zu diskutieren. Eine nachholende Erforschung der 1980er Jahre kann auch neue Deutungen der Zeit davor und danach bewirken. Es lohnt sich also, eine zeitliche und thematische Kontextualisierung der 1980er Jahre anzugehen und sie hinsichtlich ihres Potenzials für eine "Problemgeschichte der Gegenwart" zu diskutieren.

Ergebnisoffenes Scharnierjahrzehnt

Eine Historisierung der 1980er Jahre sollte mit einer zeitlichen Einordnung beginnen. Dominierend ist hierbei bisher der Blick auf die Dekade als abschließendes Jahrzehnt, denn die 1980er Jahre läuteten das Ende des sogenannten Ostblocks ein, freilich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten: So begann der Anfang vom Ende in Polen schon 1981 mit der Gründung der Gewerkschaft Solidarność, in der Sowjetunion 1985 mit der Ernennung Michail Gorbatschows zum Generalsekretär des Zentralen Komitees der KPdSU. Während der Reformprozess dort Jahre dauerte, waren die Zeiträume in der DDR oder der Tschechoslowakei, in denen die alten Ordnungen wirkungsvoll infrage gestellt wurden, wesentlich kürzer. Aber auch für die Bundesrepublik stehen die 1980er Jahre häufig am Ende einer Geschichte, etwa als "das letzte Jahrzehnt der Bonner Republik" oder als "Abschied vom Provisorium".

Die 1980er Jahre können also als das langsame Ende alter Ordnungen gelten. Diese Sicht ist nachvollziehbar, gleichzeitig jedoch auch nicht unproblematisch, stärkt sie doch retrospektiv das Jahr 1989, in dem sich alles änderte – und übersieht dabei, dass die Zeitgenossen wohl kaum etwas von den bevorstehenden Umbrüchen wissen konnten. Die zentrale Herausforderung besteht daher unbestritten darin, die 1980er Jahre mit der aus Sicht der Zeitgenossen ergebnisoffenen Zukunftsperspektive zu historisieren. Es war keineswegs offenkundig, wohin die damaligen Proteste führen sollten, und so dürfen die 1980er nicht als bloße Vorgeschichte des Umbruchs gedeutet werden. Dennoch kann der Wandel im Vordergrund stehen: Mit ihren Reformprozessen ließe sich die Dekade als Sprungbrett in eine Transformationszeit oder als "Schlüsselperiode" betrachten, besonders für Ostmitteleuropa.

Dort, aber auch im Westen, vollzogen sich ökonomische, kulturelle, mediale und soziale Umbrüche. Viele von ihnen begannen bereits in den 1970er Jahren. Statt als Vorgeschichte der Zäsur 1989 werden die 1980er Jahre daher auch im Fortsatz einer Zeitgeschichte "nach dem Boom" gedeutet, da hier die Herausforderung fortdauerte, mit den Folgen der Krisen von 1973 und 1979 umzugehen. Die Deutung der 1980er als Nachgeschichte der 1970er Jahre geschieht ebenfalls mit Blick auf die Institutionalisierung der neuen sozialen Bewegungen, beispielsweise in der Gründung der Partei Die Grünen im Januar 1980.

Eine solche Perspektive kann aber ebenfalls problematisch sein. Das Jahrzehnt war wohl mehr als die Zeit zwischen dem Aufbegehren der jungen Generation in der alten Bundesrepublik und dem Ende der DDR. Die 1980er Jahre waren auf beiden Seiten des "Eisernen Vorhangs" vielmehr eine Dekade der Gleichzeitigkeit alter und neuer Ordnungen, ein Scharnierjahrzehnt, in dem scheinbare Selbstverständlichkeiten gelebt und zugleich infrage gestellt wurden, in dem eingeübte Erfahrungen mit unvorhergesehenen Erlebnissen in Konflikt gerieten. Eine solche historisierende Perspektive sollte gegenüber den bisher dominierenden Deutungen der 1980er als Nachgeschichte von Protest und Krise oder als Vorgeschichte der Transformation gestärkt werden, um neue Forschungsfragen zu entwickeln. Betrachtet man die 1980er Jahre mit offenem Ausgang, dann finden sich zudem zahlreiche Anknüpfungspunkte an die Gegenwart. Die 1980er Jahre können so in vielerlei Hinsicht als "unmittelbare Vorgeschichte unserer Gegenwart" diskutiert werden.

