Die bevorstehende Publikation einer kritisch kommentierten Ausgabe von Adolf Hitlers Bekenntnisbuch "Mein Kampf" gibt Anlass zu geschichtsdidaktischen Überlegungen. Kann "Mein Kampf" Gegenstand des schulischen Lernens sein? Welche Schwierigkeiten, aber auch welche Chancen tun sich auf, wenn sich heutige Jugendliche mit diesem Text auseinandersetzen? Um diese Fragen zu beantworten, blicke ich auf den bisherigen Geschichtsunterricht sowie auf einige wenige empirische Befunde zurück. Davon ausgehend formuliere ich im letzten Abschnitt des Beitrags Vorschläge für die Interpretation und Beurteilung von "Mein Kampf".
Jugend nach Hitler
"Hitler war’s". Auf diese kurze Formel lässt sich ein wesentlicher Bestandteil jener geschichtspolitischen Selbstentlastung zurückführen, die bis in die 1960er Jahre das Klima der westdeutschen "Vergangenheitsbewältigung" prägte. Indem Hitler als allmächtiger, terroristischer Diktator vorgeführt wurde – gewissermaßen das negative Abziehbild des nationalsozialistischen Führerkults –, mussten unbequeme Fragen nach der Mitwirkung der deutschen Gesellschaft und ihrer Eliten nicht gestellt werden.
Der Akzent der Volks- und Mittelschullehrerausbildung lag auf der Erzählung der Lebensgeschichten vorbildlicher historischer Akteure. Hitler war das negative Gegenbeispiel, aber die Methode blieb dieselbe. Ausdrücklich wurde Lehrerinnen und Lehrern empfohlen, nicht vom "Dritten Reich", sondern vom "Hitler-Reich" zu sprechen.
1967 wurden rund 130 hessische Neuntklässler über ihre Einstellung zum Nationalsozialismus befragt. Hitler war für die damals 15-Jährigen eine "Symbolfigur", in der sich die Geschichte der NS-Diktatur verdichtete. Sie schrieben dem Diktator folglich Verbrechen des Regimes zu: "Hitler hat die Juden verfolgt und ermordet." Immerhin jeder fünfte Proband konnte sich auf diese Aussage allerdings keinen eigenen Reim machen und malte sich beispielsweise aus, Hitler persönlich habe den Juden "alle Kleider weggenommen und sie mit Peitschen geschlagen".
Die unübersehbare Tendenz zur Konservierung vordemokratischer Einstellungen im Geschichtsunterricht wurde zu dieser Zeit bereits infrage gestellt.
1977 löste ein Buch des Lehrers Dieter Boßmann einen veritablen Schock in der bundesdeutschen Publizistik und Fachöffentlichkeit aus. Boßmann hatte über 3000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene Aufsätze zu folgendem Thema schreiben lassen: "Was ich über Adolf Hitler gehört habe".
Das Programm einer an Vernunftkriterien und Aufklärung, an objektiven Schülerinteressen und Emanzipation ausgerichteten Erneuerung geschichtlicher Bildung kollidierte eklatant mit solchen "trivialen" Inhalten des kindlich-jugendlichen Geschichtsbewusstseins.
Liest man die Texte von Boßmanns Probanden mit dem Abstand von 40 Jahren, fällt ins Auge, dass sie auch Äußerungen von Lehrkräften reproduzierten.
Das von Historikern und Geschichtsdidaktikern gleichermaßen unerwartete Echo des Fernsehmehrteilers "Holocaust" gab 1979 zusätzlichen Anlass, über das Verhältnis zwischen unterrichtlichen Vermittlungsformen und den Rezeptionsgewohnheiten des Publikums nachzudenken.
In Übereinstimmung mit wesentlichen Teilen der Zeitgeschichtsforschung begegneten Geschichtsdidaktiker der 1980er und 1990er Jahre biografischen Erklärungsansätzen des NS-Regimes skeptisch. In der außerschulischen Geschichtsvermittlung, die mit der anspruchsvollen strukturgeschichtlichen Interpretation des NS-Staates nie viel hatte anfangen können, spielte Hitler eine weiterhin wichtige Rolle, und im populären Geschichtsfernsehen der 1990er Jahre erlebte der Hitlerismus nachgerade seine Wiedergeburt. 1995 stimmten deutsche Neuntklässler Charakterisierungen Hitlers als zynischem Diktator und Verbrecher, totalitärem Gewaltherrscher und geisteskrankem Kriminellen lebhaft zu. Der "Spielfilm" war bereits ihr beliebtestes geschichtliches Informationsmedium.
Halten wir zunächst fest, dass die Eingangsfrage nach den Risiken und Nebenwirkungen von "Mein Kampf" nicht allein dem Geschichtsunterricht gestellt werden sollte. Hitler ist inzwischen zu einer Medienfigur geworden, die Jugendlichen der vierten Nachkriegsgeneration in unterschiedlichsten Kontexten gegenübertritt und nicht zwangsläufig zum historischen Denken anregt.
