Dass sich eine deutsche Landesregierung als unerbittlicher Hüter der Urheberrechte eines Autors betätigt, der als einer der größten Verbrecher der Menschheitsgeschichte gilt, ist sicher ein historisches Unikum. Doch im Fall Adolf Hitlers, so scheint es, ist alles anders als sonst. Die bayerische Staatsregierung, welche die Rechte an Hitlers Bekenntnisschrift "Mein Kampf" hält, hat bislang noch jeden Versuch unterbunden, das Werk komplett oder in Teilen neu zu drucken und es damit der interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Gemeinhin dient das Urheberrecht dazu, einen Autor davor zu schützen, dass sein geistiges Eigentum von Unbefugten weiterverbreitet wird. In diesem speziellen Fall aber wurde das Urheberrecht im Sinne eines Zensurrechts gebraucht: Nicht der Autor sollte geschützt werden, sondern die Öffentlichkeit, nämlich vor der Lektüre eines als unzumutbar empfundenen Buches. Damit ist es jetzt allerdings vorbei: Ende 2015 laufen die Rechte an dem Werk aus, und dann kann es potenziell jeder publizieren, der will – sofern die bayerische Staatsregierung nicht doch noch einen rechtlichen Hebel findet, das in ihren Augen Schlimmste zu verhindern.
Doch ist dieses Buch wirklich so schlimm, dass man die Bürger vor der Lektüre bewahren muss? Lauert in ihm eine dämonische Kraft der Verführung, der auch ein in vielen Jahrzehnten gereiftes demokratisches Bewusstsein erliegen könnte? Um was geht es eigentlich in ihm, und wie hat man auf es reagiert? Diesen Fragen wird im Folgenden nachgegangen, wobei Eines schon vorab festzustellen ist: "Mein Kampf" nimmt tatsächlich eine Sonderrolle ein, weil es kaum ein Werk in der Geschichte gibt, bei dem sich in der Rezeption die Gedanken und die Taten des Autors derart unlöslich miteinander verbunden haben. Wer an "Mein Kampf" denkt, hat Auschwitz unmittelbar vor Augen.
Reaktionen
Obwohl Hitlers Taten weltweit bekannt sind, haben sie erstaunlicherweise nicht unbedingt weltweit Abscheu erregt. Das zeigt sich daran, dass "Mein Kampf" in manchen Ländern der Erde durchaus Konjunktur hat und teilweise mit Zustimmung gelesen wird. So erfreut sich Hitlers Werk beispielsweise in Indien, Ägypten und der Türkei großer Beliebtheit,
Den ersten Band seines Buches schrieb Hitler 1924 in der Landsberger Festungshaft; der zweite Band entstand in den Jahren 1925/26.
Wie viele von diesen Büchern allerdings auch gelesen wurden, ist umstritten. Othmar Plöckinger hat in seinem Buch über die Rezeptionsgeschichte von "Mein Kampf" die These vertreten, dass es sich anders, als meistens angenommen, durchaus um ein vielgelesenes Buch gehandelt habe.
Zwar gab es durchaus Reaktionen auf die Veröffentlichung – seitens politischer Gegner, seitens christlicher Publizistik, seitens anderer gesellschaftlicher Gruppen wie der Gewerkschaften.
Realistischere Einschätzungen fanden sich vor allem im Ausland. 1935 veröffentlichte der Journalist Tete Harens Tetens in der Basler "National-Zeitung" eine Reihe von zehn Artikeln, in der er warnend darauf verwies, dass Hitlers Politik einem Plan folge, den er bereits in "Mein Kampf" offenbart habe.
Diese Sicht wurde von der NS-Forschung nach dem Krieg in den meisten Fällen nicht geteilt. Zum einen hielt man es für eine Überschätzung der Bedeutung von Personen in der Geschichte, wenn man Hitler ins Zentrum des Geschehens rückte und sich von der Erforschung seiner Intentionen ein tieferes Verständnis des "Dritten Reichs" versprach. Zum anderen fand man "Mein Kampf" im Allgemeinen so banal und wirr, dass eine intensivere Befassung sich nicht zu lohnen schien.