Geschichte im Spannungsfeld zwischen Alt und Neu

Für die 1980er Jahre lassen sich verschiedene Spannungsfelder benennen, welche die Wahrnehmungen der Zeit prägten: etwa das zwischen Dynamisierung und Kontinuität, zwischen Modernisierung und Krise oder zwischen Privatem und Öffentlichem. Solche Spannungen entstanden nicht erst in den 1980er Jahren, entwickelten sich jedoch in dieser Zeit zu ineinander verwobenen oder beschleunigten Prozessen. Diese sollten im Transformationsjahrzehnt der langen 1990er Jahre neue Dimensionen einnehmen und sind bis heute wirkungsvoll. Gemeinsam ist diesen Spannungsfeldern, dass sie von den 1980er Jahren wie von einem zeitlichen Scharnier zwischen alt und neu zusammengehalten werden.

Die 1980er Jahre lassen sich daher durchaus als Zeitraum betrachten, der von Kontinuitäten geprägt war. Nirgendwo wurde das deutlicher als auf dem politischen Parkett: Hohe Amtsträger wie etwa Helmut Kohl, François Mitterrand, Ronald Reagan, Margaret Thatcher, Erich Honecker, aber auch Papst Johannes Paul II. prägten das Jahrzehnt durch ihre beständige Polit- und Medienpräsenz. Die 1980er Jahre waren zweifellos eine Zeit der machtpolitischen Stabilität. Gestützt wird dieses Bild durch eine vor allem in Überblickswerken tendenziell politik- und personengeschichtlich dominierte deutsche Zeitgeschichtsforschung. Sie allein wird aber der Geschichte nicht gerecht, denn neben solchen personellen Kontinuitäten zeigten sich die 1980er Jahre als Zeit des beschleunigten Wandels, etwa in der Pluralisierung und Popularisierung technischer Neuerungen, aber auch in der Formulierung modernitätskritischer Positionen.

So ließ das Bundesverfassungsgericht 1981 die Einführung des dualen Rundfunks zu, was 1984 die Gründung von Sat.1 und RTL (damals noch PKS und RTLplus) nach sich zog. Die Zunahme der Fernsehsender beförderte mediale Konkurrenzen und im Kontext transkultureller Prozesse beispielsweise die Ausstrahlung US-amerikanischer Serien wie "Dallas" oder "Knight Rider", die ganze Alterskohorten – im Westen und auch im Osten – medial und kulturell beeinflussten. Zugleich war das Programm der privaten Anstalten auch Anlass zu moralischen Mahnungen und kulturpessimistischen Prognosen.

Neben der Pluralisierung und Ausdifferenzierung des Angebots fand in den 1980er Jahren eine weitere Synchronisierung kollektiver Erlebnisse statt: Weltweit verfolgten Menschen auf den Mattscheiben den Absturz der Challenger-Raumfähre 1986, der zu einem transnationalen Medienereignis avancierte. Aber auch medial vermittelte Gesellschafts- und Sportereignisse ließen sich live verfolgen, etwa die im Fernsehen übertragene Hochzeit des britischen Thronfolgers Charles mit Diana Frances Spencer 1981, die Rennen der Formel 1 sowie die Tennisturniere in Wimbledon mit den Jugendikonen Boris Becker und Steffi Graf, wodurch Tennis in der Bundesrepublik für einige Jahre zu einem regelrechten Volkssport wurde. Das Erleben von Großereignissen in Echtzeit, seien sie politischer, gesellschaftlicher oder sportlicher Art, veränderte die Wahrnehmung auch über die Ländergrenzen hinweg und demonstrierte einen "Wandel der Mediengesellschaft", wie ihn der Historiker Frank Bösch am Ende der 1970er Jahre verortet hat. Bezüge zur Gegenwart sind in einer Zeit nach den medialen Ereignissen des Mauerfalls und der Anschläge auf das World Trade Center offensichtlich. Mittlerweile haben Bilder und Videos durch die Verbreitung in sozialen Netzwerken eine neue Form medialer Authentizität entwickelt, die auf die Realität selbst rückwirken und diese verändern können.

