Ein Blick in die Geschichte der Bildwelten der Weltbilder
Ingeborg Reichle
/ 17 Minuten zu lesen
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Menschen hatten zu allen Zeiten eine Vorstellung von der Welt, in der sie lebten und wie sie sie verstanden – und hielten dies visuell fest. Die Geschichte der "Welt als Bild" nimmt nicht nur wechselnde Weltvorstellungen in den Blick, sondern auch die Entwicklung der Darstellungsmethoden und Visualisierungsmedien.
Menschen machten sich zu allen Zeiten ein Bild von der Welt, in der sie lebten und wie sie sie jeweils verstanden – und hielten dies entsprechend ihrer Möglichkeiten und den ihnen zur Verfügung stehenden Medien visuell fest. Die hinter dieser Praxis des Entwerfens von Weltbildern liegenden Fragen sind über die Jahrhunderte die gleichen geblieben. Sie betreffen die Ordnung, in welche der Mensch sich eingebettet findet und seine Stellung innerhalb dieser Ordnung: Welche Gestalt hat die Welt? Welche Kräfte und Ideen wirken in ihr? Woraus besteht sie? Wie ist sie entstanden? Wie sieht ihre Zukunft aus?
Die mit dieser Ordnung einhergehenden Begriffe "Weltbild" und "Weltanschauung" verweisen dabei unmittelbar auf die grundlegende Bedeutung des Sehens und der Bildlichkeit für die menschliche Erfahrung von Welt. Bilder erfüllen für den Menschen eine grundsätzlich orientierende und strukturierende Funktion. Anschaulichkeit als grundlegende Kategorie für unser Verständnis von Welt meint jedoch mehr als eine bloße Reproduktion des Sichtbaren: Die Bildwelten der Weltbilder vermitteln nicht nur ein anschauliches Bild der Welt und des Kosmos beziehungsweise der entsprechenden Vorstellungen. Bildliche Darstellung geht notwendigerweise immer auch mit einer Abstraktionsleistung einher. Daher ist die dargestellte Welt stets eine vom Menschen hervorgebrachte Wirklichkeit und somit einerseits interpretiert und andererseits symbolisch konstruiert. Bilder von der Welt sind zugleich wirkungsmächtige Instrumente zum praktischen und theoretischen Handeln in der Welt und prägen auf unterschiedlichste Weise die Konstruktion und Imagination von Welt überhaupt.
Die Geschichte der "Welt als Bild" reicht von kosmologischen Modellbildungen der Antike bis hin zu jüngsten computergenerierten Visualisierungen der Astrophysik. Es handelt sich also nicht nur um eine Geschichte wechselnder Weltvorstellungen, sondern zugleich um eine Geschichte wechselnder Darstellungsmethoden und unterschiedlicher Visualisierungsmedien: Bei der Betrachtung von Weltbildern gelangt daher eine Vielfalt visueller Medien in den Blick: Buchmalerei und Computersimulation, Tafelmalerei und Infografik, Kartografie und Diagramme. Im Folgenden möchte ich anhand ausgewählter bildlicher Darstellungen der Welt exemplarisch einige Aspekte der Geschichte der Bildwelten der Weltbilder aufzeigen – wobei diese chronologische Reihung nur eingeschränkt als lineare Entwicklung zu verstehen ist.
Von der Symbolik des Zentrums und vollkommenen Kreisen
Bilder der Welt im Sinne von Praktiken visueller Welterzeugung entstehen bereits lange vor unserer Zeitrechnung. Eines der frühesten überlieferten Weltbilder ist die sogenannte Babylonische Weltkarte, die in der Zeit vom 7. bis 6. Jahrhundert v. Chr. im Zweistromland entstand und sich heute im British Museum in London befindet. Auf dem 8,2 mal 12,2 Zentimeter großen Fragment einer Tontafel sind auf der Vorder- und Rückseite Texte in Keilschrift eingeritzt sowie auf der unteren Hälfte eine Karte aus der Vogelperspektive (Abbildung 1).
