In den 1950er und 1960er Jahren hatte ich Gelegenheit, immer wieder Gespräche mit Hans Kohn, Max Horkheimer und Jean Améry zu führen; auch mit vielen anderen, ehemaligen Emigranten und Wissenschaftlern, die wichtige Werke zum Nationalsozialismus geschrieben haben. Tenor dieser Gespräche war häufig die Notwendigkeit von Mentalitätsgeschichte beziehungsweise Psychohistorie; nur mit deren Hilfe könne man das Entstehen, die Entwicklung und den Erfolg des Nationalsozialismus verstehen. Dessen Wurzeln reichten weit ins 19. Jahrhundert zurück, in dem der "deutsche Geist" vielerlei Perversionen erlitt, die Hitler für seine Zwecke nutzte. Das verstärkte meine Arbeit auf diesem Gebiet, die zu meinem Buch "Spießer-Ideologie" führte.
"Spießer" als anthropologischer und sozialpsychologischer beziehungsweise kulturhistorischer Schlüsselbegriff stand – so der damalige Diskurs – für ein Mentalitätsmuster und für Seelenbilder, die den Niedergang humaner Bildung phänotypisch verdeutlichten. Als Begriff ist er insofern nicht unproblematisch, da er, häufig umgangssprachlich gebraucht, der Trennschärfe entbehrt, auch verniedlichend wirken mag. Als wissenschaftlich fundierter Fachausdruck war er jedoch – freilich, indem man ihn definitorisch auffächerte und beschrieb – eine gute klassifikatorische Bestimmung. Vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und im beginnenden 20. Jahrhundert entdeckten Autoren wie Frank Wedekind, Heinrich Mann, Carl Sternheim, Bertolt Brecht, Hermann Broch, Marieluise Fleißer oder Ödön von Horváth die dämonischen Abgründe des Spießers und sahen darin vor allem die Ursache für den Untergang des bürgerlichen Zeitalters.
Adolf Hitler, so meine Argumentation, war die Inkarnation des oft in seiner Abgründigkeit nicht erkannten oder verharmlosten Kleinbürgers. Er traf auf ein Volk, das "verspießert" war; es erfolgte eine gegenseitige Identifikation, wie sie der "Führer" auf dem Reichsparteitag in Nürnberg am 13. September 1936 unter dem Jubel der anwesenden Kampforganisationen der NSDAP angesprochen hatte: "Das ist das Wunder unserer Zeit, daß ihr mich gefunden habt unter so vielen Millionen. Und daß ich euch gefunden habe, das ist Deutschlands Glück."
Mutation des Bildungsbürgers
Die stets drängende Frage, die auch die Nachgeborenen beschäftigen sollte, lautet: Wie konnte es dazu kommen, dass Franz Grillparzers dunkle Vision von 1849 bittere Wirklichkeit wurde, dass nämlich der deutsche geschichtliche Weg von der "Humanität durch Nationalität zur Bestialität" führte, dass ein Volk, das auf allen Gebieten der Kultur, vor allem seit der Aufklärung und Klassik, so viele wertvolle Beiträge zur Entwicklung der Weltkultur geleistet hatte,
Wohin man auch blickt: Der Aufstieg des Nationalsozialismus vollzog sich auf der Grundlage einer zerstörten oder pervertierten Kultur. Hitler war als Inkarnation bourgeoiser Durchschnittlichkeit nicht ein raffinierter Verführer, sondern schon mit seinem Buch "Mein Kampf" der deutsche abgründige Spießer. Man hat lange die Meinung vertreten, Bedeutung und Einfluss von "Mein Kampf" dürften nicht zu hoch eingeschätzt werden, da das Buch zwar weit verbreitet, aber wenig gelesen wurde. Das mag stimmen oder nicht; doch kann man auch folgern: Das Buch war so erfolgreich, weil es überhaupt nicht mehr gelesen werden musste. Lebensgefühl und Weltanschauung eines Großteils der deutschen Bevölkerung stimmten mit dem überein, was in "Mein Kampf" dargeboten und propagiert wurde. Der Inhalt des Buches – zudem in Tausenden von Broschüren, in allen Zeitungen, Zeitschriften und jeglichen Propagandamaterialien, besonders auch durch die Reden Hitlers und seiner Gefolgsleute unters Volk gebracht – enthielt all das, was des "Spießers Wunderhorn" (Gustav Meyrink), die Pandorabüchse kleinbürgerlicher Traktätchenverfasser, bereithielt: abgründige Gemeinheiten, in schiefe Metaphern geschlagene Ressentiments, endlose Tiraden, rhetorisch aufgeschminkte Plattitüden. So wurde Hitlers Mediokrität zum Schicksal eines Volkes, das sich Schritt um Schritt von Humanität und Kultur hatte abbringen lassen. Für den Aufstieg der Nationalsozialisten bedurfte es – und das machte die große Stunde des Kleinbürgertums aus – keiner geschickten Verführung, keiner raffinierten Dämonie oder Verlogenheit. Hitler musste nur er selbst sein; das war sein "Erfolg"; er musste nur Spießer sein, mittelmäßig, primitiv, ohne Vorzüge und Meriten; das war sein "Verdienst".