Doch nicht nur für das Fernsehen, auch für die Computertechnologie waren die 1980er Jahre ein wichtiges Jahrzehnt – wieder nicht bezüglich ihrer Erfindung, aber bei der gesellschaftlichen Verbreitung der Computer, welche in den 1980er Jahren den Sprung von der technischen Innovation zum massen- und alltagstauglichen Konsumprodukt schafften. Denn auch wenn die Anfänge der heimischen Digitalisierung bereits in den 1970er Jahren lagen, so erhielt sie für die alltägliche Erfahrungswelt vor allem mit der Einführung des MS-DOS-Betriebssystems von Microsoft und dem Personal Computer von IBM 1981 eine neue Dimension. Der Aufbruch ins Informationszeitalter und die damit verbundene Digitalisierung der Welt wurde aber auch schon früh mit möglichen Gefahren des Fortschritts in Verbindung gebracht: Gestützt durch das Bewusstsein der in den 1970er Jahren entstandenen Initiativen gegen Überwachung und staatliche Kontrolle kam es 1983 und 1987 zum Boykott gegen die Volkszählung – ein Thema, das angesichts heutiger Diskussionen um Datensicherheit und -speicherung ebenfalls hochaktuell ist.

Zeit der Krisen und Risiken

Mit dem Wandel ging auch eine Popularisierung des Protests einher: Gerade im Bereich der Umwelt- und Friedensbewegungen, deren Legitimität durch Krisen, Katastrophen und Konflikte in den 1980ern zunahm, entstanden Bürgerinitiativen, Institutionen und Unternehmen. Besonders in der Bundesrepublik kam es zu einem "Aufschwung des Ökologischen". Das war kein Wunder, waren die 1980er Jahre auch die Zeit der großen ökonomischen, militärischen oder ökologischen Bedrohungen, welche häufig diffus und zugleich unentrinnbar erschienen und dadurch erst recht Ängste schürten. So prägt ein endzeitliches Krisennarrativ das Bild der 1980er Jahre – auch in der Historiografie. Es trägt ein weites Spektrum in sich, von den Nachwirkungen der Wirtschaftskrisen der 1970er Jahre bis hin zum Kalten Krieg, in dessen Kontext militärische Maßnahmen wie Nachrüstung und NATO-Doppelbeschluss neue bedrohliche Dimensionen erlangten. Begreift man das Modell der bipolaren Weltordnung als Krise, so wirkte diese jedoch weit über die 1980er Jahre fort: Es wäre eine Überschätzung historischer Zäsuren, anzunehmen, dass das Ende des Kalten Krieges auch das Ende von Konflikten zwischen West und Ost bedeutete. Die heutige Krise in der Ukraine und die Positionierung der Mächte im syrischen Bürgerkrieg zeigen, wie Konflikte der bipolaren Weltordnung weiter andauern.

Das ausgeprägte Krisenbewusstsein der 1980er Jahre ist jedoch nicht bloß am Ost-West-Konflikt festzumachen: Hinzu kamen ökologische Katastrophen wie das befürchtete Waldsterben oder die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 1986, die Verbreitung von Aids sowie das zunehmende Bewusstsein der Folgewirkungen des Drogenkonsums, das sich in der Bundesrepublik unter anderem im kommerziellen Erfolg des Films "Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" (1981) niederschlug. Vor diesem Hintergrund überrascht der zeitgenössische Erfolg von Ulrich Becks Buch über die "Risikogesellschaft" nicht, welches just im Katastrophenjahr 1986 erschien. Themen wie die Friedens- und Umweltbewegung, aber auch Protestkulturen wie etwa die Punkbewegung waren im Übrigen keine ausschließlich westlichen Phänomene, sondern existierten auch in den staatssozialistischen Gesellschaften.