Ein Motiv für die letztgenannte Ausgabe ist sicher auch die Besorgnis, das Buch könnte großen Schaden anrichten, sollte es ohne Anmerkungen und Erklärungen auf den Markt gelangen. Es ist jedoch die Frage, inwiefern es sich dazu eignet, im dazu bisher nicht geneigten Leser rassistisches beziehungsweise sozialdarwinistisches Gedankengut zu verankern. Denn die Lektüre ist in der Tat mühsam, der Stil alles andere als einnehmend, die Themen sind weitgestreut und oft mit historischen Bezügen versehen, die sich nur dem Kenner erschließen. Selbst in der rechtsextremen Szene – die also von Hitlers Gedanken nicht mehr überzeugt zu werden braucht – dürfte man nicht allzu viele finden, die sich durch die 800 Seiten hindurchgearbeitet haben. Und wenn wie im Fall des Prozesses gegen den Holocaustleugner Ernst Zündel ein gleichgesinnter Verteidiger in seinem Plädoyer aus "Mein Kampf" zitiert,
Deshalb soll nun zur Sprache kommen, was Hitlers Buch eigentlich beinhaltet: Es ist Autobiografie, es ist die Entfaltung einer Weltanschauung, es ist die Verkündung eines politischen Programms.
Autobiografie
Als sich Hitler 1924 nach seinem gescheiterten Putschversuch in der komfortablen Landsberger Haft befand,
Gemäß Hitlers eigener, durchaus glaubhafter Darstellung waren es die Erfahrungen seiner Wiener Zeit und das Fronterlebnis, die ihn wesentlich prägten.
Letzteres erzeugt Hitlers Hass, denn er, der in einem nicht-funktionierenden Vielvölkerstaat, dem zerfallenden Habsburgerreich, aufgewachsen ist, hat sich nach eigenen Angaben schon früh gegen die Dynastie und für einen dezidierten deutschen Nationalismus entschieden. In Wien meint er, den Zusammenhang zwischen den Elementen des Sozialen und des Nationalen begriffen zu haben: Soziale Verelendung erzeugt Ressentiments gegen die eigene Nation, weil diese so etwas zulässt. Hitlers späterer "National-Sozialismus" zieht daraus die Konsequenz. Nur durch soziale Hebung kann man die Menschen an die Nation binden. Eigentlich hätte sich Hitlers Bewegung "Sozial-Nationalismus" nennen müssen. Denn das soziale Element ist ganz eindeutig Mittel zum Zweck – ein Mittel, um den Nationalismus zu befördern.
Hitler selbst benennt als Ertrag seiner Wiener Zeit die Einsicht in zwei "Gefahren", deren "entsetzliche Bedeutung für die Existenz des deutschen Volkes" ihm zuvor nicht bewusst war: "Marxismus und Judentum".
Diese tarnen sich, so Hitler, als Religionsgemeinschaft, doch ihre Religion kennt keine wahre Transzendenz. Sie ist vielmehr ganz und gar auf irdischen Gewinn ausgerichtet und entspricht dem natürlichen Egoismus und Materialismus der Juden. Die letztgenannten Eigenschaften sind auch der Grund, weshalb sich die Juden in fremde Völker einschleichen, parasitär an ihnen teilhaben und sie von innen heraus zu zersetzen versuchen. Das alles folgt einem großen Plan, an dessen Ende, gemäß der biblischen Verheißung, die Weltherrschaft steht. Und der "jüdische Marxismus" ist der letzte Baustein in diesem Plan: Indem er die nationalen Grenzen durchbricht und die Menschen nivelliert, schafft er freie Bahn für die weltweite Herrschaft der Juden.
