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Hitler, Mein Kampf | Hitlers "Mein Kampf" | bpb.de

Hitlers "Mein Kampf" Editorial "Mein Kampf" lesen, 70 Jahre später Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition des Instituts für Zeitgeschichte Ein Buch mit Geschichte, ein Buch der Geschichte: Hitlers "Mein Kampf" Zur Mentalitätsgeschichte des Nationalsozialismus. Ein Weg, um den Erfolg von "Mein Kampf" zu verstehen NS-Propaganda im bundesdeutschen Rechtsextremismus NS-Propaganda und historisches Lernen

Hitler, Mein Kampf Eine kritische Edition des Instituts für Zeitgeschichte

Andreas Wirsching

/ 18 Minuten zu lesen

"Mein Kampf" besitzt einen eminenten Quellenwert für die Geschichte des Nationalsozialismus. Die akribische wissenschaftliche Aufbereitung legt die Basis dafür, dass die Geschichte des nationalsozialistischen Unheils besser verständlich wird.

Hitlers Schrift "Mein Kampf", die er in zwei Teilen, 1924 in der Landsberger Festungshaft und 1926 auf dem Obersalzberg, verfasste, ist seit jeher ein Reizthema. Die Schrift erschien im Eher-Verlag, dem Hausverlag der NSDAP. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges übertrug die amerikanische Besatzungsmacht das Vermögen sowie die Urheberrechte an den Publikationen des Verlages dem Freistaat Bayern beziehungsweise dem Bayerischen Ministerium der Finanzen. Mit dem Hinweis auf diese Rechtslage hat der Freistaat Bayern eine Wiederveröffentlichung von "Mein Kampf" in Deutschland bis heute unterbunden. Dies war solange kein Problem, wie das Urheberrecht fortgalt, nämlich bis 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Im Falle Hitlers läuft diese Frist Ende 2015 ab. Vom 1. Januar 2016 an ist "Mein Kampf" gemeinfrei.

Dass die Materie eine hochpolitische, auch außenpolitisch relevante Dimension besitzt, ist unstrittig und keineswegs eine neue Erkenntnis. Klar ersichtlich wird sie zum Beispiel schon im Umgang mit Hitlers "Zweitem Buch", in dem der spätere Diktator sein langfristiges Ziel der bewaffneten Eroberung von "Lebensraum" im Osten ausführlich begründet. Dieses von Hitler 1928 verfasste, damals unveröffentlichte Manuskript wurde 1958 von dem Historiker Gerhard Weinberg in den USA wiederentdeckt. Mit dem ausdrücklichen Einverständnis des Freistaats Bayern publizierte das Institut für Zeitgeschichte die Schrift, und zwar "wesentlich von dem Gedanken geleitet, durch eine wissenschaftliche kritische Edition einem öffentlichen Mißbrauch vorzubeugen". Als nun die Frage entstand, ob eine englische Lizenz- und damit deutscherseits autorisierte Ausgabe der Schrift opportun sei, äußerte das Auswärtige Amt Bedenken: Jeder Eindruck einer deutschen "amtlichen Mitwirkung" an der Publikation in den USA sei zu vermeiden, denn es bestehe die Gefahr, "daß bei einem Teil der amerikanischen Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, die Verbreitung des Hitlerschen Manuskripts geschehe unter amtlicher deutscher Förderung, was zu Mißdeutungen Anlaß bieten könnte". Hitlers "Zweites Buch" erschien daher in den USA zunächst nur als unautorisierte Ausgabe. 1995 gab der Freistaat Bayern erneut die Zustimmung zu einer ausführlich kommentierten deutschen Neuveröffentlichung im Rahmen der vom Institut für Zeitgeschichte besorgten großen Edition von Hitlers "Reden, Schriften, Anordnungen 1925–1933". Allerdings wurde dieses Mal der Titel ("Hitlers Zweites Buch") als politisch problematisch betrachtet und durfte dementsprechend nicht verwendet werden.

Wie ein Vorgriff auf die aktuelle Diskussion um "Mein Kampf" wirkt diese Episode, allerdings mit dem Unterschied, dass das Instrument des Urheberrechts künftig nicht mehr zur Verfügung stehen wird. Vor diesem Hintergrund stellt sich umso nachdrücklicher die Frage nach Sinn und Zweck, Ergebnissen und Problemen einer kritischen Edition von "Mein Kampf". Das Institut für Zeitgeschichte bereitet eine solche Edition seit Längerem vor, wird sie im Januar 2016 publizieren und der Öffentlichkeit vorstellen. Im Folgenden wird es erstens um die sachliche Notwendigkeit einer solchen Edition gehen, zweitens um ihren Zuschnitt und ihre wesentlichen Zielsetzungen. Ein dritter Gedankengang gilt einigen spezifischen Problemen im Kontext der öffentlichen Debatte um dieses Projekt.