Leerstelle Mentalitätsgeschichte
Nicht leicht zu verstehen ist, dass das Wissenschaftsparadigma, das heute in der NS-Forschung vorherrschend ist, kaum – mit wenigen Ausnahmen – einen mentalitätsgeschichtlichen Ansatz kennt und somit meiner Meinung nach dringend einer Ergänzung bedarf. Die jüngeren Publikationen zu Hitler und dem Nationalsozialismus leisten dies jedenfalls nicht. Das sei durch zwei Beispiele exemplarisch belegt.
In Othmar Plöckingers umfangreicher, akribisch genauer "Geschichte eines Buches: Adolf Hitlers ‚Mein Kampf‘ 1922–1945" heißt es zwar, dass "auf die ideologischen Kontinuitäten nicht gänzlich verzichtet" werden soll, doch bleibt der Vorsatz unerfüllt.
Dass so viele neuere Forscher dies nicht erkennen und damit auch nicht thematisieren, mag damit zusammenhängen, dass sie das "Dritte Reich" nicht als Zeitzeugen erlebten. Selbst wer nur als Jugendlicher in der Zeit von 1933 bis 1945 aufwuchs, konnte die für die heute in der Demokratie aufgewachsenen und lebenden Menschen nicht vorstellbare Verblödung und Ideologisierung der Deutschen geradezu traumatisch wahrnehmen – mit einem mörderischen Wahnsinnigen an der Spitze.
Das Institut für Zeitgeschichte in München wird eine kommentierte Edition der Hetzschrift herausgeben, um Neudrucken aufklärerisch entgegen zu wirken.
Es zeigt sich, dass "Mein Kampf" aus einigen wenigen Ideologemen (Weltanschauungselementen) besteht, die ständig wiederholt und "eingehämmert" werden. Deshalb genügen zur Illustration Ausschnitte – ein Gesamttext wertet die aggressive Suada nur auf. Das sind: die Idyllisierung der kleinbürgerlichen und -städtischen Herkunft; die Rolle des Mädchens und der Frau im völkischen Staat; die Prinzipien der nationalen und militärischen Erziehung; Österreich als traumatisch empfundene "Judenrepublik", die ins Deutsche Reich "heimgeführt" werden solle und damit wieder "zu sich" finde; Kampf und Krieg als Lebenserfüllung; der Rassenwahn und die Mystik des Blutes, dessen Reinheit den "arischen" Menschen ausmache; die Diffamierung von Humanität als Schwäche und die Propagierung des "rassereinen Ariers"; die Ausschaltung und Vernichtung der Juden als Staatsprinzip; der Kampf gegen "entartete" Kunst und die "Ausmerzung" pluralistischer Kunst wie kommunikativer Sprache.
Mentalitätsgeschichtliche Aufgabenstellung
Zur Illustration der mentalitätsgeschichtlichen Aufgabenstellung seien angesichts der gebotenen Kürze dieses Essays zwei Beispiele für die Vorgehensweise Hitlers angedeutet, die an in der deutschen Bevölkerung tradierte Vorstellungen und Vorurteile anknüpfen: durch Anrufungen zum einen an ein (klein)bürgerliches Familienideal, zum anderen an das Ideal körperlich-geistiger Vollkommenheit.