Man sieht hier beispielhaft, wie sich eine Verschwörungstheorie entwickelt: Die Suche nach der einen Ursache unterschiedlichster, von Hitler wahrgenommener Phänomene wie ethnische Spannungen im Vielvölkerstaat, kulturelle Dekadenz, von den Marxisten geschürter Hass auf die eigene Nation, kapitalistische Ausbeutung und so weiter führt zur "Entdeckung" des einen Urhebers: die Juden, die im Interesse ihres eigenen Volkes die anderen Völker von innen heraus schwächen, vor allem aber das Volk, das bisher das Habsburgerreich getragen und zusammengehalten hat: die Deutschen. Das heißt für Hitler: Es geschieht alles planmäßig; gerade die stärkste Kraft muss geschwächt werden, um den Zusammenbruch herbeizuführen. Die damals verbreiteten antisemitischen Stereotype und die Wahrnehmung, dass sich auf der Führungsebene der sozialistischen und bolschewistischen Bewegungen relativ viele jüdische Funktionäre fanden und einige Vordenker des Sozialismus jüdischer Herkunft waren, verschmelzen hier zu dem Urteil, dass der Marxismus eine jüdische Ideologie ist und dass man in ihm die letzte Stufe des Weges zur jüdischen Weltherrschaft vor sich hat.
Hitlers Wiener Jahre stehen also ganz im Bann der Herausbildung seiner Weltanschauung. Die zweite wesentliche Station seines Weges ist das Kriegserlebnis, das ihm möglicherweise die Erfahrung einer Willenskraft verschafft hat, auf die er bei seinem späteren, kaum fassbar steilen Aufstieg zurückgreifen konnte. Für sein Land kämpfen zu können, gibt Hitlers bisher ziellosem Leben eine Richtung und einen Sinn. Er, der sich in Wien als Sonderling und Einzelkämpfer durchschlug, ist auf einmal Teil einer großen Gemeinschaft. Zudem kann er seiner Sehnsucht nach dem Hohen und Großen, seiner Sehnsucht nach Tat und Selbstopfer nachgeben. So zieht er, wie viele andere, voller Begeisterung in den Krieg. Doch er schildert auch den mentalen Einbruch, der gerade angesichts der furchtbaren Stellungskriege des Ersten Weltkrieges seine Kameraden und ihn befällt: "an Stelle der Schlachtenromantik aber war das Grauen getreten".
An solchen Stellen wird deutlich, weshalb das Buch "Mein Kampf" heißt. Hitler hat auf allen Ebenen einen Kampf ausgefochten, nicht nur um die äußere Durchsetzung seiner Partei, sondern auch um sein inneres Gleichgewicht. Dass bei ihm schließlich der Wille siegte und nicht die Vernunft, erwies sich nicht nur für ihn selbst als Verhängnis. Der Kampf, das ist gleich noch zu zeigen, bildet das Zentrum seines Denkens und Seins und damit auch seiner Weltanschauung.
Vier Jahre grauenhaften Kriegserlebens haben die Kämpfenden des Ersten Weltkrieges hinter sich, als sich in Deutschland die Kriegsmüdigkeit in Streiks niederschlägt und die innenpolitischen Friktionen so zunehmen, dass der Kaiser abdanken muss und die Republik ausgerufen wird. Für Soldaten mit Hitlers Einstellung ist das der "Dolchstoß". Im Felde unbesiegt, habe das deutsche Heer von den "Novemberverbrechern" in der Heimat, also den Sozialisten und den Juden, welche die Revolution betrieben hätten, den Dolch in den Rücken gerammt bekommen, sodass die Kriegsniederlage unvermeidlich war. Zu dieser Fehleinschätzung, was die Ursachen der Niederlage angeht, trug nicht zuletzt die beschönigende Darstellung der Kriegssituation bei, die lange von der Obersten Heeresleitung betrieben worden war.
"Es war also alles umsonst gewesen."