Auf einer runden Fläche innerhalb eines gleichmäßig breiten Rings, der als Ozean gekennzeichnet ist, sind wichtige Städte und Gebiete lokalisiert. Jenseits des Ozeans schließen sich außen sternförmig eine Reihe dreieckiger Formen an, deren Spitzen in vermutlich unbekanntes Terrain – die Räume zwischen den Spitzen sind unbeschriftet – hineinragen. Zwei parallele Linien, die sehr wahrscheinlich den Euphrat darstellen, streben von der oberen Mitte des Kreises nach unten durch den Mittelpunkt der Karte und treffen auf zwei waagerecht verlaufende Linien, die als Kanal bezeichnet werden. Im Zentrum steht die Stadt Babylon mit dem Hochtempel, der als Sinnbild des Zusammenhalts der Welt – Himmel, Erde und Unterwelt – als vertikale kosmische Achse vorgestellt wird, welche von Anbeginn der Zeiten die Stabilität des Weltgebäudes garantiert. Älteren kartografischen Konventionen folgend, werden die Ränder der bekannten Welt entweder als Berge oder als Meere dargestellt, die von furchterregenden Mischwesen bevölkert sind und somit eine Art Gegenwelt zur Zivilisation der geordneten altorientalischen Stadtkultur verkörpern.
Der Text auf der Vorder- und Rückseite der Tontafel nimmt auf die Darstellung erläuternd Bezug. Auf diese Weise wird der begrifflichen Ordnung der Welt eine modellhafte anschauliche Ordnung gegenübergestellt. Zugleich eröffnet die perspektivische Darstellung der Babylonischen Weltkarte der Betrachterin oder dem Betrachter eine kartografische Orientierung im bekannten Raum, die es ihm erlaubt, die Welt der Babylonier als Ganzes zu erfassen. Diese Perspektive auf die Welt ist jedoch zugleich eine Perspektivierung, die Rahmung eines Selbst- und Weltverhältnisses, das auf gewissen Grundannahmen von der Welt basiert, aufgrund derer die Phänomene überhaupt erst in den Blick genommen werden können. Diese sind stets kultur- und zeitgebunden. Weltbilder sind daher als Modellierungen von Überzeugungen zu verstehen, durch die sich Menschen vor aller Erkenntnis und vor jeder Handlung ihrer selbst, ihrer Stellung in der Welt und der Welt als solcher vergewissern, mit einer Orientierungs- und Deutungsfunktion. So sind auch die Babylonische Weltkarte und der zu ihr gehörende Text in eine symbolische Weltsicht eingebettet, in der insbesondere die Handlung der Götter die Welt für die Menschen lesbar macht.
Dies lässt sich auch an den Bildern christlicher Weltvorstellungen des lateinischen Mittelalters, sogenannten mappae mundi, festmachen. Anders als etwa die auf den Methoden der griechischen Naturwissenschaft basierenden mittelalterlichen muslimischen Himmelskarten, die selbst keine religiöse Dimension dokumentieren und vielmehr dazu dienten, Mondkalender für die religiösen Rituale zu erstellen und die Gebetszeiten festzulegen, oder Kartendiagramme der islamischen Welt zur Ermittlung der Kibla, der Gebetsrichtung nach Mekka aus jeder Richtung der Welt, sind mappae mundi religiös überformt und geprägt von der biblischen Überlieferung der Ordnung der Welt und weisen zahlreiche Bezüge zur christlichen Heilsgeschichte auf.