Im ersten Kapitel stimmt er sein Publikum auf seine eigene (biedermeierlich gefälschte) Familien-Idyllik ein. Das entspricht einer trivial-literarischen Tradition, deren Stil auch der nationalsozialistische Massenmörder Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz, in seinen autobiografischen Aufzeichnungen praktiziert.
"Als glückliche Bestimmung gilt es mir heute, daß das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies. Liegt doch dieses Städtchen an der Grenze jener zwei deutschen Staaten, deren Wiedervereinigung mindestens uns Jüngeren als eine mit allen Mitteln durchzuführende Lebensaufgabe erscheint! (…) In diesem von den Strahlen deutschen Märtyrertums vergoldeten Innstädtchen, bayerisch dem Blute, österreichisch dem Staate nach, wohnten am Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts meine Eltern; der Vater als pflichtgetreuer Staatsbeamter, die Mutter im Haushalt aufgehend und vor allem uns Kindern in ewig gleicher liebevoller Sorge zugetan. Nur wenig haftet aus dieser Zeit noch in meiner Erinnerung, denn schon nach wenigen Jahren mußte der Vater das liebgewonnene Grenzstädtchen wieder verlassen, um innabwärts zu gehen und in Passau eine neue Stelle zu beziehen; also in Deutschland selber."
Da ist alles enthalten, was einem in der Enge seiner freiwilligen oder aufgezwungenen Unbildung verkümmerten Kleinbürger, der über keine spontane und authentische Empfindungsfähigkeit mehr verfügte, zu Herzen gehen musste: die in breiten Sentenzen heranrollende wehmütige Erinnerung an die gute alte Zeit, die Idyllik des Familienlebens, die Mutterliebe, das Vaterglück, der Sohnesdank, der Anklang patriotischer Feierlichkeit. Das Ganze ist im Stil schief, voller sentimentaler Metaphern und Klischees – einschließlich äußerlich wirkungsvoller Partizipien.
Es handelt sich um die seit Jahrzehnten vor allem durchs schulische Lesebuch "eingeschliffene" Topik und Semantik, die einschließlich bestimmter verbaler Stanzmuster (etwa der mütterlichen "ewig gleichen liebevollen Sorge") das rurale Verhältnis zu Elternhaus und Familie bestimmte. Auch wenn Hitler Johann Wolfgang Goethes Epos "Hermann und Dorothea" wahrscheinlich nicht kannte, hat die epigonale Fehlinterpretation des deutschen Familienidylls bei Goethe und Friedrich Schiller ("Lied von der Glocke") seinen Ursprung, bis über viele Transformationen das Epos zum urdeutschen Familienbild uminterpretiert war. Pars pro toto: In einer der ausführlichen Erläuterungen zu "Hermann und Dorothea", tausendfach verbreitet, wird nach der Beantwortung der Frage, warum "in der Erwähnung des Mondes, dessen Klarheit und herrlichen Schein Dorothea preist, ein deutscher Zug" hervortrete, im patriotischen Rundumschlag "Hermann und Dorothea" als echt-deutsches Epos definiert. So etwa, wenn die "echt deutsche Familie" an "ihrer Sittlichkeit und strengen Ordnung, die sich zeigt in der Verteilung der Beschäftigung (Hermann: Feld und Stallung; Vater: Gastwirtschaft; Mutter: Hauswesen) und im Gegensatz zum welschen Nachbar (dem Sitte, Zucht und Achtung vor der Ehe abgehen)", festgemacht wird.
Oder das zweite Beispiel: Hitlers Ausführungen zur Erziehung der Jugend im militärisch-kämpferischen Sinne; dies geschieht, indem er all die hohlen weltanschaulichen Stanzmuster des Bürgertums zu diesem Thema zusammenballt. Von zentraler Bedeutung dabei ist das durch das humanistische Gymnasium über die Turnerverbände ins allgemeine Bewusstsein indoktrinierte, fast alle der "Ertüchtigung" der Jugend dienenden Festreden "zierende" geflügelte Wort: "Mens sana in corpore sano" (ein gesunder Geist in einem gesunden Körper).