Sachliche Notwendigkeit

Die sachliche Notwendigkeit einer kritisch und umfassend kommentierten Neuausgabe von Hitlers "Mein Kampf" ergibt sich in erster Linie aus dem Quellenwert der Schrift. Auf den ersten Blick widerspricht diese Feststellung dem weitverbreiteten Urteil, das Buch sei langweilig, verquast, wirr, schlecht geschrieben, ja geradezu verrückt. Schon zeitgenössische Kritiker wie Andreas Andernach, der 1932 ein Buch über "Hitler ohne Maske" verfasste, gingen verhältnismäßig wenig auf die Inhalte des Buches ein. Stattdessen labten sie sich an der Polemik gegen den "in tötender Langeweile, mit endlosen Wiederholungen" zu lesenden "Heilsarmee-Sermon". Gleichsam stilbildend geworden ist das Urteil Otto Straßers aus dem Jahr 1940, Hitlers politischem Gegner auf der extremen Rechten: "Alles zusammen war im Stil eines Schülers der sechsten Volksschulklasse geschrieben – ein grässliches Chaos von Gemeinplätzen, Schülerreminiszenzen, subjektiven Urteilen, persönlicher Gehässigkeit." Und nimmt man beide Argumente zusammen – einerseits ein langweiliges, inhaltlich verquastes Buch, andererseits kaum jemand, der es sich antun würde, dieses Buch zu lesen –, dann kann man sich fragen, ob die ganze Aufregung um das Thema nicht leicht übertrieben ist.

Aber eine solche Auffassung würde in geradezu fahrlässiger Weise fortsetzen, was der Historiker Karl Dietrich Bracher schon vor Jahren in den vielzitierten Satz kleidete, die Geschichte Hitlers sei die Geschichte seiner notorischen Unterschätzung. Jedenfalls entspräche eine blasierte Haltung, die die Auseinandersetzung mit Hitlers Sentenzen als intellektuelle Zumutung und gleichsam unter der Würde des eigenen Bildungsniveaus liegend empfände, dem gleichen fatalen Fehler, den schon die zeitgenössischen Eliten der Weimarer Republik begingen: Sie nahmen Hitler zunächst nicht ernst, suchten sich sodann seiner propagandistischen Erfolge zu bedienen, um am Ende von ihm selbst benutzt, desavouiert und abserviert zu werden.

Tatsächlich muss "Mein Kampf" in dem Maß ernst genommen werden, in dem das Buch den wichtigsten Zugang zu Hitlers Denken und seiner Biografie eröffnet. An unzähligen Stellen offenbart Hitler seine menschenverachtende Ideologie und auf ihrer Basis eine in erschreckender Form pervertierte, geradezu verbrecherische Rationalität, die freilich zu einem wesentlichen Bedingungsfaktor des NS-Regimes wurde. Hiermit muss man sich auseinandersetzen, und das gilt auch dann, wenn die Botschaft in sprachlich limitierter und in der Gedankenführung längst nicht immer geradliniger Weise präsentiert wird. Im Folgenden seien drei Beispiele genannt.

Hitler beginnt sein ideologisches Schlüsselkapitel über "Volk und Rasse" mit der skurrilen Wendung: "Es liegen die ‚Eier des Kolumbus‘ zu Hunderttausenden herum, nur die Kolumbusse sind eben seltener zu finden." Im Prinzip bräuchte so ein Satz gar nicht ins Lächerliche gezogen zu werden; bestätigt er nicht vielmehr das allseits bekannte Urteil: schlecht geschrieben, verquast? Liest man indes weiter, so verändert sich das Bild. Nach einigen weiteren, stilistisch indiskutablen Sentenzen – "Meise geht zu Meise, Fink zu Fink, der Storch zur Störchin, Feldmaus zu Feldmaus, Hausmaus zu Hausmaus, der Wolf zur Wölfin usw." – erfährt man sehr bald, was Hitler antreibt. Da ist die Rede von der "Natur", einem in ihr wirksamen "ehernen Grundgesetz", einer natürlichen "Abgeschlossenheit der Arten". Und Hitler spricht auch davon, dass die Natur den Verstoß gegen ihr "ehernes Gesetz" sanktioniert und zwar durch den Raub der "Widerstandsfähigkeit gegen Krankheit oder feindliche Angriffe".