Weltanschauung
Hitlers Denken ist alles andere als wirr, vielmehr ist es von großer Kohärenz. Nimmt man die entsprechenden Passagen aus "Mein Kampf" zusammen, so ergibt sich eine in sich geschlossene Weltanschauung.
Ausgangs- und Mittelpunkt von Hitlers Weltanschauung ist der Kampfgedanke. Die Natur, deren Teil der Mensch ist, ist ein Kampfgeschehen, und das aus gutem Grund. Denn der Kampf hat zwei förderliche Folgen: Er sorgt für Ordnung, indem er den Schwächeren zur Unterordnung unter den Stärkeren zwingt, und für Steigerung, weil die Kämpfenden über sich hinauswachsen müssen und der Kampf zu einer Auslese des Besseren führt. Ohne Ordnung kann ein System nicht überleben, ohne Steigerung gibt es keinen Fortschritt. Der Kampf ist für Hitler also für das Überleben und die Fortentwicklung eines Systems unerlässlich. Dieser Gesetzmäßigkeit kann sich der Mensch nur um den Preis seines Untergangs widersetzen, und gemeint ist dabei nicht nur der physische Kampf, sondern auch jede andere Form des Ringens mit den anderen Menschen, mit den widrigen Umständen oder mit sich selbst.
Der Kampf zwischen den Menschen erfolgt im Allgemeinen zwischen den Völkern, die sich im Zeitalter der Nationalitäten als Nationen definieren. Doch diese Zuordnung ist nicht trennscharf. Denn in die Völker können sich Nicht-Zugehörige einschleichen, die sich nicht als Fremde zu erkennen geben und die innere Einheit zerstören. Diese innere Einheit eines Volks ist jedoch überlebenswichtig, denn den Kampf führt man nur für das als gleich Empfundene, nicht für Fremdes. Hier kommt nun die "Rasse" ins Spiel. Für Hitler ist das einzig verlässliche Merkmal der inneren Homogenität eines Volkes die Zugehörigkeit zur selben "Rasse", weil diese nicht beliebig definierbar und veränderbar ist wie beispielsweise die Religionszugehörigkeit. "Rassische Reinheit" ist der entscheidende Weg zur seelischen Einheit, zu jener Willenseinheit, die man braucht, um für sein Volk sein Leben zu geben.
Für alles bisher Gesagte gibt es natürlich Vordenker und Vorgänger, und Hitler hat offenbar unendlich viel gelesen und rezipiert. Doch wie er die Versatzstücke zusammenfügt, ist originär. Dass man zu seiner Zeit die Rassentheorie so ernst nahm, dass beispielsweise auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft "Rassenforschung" finanzierte, ist heute kaum mehr vorstellbar, zum Verständnis der geistigen Situation der Zeit aber wichtig zu wissen.
Zwischen den "Rassen" gibt es für Hitler, darin etwa Arthur de Gobineau und Houston Stuart Chamberlain folgend,
Warum aber sind die Juden in den Augen Hitlers die gefährlichste aller "Rassen"? Warum muss ihrer Bekämpfung die oberste Priorität eingeräumt werden? Die Antwort auf diese Frage ist der Schlüssel zum Holocaust, und die Antwort findet sich ebenfalls in "Mein Kampf".
Die Juden zerstören die natürliche Kampfesordnung. Denn sie selbst sind aufgrund ihrer Weltverhaftetheit und ihrer Selbstsucht nicht willens zu kämpfen. Dennoch wollen sie herrschen, und Hitler stellt sich ernsthaft die Frage: "Sollte diesem Volk, das ewig nur dieser Erde lebt, die Erde als Belohnung zugesprochen sein?"