"Die körperliche Ertüchtigung ist daher im völkischen Staat nicht eine Sache des einzelnen, auch nicht eine Angelegenheit, die in erster Linie die Eltern angeht, und die erst zweiter oder dritter die Allgemeinheit interessiert, sondern eine Forderung der Selbsterhaltung des durch den Staat vertretenen und geschützten Volkstums. So wie der Staat, was die reine wissenschaftliche Ausbildung betrifft, schon heute in das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen eingreift und ihm gegenüber das Recht der Gesamtheit wahrnimmt, indem er, ohne Befragung des Wollens oder Nichtwollens der Eltern, das Kind dem Schulzwang unterwirft, so muß in noch viel höherem Maße der völkische Staat dereinst seine Autorität durchsetzen gegenüber der Unkenntnis oder dem Unverständnis der einzelnen in den Fragen der Erhaltung des Volkstums. Er hat seine Erziehungsarbeit so einzuteilen, daß die jungen Körper schon in ihrer frühsten Kindheit zweckentsprechend behandelt werden und notwendige Stählung für das spätere Leben erhalten, muß vor allem dafür sorgen, daß nicht eine Generation von Stubenhockern herangebildet wird."
Bei der Formulierung "Mens sana in corpore sano" handelt es sich um eine der einflussreichsten Fälschungen, mit denen das deutsche kollektive Bewusstsein und Unterbewusstsein "geformt" und rassistisch – als Missachtung kranker und behinderter, also "minderwertig" eingestufter Menschen – beeinflusst wurde. Geflügelte Worte, die ein auf den Begriff gebrachtes Lebensideal signalisierten, wurden, wie das trojanische Pferd, als Vehikel der Zerstörung ihres Sinnes genutzt, aber vom äußeren Anschein her beibehalten. Das Streben des Menschen nach körperlich-geistig-seelischer Vollkommenheit, der seit der Antike anzutreffende humane Wunsch der Verbindung von körperlicher Schönheit und geistigen Vorzügen wurde aus dem Optativ (der Wunschform) in den Indikativ (Wirklichkeitsform) als normsetzendes Faktum verschoben. Der römische Satirendichter Juvenal hat solche menschenverachtende (den Kranken verachtende) Parole nie ausgegeben; in seiner zehnten Satire heißt es: "Orandum est ut sit mens sana in corpore sano" (mit Opfern bei den Göttern sollst du gesunden Geist in gesundem Leib erflehen).
Hitlers ganzes Buch besteht aus solchen inhaltlichen Stereotypen, die an das anknüpfen, was im deutschen kollektiven Bewusstsein und Unterbewusstsein eingekerbt war und vor allem die seit Jahrzehnten herangebildeten Ressentiments evozierte beziehungsweise instrumentalisierte.
Stilfragen
Von Hitlers rhetorischem Duktus heißt es oft, dass er berauschend, faszinierend, überwältigend gewesen sei. Er verfügte in der Tat über "Wort-Gewalt", weil hinter seinen Worten fast immer (nur nicht bei seinen sentimentalen Ausflüssen) die Drohung der Gewalt stand. Im Besonderen fand seine Sprache im Volk große Resonanz, weil ihre soziolinguistische Struktur der dominanten offiziellen politischen und gesellschaftlichen Sprache über Jahrzehnte entsprach, die durchdachte, authentische und ehrlich-offene Formen missachtete. Der brutal-aggressive, verlogen-sentimentale und hohl-pathetische Stil ("Jargon affirmativer Kultur" und "Jargon der Eigentlichkeit") hatte besondere Brutstätten der Entfaltung: Katheder, Kanzel und Festredner-Pult sowie, was die prahlerischen Schimpftiraden angeht, die "gemütliche" Nische des Stammtisches. Was letzteren betraf, so war bedeutsam, dass Hitlers rhetorische Brauhausqualität – auch wenn er selbst die Aura des alkohollosen Asketen kultivierte – gerne in Bierkellern seine Gefolgschaft aufpeitschte. Der Münchner Bürgerbräukeller etwa war insofern "Ursprungsort" von "Mein Kampf", als hier am Abend und in der Nacht vom 8. auf den 9. November 1923 der Putsch vorbereitet wurde, in Folge dessen Scheitern Hitler in der Festungshaft zum Schriftsteller wurde. Seine "Rede" ist oft nichts anderes als ein wüstes Schimpfen, Toben, Witzeln, Höhnen, Auf-den-Tisch-schlagen, wie es rabiate Spießer eben am Stammtisch praktizieren.