Hitler schöpft also auf seine Weise aus dem wissenschaftlichen, vor allem aber aus dem populär- und pseudowissenschaftlichen Kenntnisschatz seiner Zeit. Und er tut etwas, was die Sozialdarwinisten aller Couleur tun: Er überträgt Naturgesetze und solche, die er dafür hält, auf den Menschen, die Menschheitsgeschichte und die menschliche Gesellschaft. Schon an dem zitierten Ausschnitt kann man erkennen, wohin das führt. Das mit den "Eiern des Kolumbus" begonnene Kapitel führt von der Hausmaus und ihrer Abschließung gegen die Feldmaus bis zum Gegensatz der "Rassen" und hier von "Ariern" und Juden und ihrem "ewigen", durch ein "ehernes Naturgesetz" determinierten Kampf in der Geschichte. Und wer gegen dieses Naturgesetz verstoße, werde seine Widerstandsfähigkeit gegen feindliche Angriffe oder gegen eigene Krankheiten verlieren. Das Nürnberger "Blutschutzgesetz" von 1935 und der hierin statuierte Straftatbestand der "Rassenschande" stehen dann am Ende dieser Argumentationskette. Das heißt aber: Die "Eier des Kolumbus" offenbaren ein entscheidendes Merkmal des nationalsozialistischen Ideologiekerns. Nach 1933 werden Hitlers Vorstellungen über die Natur und ihre ehernen Grundgesetze zum staatlichen Programm mit allen seinen brutalen Folgen.

Ein weiteres Beispiel betrifft Hitlers Forderung, "daß defekten Menschen die Zeugung anderer ebenso defekter Nachkommen unmöglich gemacht wird". Indem Hitler in der Umsetzung dieser Forderung "die humanste Tat der Menschheit" sieht, die "Millionen von Unglücklichen unverdiente Leiden ersparen" wird, knüpft er an die international geführte eugenische Diskussion an. Hitler stellt sich hier eindeutig auf die Seite derer, die eine Zwangssterilisierung von körperlich und geistig Behinderten befürworteten. Nach 1933 wurden die entsprechenden Maßnahmen im "Dritten Reich" mit den bekannten Folgen umgesetzt. Vergleichbare Kontinuitäten, in denen Hitlers "Mein Kampf" nur eine Stimme unter vielen repräsentierte, die aber im NS-Regime in eine menschenverachtende und mörderische Praxis mündeten, lassen sich am Beispiel der Euthanasie und der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" nachweisen.

Ein drittes und letztes Beispiel ergibt sich aus Hitlers vernichtender Kritik an der Außenpolitik des Kaiserreiches, die er unter das Leitmotiv der "Germanisierung" stellte. Insbesondere wandte er sich gegen die lang gehegte Vorstellung, man könne nichtdeutsche Bevölkerungsteile durch eine aktive Sprachpolitik für das deutsche Volkstum gewinnen. Gerade in der Zurückweisung solcher kultureller "Germanisierungs"-Bestrebungen, wie sie aus dem Kaiserreich bekannt waren, offenbart sich Hitlers rassenideologisches Denken. Der Versuch einer kulturellen "Germanisierung" bilde "den Beginn einer Bastardierung und damit in unserem Fall nicht eine Germanisierung, sondern eine Vernichtung germanischen Elementes". Man müsse sich klar darüber werden, "daß Germanisation nur an Boden vorgenommen werden kann und niemals an Menschen".

Diese Vorstellung über die "Germanisierung" des Bodens war ein integraler Bestandteil der sozialdarwinistischen Idee des "Lebensraums", den die Deutschen mit Waffengewalt im Osten zu erobern das Recht hätten. Hitler hat an dieser Vorstellung konsequent bis in den Zweiten Weltkrieg hinein festgehalten. Am 3. Februar 1933, kurz nach seiner Ernennung zum Reichskanzler, deklamierte er, die "Ausweitung des Lebensraumes des deutschen Volkes wird auch mit bewaffneter Hand erreicht werden – Das Ziel würde wahrscheinlich der Osten sein. Doch eine Germanisierung der Bevölkerung des annektierten bezw. eroberten Landes ist nicht möglich. Man kann nur Boden germanisieren." Auch künftig blieb das Ziel der "Germanisierung" durch die weitgehende Vertreibung oder Vernichtung der einheimischen Bevölkerung ein ebenso konsistentes wie konstantes Motiv in den überlieferten Hitler-Äußerungen. In einer Unterredung mit der Reichswehrspitze vom 5. November 1937 – bekannt durch die "Hoßbach-Niederschrift" – definierte Hitler die deutsche Zukunft als "ausschließlich durch die Lösung der Raumnot bedingt". Dabei handle es sich "nicht um die Gewinnung von Menschen, sondern von landwirtschaftlich nutzbarem Raum". Am Beginn des Zweiten Weltkrieges forderte Hitler, jenseits der bisherigen deutschen Grenze sei ein "breiter Gürtel" bislang polnischen Territoriums "der Germanisierung und Kolonisierung" zuzuführen. Und in seiner bekannten Ansprache an die Oberbefehlshaber vom 23. November 1939 legte Hitler seine Ziele in einer Deutlichkeit dar, die wie ein fernes Echo auf "Mein Kampf" klingt: "Die steigende Volkszahl erforderte grösseren Lebensraum. Mein Ziel war, ein vernünftiges Verhältnis zwischen Volkszahl und Volksraum herbeizuführen. (…) Es ist ein ewiges Problem, die Zahl der Deutschen in Verhältnis zu bringen zum Boden. Sicherung des notwendigen Raumes. Keine geklügelte Gescheitheit hilft hier, Lösung nur mit dem Schwert. Ein Volk, das die Kraft nicht aufbringt zum Kampf, muss abtreten."