"Mein Kampf" im Geschichtsunterricht
Der alltägliche Geschichtsunterricht ist ein weitgehend blinder Fleck geschichtsdidaktischer Empirie. Um Tendenzen und Schwerpunktsetzungen aufzuzeigen, kann hilfsweise auf das Instrument der Schulbuchanalyse zurückgegriffen werden.
Betrachtet man Schulbücher als Ausdruck gesellschaftlicher Konventionen über historische Wissensbestände, die an die nächsten Generationen überliefert werden sollen, war die nationalsozialistische Propaganda von jeher Gegenstand des Geschichtsunterrichts. Unter den Vorzeichen des Kalten Krieges wurden in vielen Schulbüchern schematische Vergleiche zwischen Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus angestellt. Im Verein mit der hitlerzentrischen Interpretation des NS-Staates sollten diese Vergleiche totalitärer Diktaturen politisch entlastende Wirkungen entfalten.
Die Verbrechen des Regimes wurden teils ganz verschwiegen, teils hinter wolkigen Metaphern verborgen. Das deutsche Volk erschien als Opfer nationalsozialistischer Verführung, die durch eine raffinierte politische Propaganda ins Werk gesetzt worden sei.
Wie im Unterricht über Hitler und "Mein Kampf" gesprochen wurde, ist indes weitgehend unbekannt. Interpretiert man die vorhin zitierten Beispiele aus Boßmanns Dokumentation als Niederschlag unterrichtlicher Unterweisung, dürfte noch Mitte der 1970er Jahre ein Teil der Lehrkräfte die terroristische Unterdrückung und propagandistische Verführung der deutschen Mehrheitsgesellschaft betont haben, während andere – wohl Lehrer der jüngeren Generation – "Mein Kampf" als sträflich ignoriertes Vorzeichen kommenden Unheils interpretierten. Solche Überlegungen sind allerdings insofern spekulativ, als jugendliche Vorstellungen über Hitler und das "Dritte Reich" auch aus ganz anderen Quellen gespeist sein konnten. Die Medien spielten bereits eine wichtige Rolle, ferner Erzählungen innerhalb der Familien, in denen die Legende von den Deutschen als Hitlers erste Opfer fortgeschrieben wurde.
In den 1980er Jahren spielten Hitler und "Mein Kampf" mit hoher Wahrscheinlichkeit keine wichtige Rolle im Geschichtsunterricht. Das ein Jahrzehnt zuvor formulierte Verdikt gegen die Personalisierung gehörte inzwischen zum geschichtsdidaktischen Mainstream. Auch fanden strukturgeschichtliche Erklärungsansätze der Zeitgeschichtsforschung vermehrt Eingang in den Unterricht. Zwar wurden in Schulbüchern weiterhin kurze Auszüge aus "Mein Kampf" abgedruckt, aber Lehrkräfte hielten sich im Allgemeinen nicht lange mit ihnen auf und betonten teilweise den eklektischen Charakter von Hitlers Ideologie. Üblicherweise tauchte "Mein Kampf" in Kapiteln über die Krisenjahre der jungen Weimarer Republik auf. Die Frage, ob das "Dritte Reich" als Vollzug von Hitlers Weltanschauung betrachtet werden könne, stand nicht im Fokus der Verfassertexte.
Hierbei ist es im Großen und Ganzen bis heute geblieben, sieht man davon ab, dass die Kernthese von Ian Kershaws Hitler-Biografie
Eine differenzierte Einbeziehung dieser Forschungsdiskussionen in den Geschichtsunterricht wird durch die zunehmende Ritualisierung des Unterrichtsgesprächs erschwert.
"Mein Kampf": Propaganda oder historische Quelle?
"Mein Kampf" ist eine rechtsradikale Propagandaschrift. Hitler schrieb dieses Buch, um für sich selbst und die Rolle eines nationalen "Führers" zu werben. Zugleich war sein Politikverständnis durch und durch propagandistisch, zielte also auf die Mobilisierung von Massen, die im Buch folgerichtig einen hohen Stellenwert einnimmt. Gleichwohl ist "Mein Kampf" für das historische Lernen in erster Linie eine Quelle, die mittels der historischen Methode interpretiert und analysiert werden kann. Der propagandistische Charakter des Buches hat Lehrkräfte und Schüler in den vergangenen Jahrzehnten nicht daran gehindert, "Mein Kampf" auszugsweise zu lesen, ohne dass die gegenwärtig offenbar befürchteten Folgen einer rechtsradikalen Mobilisierung eingetreten wären.