Faktisch bedeutet seine Durchsetzung jedoch das Ende der Menschheit. Denn er selbst ist wegen des fehlenden Antriebs zum Kräfteringen, wegen seiner Zerstörung des Persönlichkeitsprinzips und wegen seiner rein materialistischen Ausrichtung steril und wird das Vorhandene nur aufzehren. Da er, wie in Russland zu besichtigen, sich zunächst darum bemühen wird, "die nationalen Träger der Intelligenz auszurotten" und die Völker "ihrer natürlichen geistigen Führung" zu berauben,
Politisches Programm
So wie Hitler in seiner Weltanschauung noch das Widerstrebendste zu einer Einheit zusammenzwingt, so wie er mit äußerster Willenskraft alles auf eine Ursache zurückführt, plante er auch ein systematisches, alle Widerstände brechendes Vorgehen zur Umsetzung seiner Weltanschauung. Das Ziel war klar umrissen: Es musste darum gehen, die Deutschen als den edelsten Teil der "Arier" für ihre Mission zu rüsten, nämlich den Endkampf mit der "Rasse" der Zerstörer aufzunehmen, um dadurch dem natürlichen Kampfgeschehen auf der Erde wieder Raum zu geben. Erst wenn das Denken, das den Kampf moralisch ächtet, aus der Welt geschafft sein würde, könnten die Völker, könnten die "Rassen" wieder in dem von der Natur gewollten Kräfteringen für den Fortbestand und das Fortschreiten der Menschheit sorgen.
Nicht alles konnte Hitler dann so verwirklichen, wie er es vorgesehen hatte. Aber schon in "Mein Kampf" verdeutlicht er seine Taktik: Das große Ziel ist nicht verhandelbar, die Mittel zu seiner Erreichung hingegen sind es. Im Nachgeordneten kann man Flexibilität walten lassen und sich den Umständen gemäß verhalten, solange man nicht aus den Augen verliert, warum man tut, was man tut. Diese Flexibilität Hitlers haben Zeitgenossen und auch spätere Deuter
Zunächst musste die innenpolitische Basis gesichert werden, bevor man zur Außenpolitik schreiten konnte. Alles hing in Hitlers Augen von der inneren Einheit des Deutschen Volkes ab, deshalb galt es, hier anzusetzen. Durch propagandistische Maßnahmen sollte die Weltanschauung verbreitet werden und die Partei weiteren Zulauf erhalten. Vor allem sollte dem weltanschaulichen Gegner die Klientel abspenstig gemacht werden. Bei einer ideologisch gefestigten Partei konnte man dann auch das Risiko der Legalitätstaktik eingehen – der Weg über das Parlament, das man von innen aushöhlen konnte. Nach seinem gescheiterten Putschversuch schien Hitler das der Erfolg versprechendere Weg. Einmal an die Macht gelangt, waren die Maßnahmen zur inneren Homogenisierung in Gang zu setzen.
Zuerst war durch eine entschiedene Sozialpolitik die Bindung der Menschen an die Nation wiederherzustellen – jener Zusammenhang des Nationalen und des Sozialen, den Hitler in Wien begriffen hatte. Politisch und gesellschaftlich musste dann eine "Gleichschaltung" erfolgen. Das bedeutete die Ausschaltung aller anderen Parteien, die Aufhebung des Föderalismus, die Ersetzung selbstständiger Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände durch staatlich gelenkte berufsständische Kammern und Ähnliches. Mittels weltanschaulicher Erziehung sollte das neue Weltbild in der Jugend verankert, mittels Eugenik, Rassengesetzen und eines neuen Staatsbürgerrechts die "rassische Reinigung" erreicht werden, um so auch die physische Grundlage für die Einigung des Volkes zu schaffen. Konkrete Maßnahmen zur "Reinigung" des Staates von den Juden sind "Mein Kampf" nicht zu entnehmen. Dass die Radikalität von Hitlers Schuldzuweisungen aber ebenfalls radikale Konsequenzen zur Folge haben würde, war durchaus zu erschließen.