Diese Beispiele zeigen, dass Hitlers "Mein Kampf" eine zentrale historische Quelle ist, die man keineswegs für irrelevant erklären sollte. Das gilt ganz besonders für den Zusammenhang zwischen ideologischem Denken, der Ausübung von Macht und der späteren Praxis des Zweiten Weltkrieges. Nirgendwo im NS-Regime ist Hitlers persönliche Rolle, seine Handschrift als Diktator, deutlicher zu erkennen als im Willen zum Krieg, den er Deutschland und Europa aufzwang. In einer Mischung aus ideologischem Wahn, pervertiert-verbrecherischer Rationalität und brutaler Skrupellosigkeit entwickelte er ein "Programm" und hielt daran bis zu seinem Ende fest. Die wichtigste Quelle für die Entstehung dieser Kriegsbesessenheit ist "Mein Kampf". Hitler nahm dabei das vor 1914 in Mitteleuropa bereits virulente völkische Denken auf, adaptierte es in spezifischer Weise und verarbeitete es zu einer neuen gedanklichen Synthese. Rassenideologische Prämissen wie die Überlegenheit der "arischen Rasse", das Recht des Stärkeren und die sozialdarwinistische Vorstellung, das Bewegungsgesetz der Weltgeschichte sei der unaufhörliche Kampf und Krieg zwischen den Völkern und "Rassen", bildeten das Axiom für Hitlers Überzeugung, dass der Krieg um die Erweiterung von "Lebensraum" in Osteuropa nicht nur ein notwendiges, sondern auch jenseits aller Rechtstraditionen legitimes Ziel sei.

Zuschnitt und Zielsetzungen

Einen "kritischen" Anspruch erhebt die Edition von "Mein Kampf" in erster Linie durch ihren Kommentar, der in diesem Zusammenhang einen mehrfachen Zweck erfüllt. So legt die Edition, wo immer möglich, die Quellen des Hitlerschen Denkens offen. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Fülle anonymer Broschüren- und Pamphletliteratur, sondern auch um namentlich bekannte Autoren aus dem völkisch-nationalistischen Spektrum. Nicht selten lassen sich direkte Anleihen im Text von "Mein Kampf" nachweisen. Allerdings leistet der Kommentar noch etwas anderes, zumindest ebenso Wichtiges: Er macht nämlich transparent, welche Topoi Hitler aufnimmt, die schon lange vor ihm und ohne ihn im völkischen Milieu existierten und gleichsam Allgemeingut geworden waren. Ob dies die behauptete "Verweichlichung und Verweibung" der Gesellschaft im Kaiserreich war, die Tiraden gegen "Rassenmischung" und "Rassenschande", der brutale Antisemitismus oder vieles andere mehr: Hitler sog geradezu alle ihm erreichbaren völkisch-rassistischen Denkfiguren auf, um sie seinem Gedankengebäude dienstbar zu machen. Indem sie dieses verwandte Gedankengut dokumentiert und zugleich zentrale ideologische Begriffe und ihre Tradition erläutert, kann die Kommentierung regelmäßig zeigen, wie tief der durch Hitler inspirierte Nationalsozialismus in der deutschen Gesellschaft und Kultur wurzelte. Der Nationalsozialismus war eine parasitäre Bewegung und kam keineswegs von außen über die deutsche Geschichte. Ganz im Gegenteil: Vielmehr integrierte er wesentliche Elemente der deutschen politischen Kultur, spitzte sie zu und radikalisierte sie für seine Zwecke. "Mein Kampf" ist hierfür das vielleicht wichtigste Dokument.