München war für diese Bier-Ekstasen ein besonders geeigneter Platz. Die Stadt des Oktoberfestes wurde zur Hauptstadt der Bewegung. Der ungewöhnlich hohe Münchner Alkoholkonsum müsse als Movens der politischen Radikalisierung gesehen werden. Der US-amerikanische Historiker David Clay Large hat unter solchem Aspekt zum Beispiel eine Geschichte des Marsches auf die Feldherrnhalle am 9. November 1923 aus der Perspektive der Bierkrüge geschrieben, von denen in der chaotischen Saufnacht im Bürgerbräukeller zuvor 143 zerschmettert wurden. "Der ‚Marsch‘ am anderen Morgen entpuppte sich als ein selten erbärmlicher Zug alkoholisierter und/oder schon verkaterter Bierdimpfl und Zechbrüder, die sich eine Nacht lang gewaltig die Kante gegeben hatten. Hitlers Münchner Helfer waren zum großen Teil schwer angeschlagene, enthemmte und, heute würde man sagen: ziemlich durchgeknallte Saufnasen."
Was die Herkunft und die prägende Bedeutung des "leeren Pathos" betrifft, so spielt die Rezeption der Klassik, insbesondere Schillers, eine bedeutsame, die "Sprachebene" markant bestimmende Rolle. Aber auch die "Redefiguren" der Romantik, wie sie epigonal aus dem Mythos der Freiheitskriege gegen Napoleon hervorgingen, übten einen fatalen Einfluss aus. Das Erbe klassischer Begeisterung für die hohen idealen Werte und Tugenden wurde gehaltlich entleert, sodass am Ende ein Schrott von Worthülsen übrig blieb, die man beliebig mit Inhalten, die der früheren Semantik diametral entgegengesetzt waren, auffüllen konnte. Der Missbrauch der dichterischen Sprache vollzog sich schleichend; zunächst wurden die Inhalte durch den Begeisterungsfuror erstickt, der sich vor allem an festlichen Erinnerungstagen ausbreitete. Ein Beispiel nur zur Charakterisierung der Situation.
Gabriel Rießer, Politiker und Jurist, der 1860 der erste Richter jüdischen Glaubens in Deutschland wurde, hielt die interessanteste Festrede zu Schillers 100. Geburtstag 1859.
Metaphorik, Syntax und Topik der national-bürgerlich (dem Geiste nach: kleinbürgerlich) politischen wie kulturellen Rede des 19. und 20. Jahrhunderts sind damit illustriert: ein Schwulst der Bilder, die Betäubung des Logos durch mystifizierendes Geraune, eine Zerstörung der Begriffskerne, sodass leere Worthülsen allein verbleiben, eine Fülle falscher, schiefer oder unnötiger Genitive, um hochtrabende Feierlichkeit bemühte Inversionen, eine Häufung synonymer Worte – im Besonderen das Wort "deutsch" umkreisend. Für Friedrich Nietzsche, zu dessen Paradoxie es gehörte, das gefördert zu haben, was er ablehnte, hieß "gut deutsch sein" "sich entdeutschen". "Der also, welcher den Deutschen wohlwill, mag für seinen Teil zusehen, wie er immer mehr aus dem, was deutsch ist, hinauswachse. Die Wendung zum Undeutschen ist deshalb immer das Kennzeichen der Tüchtigen unseres Volkes gewesen."
Schluss
Die Empfehlung Nietzsches, der 1872 auch von der "Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des deutschen Reiches" sprach, kann wohl generell gelten. Nach den Erfahrungen mit Hitlers "Mein Kampf" und dem Nationalsozialismus ist das "entdeutschte Deutschland" zugunsten eines aufklärerisch-demokratischen für alle Zeiten eine Notwendigkeit. Die tief sitzenden Wurzeln des deutschen Ungeistes mahnen zudem zur Beachtung der Warnung, dass man die Anfänge gefährlicher Entwicklungen sensibel wahrnehmen und ihnen wehren muss. Denn: Wer in der Demokratie schläft, kann leicht in der Diktatur erwachen.