Im Sozialen und Ökonomischen forderten Massenarbeitslosigkeit und Rezession die Zeitgenossen hinaus. Hier standen in den 1980er Jahren die Zeichen auf Reform: Vor allem die Privatisierungen im wirtschaftlichen Bereich, ausgehend von Großbritannien und den USA, wiesen auf die Durchsetzung des sogenannten Neoliberalismus. Überschuldung und Implosion des Ostblocks prägten zudem unser Bild, wonach sich das westliche Modell in Europa durchgesetzt habe. Durch die internationale Bedeutungszunahme der Globalisierung gewann der Kapitalismus zunehmend den Charakter eines alternativlosen Ordnungsmodells. Heute wird deutlich, wie wichtig es ist, hier über die 1980er Jahre hinauszugehen und die Folgen der Reformen in West- wie in Osteuropa langfristig zu betrachten.

Es erklärt sich von selbst, dass eine Suche nach den Ursachen der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise eine kritische Historisierung auch der 1980er Jahre nach sich ziehen muss. Geht man über Europa hinaus, so fänden sich in den 1980er Jahren noch weitere Anknüpfungspunkte an eine gegenwartsorientierte Zeitgeschichtsforschung – so etwa in der heutigen Krisenregion des Nahen und Mittleren Ostens, die fast über die gesamten 1980er Jahre hinweg vom Krieg zwischen Iran und Irak, aber auch der sowjetischen Präsenz in Afghanistan geprägt war.

(West)europäische Bewältigungsversuche

In den 1980er Jahren wurde auch verstärkt versucht, politische Strategien zur kollektiven Bewältigung transkultureller Herausforderungen zu entwickeln. Die aus heutiger Sicht bedeutendste Strategie war zweifellos die europäische Integration, die zu Beginn des Jahrzehnts in der "Eurosklerose" feststeckte. Nach den ersten Wahlen zum Europäischen Parlament 1979 folgten in den 1980er Jahren weitere Maßnahmen zur Revitalisierung des europäischen Gedankens, darunter zwei zentrale Entscheidungen, die bis heute von großer Bedeutung sind: die Abschaffung der Grenzkontrollen sowie die Einführung einer gemeinsamen Währung. Die Schengener Abkommen (1985 und 1990), die Einheitliche Europäische Akte (1986) sowie der Delors-Bericht von 1988 stellten wichtige Weichen für das heutige Europa.

Sowohl die Währungsunion als auch die heutige Flüchtlings- und Grenzpolitik der EU wurden somit in den 1980er Jahren auf den Weg gebracht, ihre Umsetzung erfolgte dann nach der Zäsur 1989/90. Ursachen für die heutige Flüchtlingsdiskussion sowie für die finanzpolitischen Probleme sind also auch in dieser Zeit zu suchen. Ebenso sind die "Entdeckung der Einwanderung" als gesellschaftliche Herausforderung und die ersten verschärften Debatten um Flucht und Asyl in den 1980ern zu finden. Wichtig ist dabei zu beachten, dass alle diese Beschlüsse unter den Voraussetzungen des "alten Europas" gefasst wurden. Sie gestalteten jedoch das Europa nach dem Ende des Kalten Krieges grundlegend – und mit ihm auch heutige Probleme und Konflikte.

Gegenwärtige Vergangenheit

Ein weiteres Beispiel für die Spannung von alt und neu, von Vergangenheit und Zukunft, ist der Umgang mit dem nationalsozialistischen Erbe. Die in den 1980er Jahren häufiger zu beobachtenden Bewegungen "von unten" betrafen auch den Blick zurück. Er erfuhr beispielsweise durch Geschichtswerkstätten Impulse, wenn es darum ging, der nationalsozialistischen Vergangenheit Aufmerksamkeit zuzuwenden. Die unter anderem durch die 1979 ausgestrahlte US-amerikanische Fernsehserie "Holocaust" in der breiten Bevölkerung geweckte Sensibilität für das Thema wurde medial, zivilgesellschaftlich und politisch gefördert: Auch die 1985 gehaltene Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 8. Mai 1945 als ein Tag der Befreiung ist in diesem Zusammenhang zu nennen.