Hitlers Schrift ist durchzogen von glatten Lügen, häufiger aber von Halbwahrheiten, von Feindkonstruktionen und ungeschminkter Hasspropaganda, aber auch von subtilen Anspielungen. Zu den Aufgaben eines kritischen Kommentars gehört es daher, nicht nur sachliche Falschaussagen und Fehler zu berichtigen, sondern auch zusätzliche Informationen zu liefern, Anspielungen aufzulösen und einseitige Darstellungen zu korrigieren. Schließlich berücksichtigt die Edition des Instituts für Zeitgeschichte auch die Folgen des Hitlerschen Denkens, wenn sie immer wieder darauf hinweist, welche 1924/26 nur abstrakt gedachten und formulierten Ideologeme nach 1933 realisiert wurden. Der Zusammenhang von menschenverachtender Ideologie und verbrecherischer Tat wird damit unterstrichen.

Hinzu kommt ein Weiteres: Neben der Ausbreitung ideologischer Denkmuster ist "Mein Kampf" in seinem ersten Teil auch die umfassendste biografische Information, die wir über Hitler besitzen. Allerdings ist es eine horrend stilisierte Autobiografie, die alles andere als eine getreue, "objektive" Darstellung seiner Vita ist. Einmal mehr wird hierbei die Notwendigkeit des Kommentars deutlich: Denn angenommen, es gäbe keinerlei andere Information über Hitlers Biografie als "Mein Kampf" – dann wäre der heutige Leser der Darstellung in diesem Buch gewissermaßen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Er müsste gleichsam glauben, was darin steht, ohne über eine kritische Kontrolle zu verfügen.

Hitler verkörperte den sozialen Bankrott in seiner Biografie. Die Lebensleistung seines Vaters – eines sozialen Aufsteigers – hatte ihm ordentliche Startchancen gesichert. Er nutzte sie nicht und lernte infolgedessen das Wien der Vorkriegszeit von unten kennen. 1909 versiegten Hitlers Barmittel allmählich; zur persönlichen Notlage kamen Teuerung und Wohnungsnot. Entgegen der Darstellung in "Mein Kampf" ging Hitler keiner ausreichend regelmäßigen Tätigkeit nach, um sich zumindest notdürftig über Wasser zu halten. Armenfürsorge und Armenküche, Wärmehallen und Obdachlosenasyl waren die Konsequenz – ein Ambiente, das mit der kleinbürgerlichen Geborgenheit des Elternhauses schmerzhaft kontrastierte. Dies war nicht das glitzernde Wien der Avantgarde, sondern das "Wien der Einwanderer, der Zukurzgekommenen, der Männerheimbewohner".

Hitler hat diese Deklassierungserfahrung so verarbeitet, wie es die meisten tun würden. Er hat sie vor sich selbst und vor anderen stilisiert – sie verpuppt in einem Kokon aus Selbstgerechtigkeit und Selbstmitleid. Wien 1909 – das sei für ihn eine "unendlich bittere Zeit" gewesen, so schreibt er im Januar 1914 an den Magistrat der Stadt Linz. "Ich war ein junger unerfahrener Mensch ohne jede Geldhilfe und auch zu stolz, eine solche auch nur von irgend jemand anzunehmen geschweige denn zu erbitten. (…) Zwei Jahre lang hatte ich keine andere Freundin als Sorge und Not, keinen anderen Begleiter als ewigen unstillbaren Hunger. Ich habe das schöne Wort Jugend nie kennen gelernt." Vier der sechs Argumente in diesem Bericht sind nachweislich falsch. Hitler hatte Geldhilfe erhalten, von der Familie und durch seine Waisenrente; er war durchaus nicht zu stolz gewesen, solche Hilfe anzunehmen; und bei seiner Tante hat er auch darum gebeten. Schließlich hatte Hitler eine materiell sorgenfreie Jugend. Sie bot ihm Müßiggang und Chancen. Ersteren hat er ausgelebt, letztere nicht genutzt.