Ein Beispiel ist etwa die Londoner Psalterkarte, die in den 1260er Jahren entstand und heute in der British Library in London aufbewahrt wird (Abbildung 2). Sie zeigt auf der Vorderseite, ebenfalls aus der Vogelperspektive, die Welt als vom Heiland gesegnete Scheibe, eingefasst von einem grünen Ring, der den Ozean darstellt. Mittig oben auf der Karte, also im Osten, ist das Paradies mit dem Doppelporträt von Adam und Eva sowie fünf dort entspringenden Flüssen zu erkennen. Rechts davon ist das Rote Meer zu sehen, links die kaukasische Festung, hinter der Alexander der Große die Endzeitvölker Gog und Magog eingeschlossen haben soll. Gegenüber, am südlichen Rand der Karte, befinden sich menschliche Missgestalten und halbtierische Fantasiewesen in ihren Gehäusen. Im Zentrum des Erdkreises, in der Mitte der Welt und der Völker, liegt Jerusalem – wie insbesondere seit der Eroberung des Heiligen Landes durch die Kreuzfahrer 1099 auf solchen westlichen Darstellungen der Welt üblich. In der unteren Hälfte sind die ebenfalls in Grün gehaltenen, waagerecht verlaufenden Flüsse Don und Nil sowie, senkrecht skizziert, das Mittelmeer zu sehen. Diese in den Weltozean eingelassene T-Form der Gewässer trennt die drei um das Mittelmeer angeordneten Kontinente Asien, Europa und Afrika voneinander. Der antiken Konvention sogenannter T-O-Karten folgend, liegt Asien im oberen Teil der bewohnten Welt, Europa im linken unteren Viertel und Afrika im rechten unteren Viertel. Auf der Rückseite des Blattes werden die drei Kontinente den drei Söhnen Noahs Sem (Asien), Jafet (Europa) und Ham (Afrika) zugeordnet, die laut der biblischen Überlieferung nach der Sintflut die Erde besiedeln.
In dem gleichen Maße, in dem bildliche Darstellungen der bekannten Welt bis in die Frühe Neuzeit hinein von der Symbolik des Zentrums inspiriert sind, beherrscht das geozentrische Weltbild die Vorstellung der Menschen vom Kosmos: Von der Antike an wird dem im stetigen Wandel befindlichen Dasein auf der Erde der supralunare göttliche Bereich der ewigen und unveränderlichen Sphärenwelt gegenübergestellt, in dem die Gestirne in vollkommenen Kreisbewegungen ihre Bahnen um die Erde ziehen, die als unbeweglich im Mittelpunkt des Kosmos vorgestellt wird.
Dieser Bezug auf die Idealform des Kreises ist von der Annahme einer göttlichen Geometrie inspiriert, die schon der griechische Philosoph Platon (ca. 428–348 v. Chr.) beschreibt. Er sieht diese im Zusammenhang mit der Erschaffung der Welt. Sie habe die Funktion, das Unbegrenzte zu begrenzen, die Materie nach Maß und Zahl zu gestalten und vor allem Harmonie und Ordnung zu stiften. Dieses Motiv des geometrisierenden Gottes ist in kommentierten Bibelhandschriften aus dem frühen 13. Jahrhundert wiederzufinden. So zeigt etwa eine Darstellung in der "Bible moralisée" aus Oxford von 1235/45 n. Chr., die heute in der Bodleian Library aufbewahrt wird, Gott als deus geometra auf einem Thronsessel sitzend, wie er die Weltscheibe vor sich hält und mit einem Zirkel in der Hand präzise die kreisrunde Form der Welt umreißt.