1986 brachte der "Historikerstreit" die Frage nach der deutschen Schuld endgültig auf die Bühnen von Wissenschaft und Publizistik. Die nationale Identität der Deutschen wurde so nicht erst nach dem Ende der deutschen Teilung diskutiert: Schlagworte wie der Verfassungspatriotismus boten in den 1980er Jahren Anlass zu kontroversen intellektuellen Debatten. Gleichzeitig erfuhren in der Ära Kohl auch die Vertriebenenverbände eine politische Renaissance, nachdem diese unter den vorausgegangenen sozialdemokratischen Kanzlern eher als "Ewiggestrige" politisch gemieden worden waren.

Erbe der 1980er Jahre

Die 1980er Jahre waren ein spannungsgeladenes Jahrzehnt, in dem viele Veränderungen zwar nicht initiiert, aber für die breite Gesellschaft allmählich relevant wurden. Diese musste lernen, mit ökologischen Risiken, globalen Verwicklungen und militärischen Bedrohungsszenarien umzugehen. Die großen Themen der 1980er Jahre machten weder an den Grenzen der Nationalstaaten noch an denen des "Eisernen Vorhangs" halt. Das Jahrzehnt zwischen der alten und der neuen Ordnung ist daher prädestiniert für eine transnationale und transkulturelle Zeitgeschichte, die auch Verflechtungen, gegenseitige Wahrnehmungen und grenzüberschreitenden Austausch erforschen will.

In den 1980er Jahren wurden erlernte Normalitäten infrage gestellt; gleichzeitig blieb zunächst ungewiss, inwiefern diese Erlebnisse die Zukunft prägen würden. Umso erstaunlicher ist es, dass die 1980er Jahre rückblickend auch als Zeit der stabilen Ordnungen gesehen werden. Das liegt wohl in erster Linie an der ordnenden Kraft des Kalten Krieges, der bis zum Ende des Jahrzehnts auf politischer Ebene ein prägendes Kontinuum blieb und die 1980er Jahre in der alten Weltordnung verortete. Die Dekade stand also für eine weitere Polarisierung der Mächte, aber auch für eine Popularisierung der Medien- und Erlebniskultur. Nicht selten zeigte sich in diesen Spannungsfeldern eine Verunsicherung der Zeitzeugen, wie mit den ungewissen Veränderungen umzugehen sei.

Das geschichtswissenschaftliche Potenzial der 1980er Jahre ist derweil noch längst nicht ausgeschöpft. Wenn es gelingt, den schweren Schleier der Zäsur 1989/90 weiter zu lüften, so kann sich die große Gegenwartsnähe des Jahrzehnts zeigen, der es mit einer reflektierten Historisierung zu begegnen lohnt. Zweifellos ist hierfür eine Deutung als "langes Jahrzehnt", das seine Vorläufer und Folgen einbezieht, sinnvoll, ohne die 1980er Jahre zur Vor- oder Nachgeschichte zu degradieren. Die methodische Überwindung der starren Zäsuren und Grenzen des Kalten Krieges fordert zudem eine größere Offenheit, damit die 1980er Jahre langfristig historisiert werden können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Axel Schildt, Das letzte Jahrzehnt der Bonner Republik. Überlegungen zur Erforschung der 1980er Jahre, in: Meik Woyke (Hrsg.), Wandel des Politischen. Die Bundesrepublik Deutschland während der 1980er Jahre (Einzelveröffentlichungen aus dem Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 3), Bonn 2013, S. 25–50, hier: S. 25.

  2. Zahlreiche Beispiele hierfür hat das Archiv für Sozialgeschichte zusammengetragen: Vgl. M. Woyke (Anm. 1).

  3. Vgl. hierzu jüngst Thomas Lindenberger, Ist die DDR ausgeforscht? Phasen, Trends und ein optimistischer Ausblick, in: APuZ, (2014) 24–26, S. 27–32.