Was Hitler 1914 in einer rein persönlichen Angelegenheit dem Linzer Magistrat mitteilt, schreibt er zehn Jahre später auch in "Mein Kampf": Wien sei für ihn "die traurigste Zeit meines Lebens" gewesen und habe "fünf Jahre Elend und Jammer für ihn bereitgehalten". "Fünf Jahre, in denen ich erst als Hilfsarbeiter, dann als kleiner Maler mir mein Brot verdienen mußte; mein wahrhaft kärglich Brot, das doch nie langte, um auch nur den gewöhnlichen Hunger zu stillen. Er war damals mein getreuer Wächter, der mich als einziger fast nie verließ." Faktisch verfügte Hitler aus der Waisenrente, der mütterlichen Hinterlassenschaft sowie Zinserträgen aus dem später auszuzahlenden väterlichen Erbe über Mittel, die es ihm ermöglichten, sein Dasein ohne die Aufnahme einer regelmäßigen Arbeit zu fristen. Er war sich denn auch der Selbststilisierung seiner Biografie bewusst und suchte daher stets die Anonymität, aus der er kam, zu bewahren und zu pflegen. Als sein Halbneffe, William Patrick Hitler, 1930 aus dem gemeinsamen Namen Kapital zu schlagen suchte, soll Hitler einen Wutanfall erlitten und gesagt haben: "Die Leute dürfen nicht wissen, wer ich bin. Sie dürfen nicht wissen woher ich komme und aus welcher Familie ich stamme." Und soweit es ihm möglich war, ließ Hitler systematisch die Spuren seiner ersten drei Lebensjahrzehnte verwischen.

Man sieht also: Die kritische Beschäftigung mit "Mein Kampf" ist unentbehrlich, um die Stilisierung zu entlarven, die Hitler vornimmt, aber auch um zu erkennen, wo die Antriebskräfte seiner Biografie lagen, die am Ende die Welt bewegten. Naiv ist dagegen die immer wieder geäußerte Auffassung, der politisch aufgeklärte Leser brauche keinen wissenschaftlichen Kommentar, da er sich entweder ganz autonom das richtige Bild machen könne oder sich der Text ohnehin selbst richte. Ohne Kommentar bleibt der Leser dem, was Hitler in "Mein Kampf" schreibt, gewissermaßen ausgeliefert. Um sich kritisch mit dem Text auseinanderzusetzen, braucht er eine Fülle von Zusatzinformationen, die ihm nur der selbst auf die Materie spezialisierte Wissenschaftler geben kann. Tatsächlich gibt es wohl kein anderes historisches Dokument von ähnlicher Bedeutung wie "Mein Kampf", von dem behauptet würde, eine historisch-kritische Erschließung sei überflüssig.

Zur öffentlichen Debatte

Der Grund dafür liegt darin, dass sich in der Diskussion über "Mein Kampf" wissenschaftliche, politische und moralische Argumente überlagern, was nicht immer die Klarheit der Anschauung fördert. Damit sind wir bei den politisch-kulturellen Problemen, die das Projekt einer kritischen Edition von "Mein Kampf" wohl unvermeidlich im öffentlichen Raum touchiert und die eine intensive Langzeitdiskussion erzeugen. Betont sei allerdings, dass die regelmäßig wiederkehrenden Wellen der öffentlichen Debatte bemerkenswert sachlich vonstattengingen. In Presse und Rundfunk gab es eine Vielzahl von differenzierten, aufklärenden und vernünftig argumentierenden Beiträgen. Die bekannten Methoden, um sich in der Ökonomie öffentlicher Aufmerksamkeit durchzusetzen – Zuspitzung, Polarisierung, Emotionalisierung, Skandalisierung – wurden ganz überwiegend vermieden. Allerdings verweist die Diskussion auch auf einige problematische Trends im hiesigen öffentlichen Umgang mit Hitler. Denn nicht selten ist dieser geprägt von zwei gegensätzlichen Extremen, die beide die kritisch-rationale Auseinandersetzung eher behindern als fördern.

Das eine Extrem entspringt den fortbestehenden Ängsten, im Umgang mit Hitlers Hinterlassenschaft moralisch falsch zu handeln oder politische Fehler zu machen. Zwar erfordert das Thema dauerhaft ein Maximum an geschichtspolitischem Fingerspitzengefühl. Aber die Diskussion um ein "Verbot" von "Mein Kampf" zeigt, dass entsprechende Ängste neue und ungute Tendenzen zur Tabuisierung hervorbringen können. Wie dargelegt, ist das Buch eine zentrale Quelle zur Geschichte des Nationalsozialismus. Die kritische Beschäftigung mit ihm in irgendeiner Weise verhindern zu wollen, wäre eine kurzsichtige "Deckel-drauf"-Politik. Sie leistete der (Re-)Mystifizierung Hitlers gefährlichen Vorschub und könnte den Eindruck suggerieren, Hitler übe auch postmortal eine Art dämonischer Macht aus. Der historischen Einordnung, Kontextualisierung, auch Erklärung seiner Wirkung würde dies die Spitze abschneiden. Tabuisierung würde daher das Gegenteil einer mündigen Auseinandersetzung bewirken.