Insgesamt zeichnet Hitler das Bild vom totalen Staat, der als Gefäß der "Rasse" fungieren soll und insofern trotz seiner Allgegenwärtigkeit dienende Funktion einzunehmen hat. Er dient dazu, die Basis für den Kampf der Deutschen mit dem Erzfeind der Menschheit zu bereiten. Dass die Umsetzung eines solchen Staatsmodells, bei dem Individualrechte grundsätzlich hinter den Rechten des Kollektivs zurückzutreten haben, nur mittels Organisation gemäß dem Führerprinzip zu verwirklichen ist, wird dabei sehr deutlich gesagt. Ob Hitler sich zur Abfassungszeit von "Mein Kampf" aber schon selbst als diesen Führer sah, ist keineswegs eindeutig.
Nach der inneren Konsolidierung und Homogenisierung sollte die expansive Selbstbehauptung des deutschen Volkes in Angriff genommen werden. Der erste Schritt war die Wiederbewaffnung, die zwar dem Versailler Vertrag widersprach, einem zu begründetem Selbstbewusstsein gelangten Volk, so die Überzeugung Hitlers, auf Dauer jedoch nicht verwehrt werden konnte. Damit wieder als Mitspieler im Konzert der Völker präsent, musste Deutschland Bündnispartner für die kommenden kriegerischen Auseinandersetzungen gewinnen. Hitlers Wunschpartner waren das faschistische Italien und England, wobei er bei letzterem auf die Fortsetzung der traditionellen Gleichgewichtspolitik hoffte, die in Deutschland ein entsprechendes Gegengewicht gegen das erstarkte Frankreich sehen lassen könnte. Diese Rechnung ging bekanntlich nicht auf. War die Bündnisfrage geklärt, sollte der erste Feldzug dem Erzfeind Frankreich gelten. Mit gesicherter Westflanke war dann der Weg für den Ostfeldzug frei – die Eroberung von "Lebensraum" für ein Volk, das sich durch seinen phönixhaften Aufstieg aus der Niederlage des Ersten Weltkrieges und durch die Erfüllung seiner weltgeschichtlichen Mission alles Recht auf diesen "Lebensraum" erworben haben würde.
Ein banales Buch, ein gefährliches Buch?
Die unvoreingenommene, sich auf Hitlers Denkstrukturen einlassende Lektüre von "Mein Kampf" zeigt, dass Hitler das planmäßige Vorgehen, das er mit seiner Verschwörungstheorie den Juden unterstellte, durch ein ebenso planmäßiges Gegenprogramm konterkarieren wollte. Und weil er wusste, dass Revolutionen in den Köpfen beginnen, war es ihm wichtig, dem Marxismus, den er für die politische Ideologie des Judentums hielt, eine ebenso überzeugende "arische" Weltanschauung entgegenzusetzen.
Dass "Mein Kampf" ein banales Buch ist, wird man angesichts des geschichtlichen Anspruchs, der Kohärenz der Weltanschauung und der Brisanz des in diesem Buch angekündigten politischen Programms wohl nicht mehr behaupten können. Aber ist es ein gefährliches Buch? Eine äußere Verführungskraft geht von ihm sicherlich nicht aus. Dass der Kampf der Ideologien, der in ihm ausgefochten wird, nicht zu Ende ist, ist aber ebenfalls offensichtlich: Man muss bloß den Begriff der "Rasse" durch den der "Kulturen" ersetzen, man muss nur Hitlers Antiliberalismus mit den heutigen Angriffen auf die westliche Lebensform vergleichen, man muss nur die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über das rechte Maß an Gleichheit und Ungleichheit beobachten, um zu erkennen, dass wir mit dem, was Hitler umtrieb, noch immer ringen. Das macht "Mein Kampf" zu einem wichtigen Buch, zu einem Buch, mit dem man sich auseinandersetzen sollte. Gefährlich wäre dies Buch nur dann, wenn man glaubte, dass es Lösungen birgt. Zur Analyse der Gefahren aber, denen ein freiheitliches Gemeinwesen ausgesetzt sein könnte, ist es ein geradezu unverzichtbares Buch.