  4. Zum Verhältnis der Zeitgeschichte zu sozialwissenschaftlichen Forschungen vgl. Kim Priemel/Rüdiger Graf, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 59 (2011) 4, S. 479–495.

  5. Zu nennen sind hierbei vor allem die als Zäsuren diskutierten Jahre 1973 und 1979. Vgl. Lutz Raphael/Anselm Doering-Manteuffel, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; Frank Bösch, Umbrüche in die Gegenwart. Globale Ereignisse und Krisenreaktionen um 1979, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 9 (2012) 1, S. 8–32, Externer Link: http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2012/id=4421 (5.10.2015).

  6. Vgl. u.a. die Forschungsförderungen der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und damit verbundene Publikationen, etwa: Marcus Böick/Anja Hertel/Franziska Kuschel (Hrsg.), Aus einem Land vor unserer Zeit. Eine Lesereise durch die DDR-Geschichte, Berlin 2012.

  7. L. Raphael/A. Doering-Manteuffel (Anm. 5), S. 25, mit Bezug auf Hans Günter Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland, in: Historisches Jahrbuch, 113 (1993) 1, S. 98–127, hier: S. 124.

  8. A. Schildt, (Anm. 1).

  9. Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1989/90, München 2006.

  10. Vgl. u.a. Christoph Lorke/Alexander Kraus, Vor dem Aufbruch. 1988 als vergessenes Jahr, in: APuZ, (2014) 24–26, S. 40–46.

  11. Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014, S. 74. Zu dieser Konzeption vgl. auch Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012.

  12. Vgl. L. Raphael/A. Doering-Manteuffel (Anm. 5). Auch Tony Judt fasst die 1970er und 1980er Jahre in einem Kapitel zusammen: Vgl. Tony Judt, Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, München–Wien 2006. Siehe hierzu auch den Beitrag von Lutz Raphael in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  13. Zum Übergang der neuen sozialen Bewegungen in die 1980er Jahre vgl. Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014.

  14. Dietmar Süß/Meik Woyke, Schimanskis Jahrzehnt? Die 1980er Jahre in historischer Perspektive, in: M. Woyke (Anm. 1), S. 7–24, hier: S. 7.

  15. Zur Definition von Medienereignissen in der Geschichtswissenschaft vgl. Frank Bösch, Europäische Medienereignisse, in: Europäische Geschichte online, 3.12.2010, Externer Link: http://ieg-ego.eu/de/threads/europaeische-medien/europaeische-medienereignisse (5.10.2015).

  16. F. Bösch (Anm. 5), S. 13.

  17. Vgl. hierzu als eindrückliches Beispiel die Verbreitung des Facebook-Fotos von Neda Soltani als Ikone des Widerstands in Iran 2009 anstelle des Bildes von Neda Agha-Soltan durch westliche Medien: Neda Soltani, Mein gestohlenes Gesicht. Geschichte einer dramatischen Verwechslung, München 2012.

  18. Frank Uekötter/Claas Kirchhelle, Wie Seveso nach Deutschland kam. Umweltskandale und ökologische Debatte von 1976 bis 1986, in: M. Woyke (Anm. 1), S. 321–338, hier: S. 321.

  19. Siehe hierzu auch den Beitrag von Magdalena Beljan in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  20. Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986.

  21. Vgl. IvanT. Berend, Europe Since 1980, Cambridge 2010, S. 3.

  22. Vgl. P. Ther (Anm. 11).

  23. Marcel Berlinghoff, Das Ende der "Gastarbeit". Europäische Anwerbestopps 1970–1974, Paderborn 2013, S. 17ff.

  24. So z.B. Karl Schlögel, Die Mitte liegt ostwärts, München–Wien 2002, S. 13.

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Dr. phil., geb. 1981; akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Zeitgeschichte und der Professur für Angewandte Geschichtswissenschaft – Public History des Historischen Seminars der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Grabengasse 3–5, 69117 Heidelberg. E-Mail Link: angela.siebold@zegk.uni-heidelberg.de