Das andere Extrem liegt in der exzessiven Präsenz Hitlers (und auch seiner Schrift "Mein Kampf") in populären Unterhaltungs- und Satireformaten. Sie verstärken sich durch die banale Erkenntnis des "Hitler sells" regelmäßig selbst. Ihre Eignung und Wirkung erscheinen aber problematisch. Tatsächlich gab es ja im Nationalsozialismus und im Verhalten Hitlers häufig eine geradezu realsatirisch anmutende Skurrilität und entsprechend lächerliche Entgleisungen. Das oben zitierte Wort von den "Eiern des Kolumbus" gehört dazu. Aber solche Skurrilität verband sich in unlöslicher Weise mit Gewalt, Terror und dem Postulat der Vernichtung. Zwar ist es leicht, die Skurrilität von der Gewalt zu trennen und sie zum Gegenstand der Satire zu machen. Hitlers Schnurrbart und Schäferhund, seine Phonetik und Physiognomie eignen sich denkbar gut fürs Amüsement. Aber wenn Kabarettisten, Autoren und Filmemacher große Medienwirksamkeit erzielen, verstärkt dies die Gefahr der Verharmlosung durch Banalisierung. Allzu rasch drohen Satire und vordergründig spaßhafter Umgang mit Hitler eine intellektuell anstrengendere Beschäftigung mit dem Gegenstand zu ersetzen.

Natürlich wäre die Behauptung vermessen, es könne in Deutschland nur den einen, den "richtigen" öffentlichen Umgang mit Hitler geben. Aber ein gewisses Maß an aufklärerischem Ernst darf und muss man erwarten. Andernfalls würde Hitler einmal mehr unterschätzt. Um jeden Anschein einer gleichsam postmortalen kulturellen Herrschaft Hitlers zu vermeiden, müssen daher seine Demagogie entziffert, seine Erfolge erklärt und die hinter ihnen stehenden gesellschaftlich-kulturellen Antriebskräfte studiert werden. Dies bleibt für die Deutschen eine Daueraufgabe: in der Wissenschaft, in den Medien und auch in der Politik. Dies ist die Voraussetzung für einen mündigen Umgang mit Hitlers fatalem Erbe und zugleich das stärkste politisch-moralische Argument für die Veröffentlichung einer kritischen Edition.

Dieses Argument hält auch dort stand, wo es sich naturgemäß am schwersten tut: gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus. Die Gefühle der Opfer spielen eine bedeutsame Rolle. Und einem Holocaust-Überlebenden lässt sich möglicherweise kaum plausibel machen, warum in Deutschland "Mein Kampf" – wenngleich kritisch kommentiert – neu gedruckt werden soll. Zwar gibt es auch unter dieser Gruppe der besonders Betroffenen unterschiedliche und konträre Positionen. Aber eine möglicherweise unüberwindbare Empörung über Pläne, "Mein Kampf" in einer wie auch immer gearteten Form neu zu bearbeiten, ist nachvollziehbar und zu respektieren. Gleichwohl gilt es angesichts der rechtlichen Lage, die allein auf dem auslaufenden Urheberrecht beruht, die Umstände zu erläutern und am Ende noch einmal die Gründe darzulegen, die für Transparenz und Offenheit sprechen.

Eine irgendwie geartete Dichotomie zwischen Opferempathie einerseits und gleichsam "kalter" Wissenschaftlichkeit andererseits gibt es ohnehin nicht. Historisch-kritische Aufklärung kann niemals unethisch sein. Ein solcher, mitunter im öffentlichen Raum gehörter Vorwurf gegen den wissenschaftlichen Umgang mit "Mein Kampf" fördert die Irrationalität der Debatte. Wissenschaftliche Aufklärung der NS-Geschichte und ihrer Verbrechen ist immer auch Dienst an den Opfern und dient auf ihre Weise der Aufrechterhaltung der Würde der Opfer. Dies gilt auch für die Arbeit an "Mein Kampf".

Dies muss umso mehr hervorgehoben werden, als das Werk, wie bereits hundertfach gesagt wurde, im Ausland, im Internet und in Antiquariaten frei verfügbar ist und in der Zukunft frei verfügbar bleiben wird. Unter keinen Umständen ist die Verbreitung des Textes zu verhindern. Und gerade weil Hitlers Hetzschrift – Urheberrecht hin, Urheberrecht her – längst in der Welt ist und auch künftig gleichsam unkontrolliert vagabundieren kann, ist die Erstellung einer ernsthaften Edition mit einem dezidiert kritischen Standpunkt das Gebot der Stunde. Sie wird so eingerichtet sein, dass ihr Leser keine Seite Hitler-Text wird lesen können, ohne zugleich die kritische Einordnung der Editoren zur Kenntnis nehmen zu müssen.