Überhaupt sollte der Propagandabegriff mit Augenmaß verwendet werden. Assoziationen einer totalitären Überwältigung des deutschen Volkes sollten vermieden, der zutiefst inhumane Charakter von "Mein Kampf" sollte herausgearbeitet werden, ohne die für das historische Lernen konstitutive Zeitdifferenz zwischen NS-Vergangenheit und Gegenwart einzuebnen. Für das Geschichtsbewusstsein heutiger Schüler wäre nicht viel gewonnen, wenn Auszüge aus Hitlers Buch zur Erzeugung politisch erwünschter Einstellungen verwendet würden. Ein solcher Geschichtsunterricht liefe auf Gesinnungsbildung hinaus und würde seine Adressaten bestenfalls verfehlen, schlimmstenfalls zu Trotzreaktionen veranlassen.
Eine vollständige Lektüre von "Mein Kampf" im Geschichtsunterricht ist weder möglich noch erwünscht. Die Frage, ob Hitlers Ideologie originell war, ist in unserem Zusammenhang ebenfalls zweitrangig. Der britische Historiker Ian Kershaw hat "Mein Kampf" treffend als "Wiederaufbereitung der brutalsten Grundsätze, die Imperialismus, Rassismus und Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts vertreten hatten, und deren Übertragung auf Osteuropa im 20. Jahrhundert" charakterisiert, als ein "berauschendes Gebräu".
Selbstverständlich muss über Hitler als Person gesprochen werden, wenn "Mein Kampf" interpretiert werden soll. Vor einer entsprechenden Unterrichtseinheit sollte schriftlich erhoben werden, was die Lernenden über Hitler wissen oder zu wissen glauben.
Ein kritischer Rückblick auf Hitlers Biografie wird zum Ziel haben, die autobiografischen Aussagen im ersten Teil von "Mein Kampf" an der tatsächlichen Lebensgeschichte des Verfassers zu messen. Der politische Schriftsteller Hitler hatte ein Interesse daran, seinen Lebensweg mit der angemaßten Rolle des "Führers" in Einklang zu bringen, letztlich also Propaganda für sich selbst zu machen. Hitler erzählt in "Mein Kampf" die Geschichte eines weltgeschichtlichen Ringens von Völkern und "Rassen", aus der er die Berechtigung der Deutschen zum Krieg sowie zum Mord an angeblich Minderwertigen und "Verrätern" meint ableiten zu können.
Meine Überlegungen für die unterrichtliche Auseinandersetzung mit Hitlers Buch stützen sich auf bewährte Unterrichtsmethoden, namentlich die ideologiekritische Interpretation.
Ideologiekritik zielt darauf, Hitlers Legitimationsmuster und die Voraussetzungen ihrer Entstehung um die Wende zum 20. Jahrhundert zu verstehen. Die "völkische" Ideologie war eine von mehreren "Ersatzreligionen", die den ganzen Menschen forderten; der Begriff "Weltanschauung" bezeichnet ihren Geltungsanspruch.
Hitlers manischer Judenhass war mit der traumatischen Erfahrung des verlorenen Ersten Weltkrieges und dem Verratssyndrom der Dolchstoßlegende aufs Engste verbunden.
Die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust zielt seit einiger Zeit auf die Menschenrechtserziehung.
Fazit
Die kritische Edition von Hitlers "Mein Kampf" stellt keine Zäsur für das historische Lernen dar. NS-Propaganda war Gegenstand des Geschichtsunterrichts, seit er sich der Geschichte des "Dritten Reiches" stellte. Die Hervorhebung der propagandistischen Massenbeeinflussung im Schulbuch der 1950er und 1960er Jahre fügte sich in den Interpretationsrahmen einer schematisch angewendeten Totalitarismustheorie ein. Sie war mit dem Versuch verbunden, die Verbrechen des NS-Regimes allein Hitler zur Last zu legen.
Auszüge aus "Mein Kampf" gehören bis heute zum Standardrepertoire des Schulgeschichtsbuchs, dürften aber nicht eingehend gelesen worden sein. Die ideologiekritische Interpretation von Hitlers Weltanschauung kann dazu beitragen, die Erstarrung des Geschichtsunterrichts über den Nationalsozialismus aufzubrechen, indem seine Entstehung aus dem historischen Kontext der 1920er Jahre erklärt wird. Das moralische und politische Werturteil wird durch die behutsame Herstellung von Gegenwartsbezügen nicht relativiert, sondern durch Perspektivwechsel an eine vergangene Wirklichkeit zurückgebunden, die der heutigen in Teilen vergleichbar ist. Wer "Mein Kampf" liest, sieht folglich sich selbst ins Gesicht und den Vorfahren seit 1945 über die Schulter. Auf diese Weise kann Geschichtsbewusstsein kritisch wirken, statt in "Erinnerung" zu versinken.