Das Fazit lässt sich als Plädoyer für das Lesen fassen. Die Empfehlung zur kritischen Lektüre drängt sich gerade angesichts der nicht endenden und sich wechselseitig in allen denkbaren Formaten verstärkenden medialen Präsenz Hitlers und des Nationalsozialismus auf. Diesem Kreislauf des Neuen und Immergleichen kann der Interessierte nur entkommen, wenn er ad fontes geht. Dass "Mein Kampf" einen eminenten Quellenwert für die Geschichte des Unheils besitzt, ist, wie deutlich geworden sein dürfte, unbestreitbar. Und dafür, dass die verbrecherische Geschichte des nationalsozialistischen Unheils besser verständlich wird, intellektuell und kognitiv erschlossen werden kann, legt die akribische wissenschaftliche Aufbereitung die Basis.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Umfänglich zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte: Othmar Plöckinger, Geschichte eines Buches: Adolf Hitlers "Mein Kampf" 1922–1945, München 2006, sowie künftig die Einleitung zu: Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, hrsg. im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte von Christian Hartmann/Thomas Vordermayer/Othmar Plöckinger/Roman Töppel, München 2016 (i.E.). Im Folgenden wird "Mein Kampf" nach der originalen Paginierung der Erstausgabe zitiert, die in dieser Edition wiedergegeben wird.

  2. Martin Broszat an das Auswärtige Amt, 9.11.1961, in: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1962, Bd. I (1. Januar bis 31. März 1962), hrsg. im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte von Horst Möller/Klaus Hildebrand/Gregor Schöllgen, München 2010, Dok. 76, S. 399, Anm. 2. Das Buch erschien unter dem Titel: Gerhard L. Weinberg (Hrsg.), Hitlers Zweites Buch. Ein Dokument aus dem Jahr 1928, Stuttgart 1961.

  3. Ministerialdirektor von Haeften an das Bayerische Staatsministerium der Finanzen, 15.2.1962, in: Akten (Anm. 2), Dok. 76, S. 400.

  4. Es erschien unter dem Titel: Außenpolitische Standortbestimmung nach der Reichstagswahl Juni–Juli 1928, eingeleitet von Gerhard L. Weinberg, hrsg. und kommentiert von Gerhard L. Weinberg/Christian Hartmann/Klaus A. Lankheit, München 1995.

  5. Andreas Andernach, Hitler ohne Maske, München 1932, S. 23–26, hier: S. 23.

  6. Otto Straßer, Hitler und ich, Buenos Aires 1940, S. 59.

  7. Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition (Anm. 1), Bd. 1, [S. 300].

  8. Ebd.

  9. Ebd.

  10. Ebd.

  11. Ebd., [S. 270]. Nachfolgendes Zitat ebd.

  12. Siehe den "Klassiker" Karl Binding/Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920. Vgl. Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition (Anm. 1), Bd. 1, Kap. 4, Anm. 48.

  13. Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, Bd. 2, [S. 19]. Herv. i.O.

  14. Zit. nach: Andreas Wirsching, "Man kann nur Boden germanisieren". Eine neue Quelle zu Hitlers Reden vor den Spitzen der Reichswehr am 3. Februar 1933, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 49 (2001), S. 517–550, hier: S. 547.

  15. IMT. Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 14. November 1945 bis 1. Oktober 1946, Nürnberg 1947–1949, Bd. XXV, S. 406.

  16. Alfred Rosenberg. Die Tagebücher von 1934 bis 1944, hrsg. u. kommentiert von Jürgen Matthäus/Frank Bajohr, Frankfurt/M. 2015, S. 291 (29.9.1939).

  17. IMT (Anm. 15), Bd. XXVI, S. 329.

  18. Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition (Anm. 1), Bd. 1, [S. 297].

  19. Ebd., [S. 263].

  20. Brigitte Hamann, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München 1996, S. 7.

  21. Hitler an den Magistrat der Stadt Linz, 21.1.1914, in: Eberhard Jäckel/Axel Kuhn (Hrsg.), Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905–1924, Stuttgart 1980, Nr. 20, S. 55.

  22. Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition (Anm. 1), Bd. 1, [S. 19].

  23. Vgl. Ian Kershaw, Hitler 1889–1945, München 2009, S. 37.

  24. Zit. nach: B. Hamann (Anm. 20), S. 76.

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Dr. phil., geb. 1959; Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München; Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Leonrodstraße 46b, 80636 München. E-Mail Link: wirsching@ifz-muenchen.de