Die Vorstellung von der Vollkommenheit der Kreisbewegungen der göttlichen Gestirne wird jedoch bereits in der Antike durch die zeitgenössische Beobachtung der Himmelserscheinungen der sogenannten fünf Irrsterne infrage gestellt: Die Bahnen der Planeten Saturn, Jupiter, Mars, Venus und Merkur bilden kaum zu deutende Schlaufen, stehen still oder sind sogar rückläufig. Im zweiten Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung kann der griechische Mathematiker und Naturforscher Ptolemaios von Alexandria (ca. 100–170 n. Chr.) die komplexen Planetenbewegungen schlüssig erklären, woraufhin das nach ihm benannte Weltbild über Jahrhunderte – bis zur "kopernikanischen Wende" im 17. Jahrhundert – gültig bleibt: Er lässt die Himmelskörper auf Epizyklen kreisen, womit sich die Umlaufbahnen und die Winkelabstände der Planeten von der Sonne präzise beschreiben lassen. Das drei Jahrhunderte zuvor von dem griechischen Astronom und Mathematiker Aristarch von Samos (ca. 310–230 v. Chr.) entwickelte heliozentrische Modell zur Erklärung der komplexen Planetenbahnen kann Ptolemaios verwerfen. Denn er gelangt zu dem Schluss, dass wenn die Erde sich auf einer riesigen Umlaufbahn um die Sonne bewegen würde, im Sommer wie auch im Winter am Fixsternhimmel gewisse Verschiebungen erkennbar sein müssten – sogenannte Parallaxen. Parallaxeneffekte sind zu Ptolemaios’ Zeiten jedoch nicht auszumachen, auch nicht zu Lebzeiten von Nikolaus Kopernikus (1473–1543), Galileo Galilei (1564–1642) oder Johannes Kepler (1571–1630). Letzterer kann zwar anhand des Planeten Mars belegen, dass sich Planeten auf elliptischen Bahnen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit um die Sonne bewegen, und besiegelt damit die endgültige Abkehr von der Idealform des Kreises. Doch erst 1838 kann der deutsche Astronom und Mathematiker Friedrich Wilhelm Bessel (1784–1846) den von Ptolemaios geforderten Effekt einer Fixsternparallaxe präzise nachweisen.
Von der Ausdehnung der Welt
Als am Ende des 15. Jahrhunderts der Seefahrer Amerigo Vespucci (1451–1512) den im Westen neu entdeckten Kontinent als solchen erkennt und der Kosmograf Martin Waldseemüller (ca. 1475–1521) die Neue Welt mit dem Namen Amerika belegt, stellt dies die Trinität der Kontinente und damit auch die biblische Überlieferung der Ordnung der Welt infrage. Da die Bibel die Herkunft aller Völker auf die drei Söhne Noahs zurückführt, die nach der Sintflut die drei Kontinente besiedeln, muss zunächst geklärt werden, ob es sich bei den neu entdeckten Völkern tatsächlich um Menschen oder vielmehr um Tiere handelt. Nachdem am spanischen Hof die Frage nach dem Status der "Wilden" zu Gunsten des Menschseins entschieden ist, wird weiter spekuliert, ob es sich bei den Völkern der Neuen Welt möglicherweise um die zehn verlorenen Stämme Israels handelt. Als spanische und holländische Seefahrer schließlich im 16. und 17. Jahrhundert die legendäre terra australis erreichen und kartografieren und nach der Neuen Welt nun ein fünfter Kontinent entdeckt ist, lässt sich die Vorstellung von der Trinität der Kontinente nicht länger aufrechterhalten.
Zu dieser Zeit läutet der Geograf Gerhard Mercator (1512–1594) mit neuen Kartentypen das Zeitalter der kartografischen Reformation ein. Die neuzeitlichen Hersteller von Weltkarten finden ihre Vorbilder in topografischen Karten und sind dem Ideal größtmöglicher Exaktheit und Treue der Aufzeichnung des Terrains verpflichtet. Dennoch ist auch die wissenschaftlich motivierte Darstellung der Erde mit dem Phänomen konfrontiert, dass eine kugelförmige Oberfläche auf eine zweidimensionale Fläche projiziert werden muss und damit die Abbildung der Erde ohne Verzerrung nicht möglich ist. Auch die Repräsentation der Welt durch Karten hängt von der Perspektive beziehungsweise von der verwendeten Projektionsmethode ab, die entweder flächentreu oder winkeltreu erfolgen kann. So können das Territorium und die Oberfläche einer Karte nie vollständig zur Deckung kommen. Wie schon zu Zeiten der Herstellung der Babylonischen Weltkarte folgen auch die ersten wissenschaftlichen Weltkarten der Logik der Abstraktion: Um als Werkzeug der Orientierung zu fungieren, transformiert die Karte das Territorium durch Abstrahieren, Schematisieren und Verallgemeinern in einen erschließbaren und erfahrbaren Raum, um damit etwas Bestimmtes und Intendiertes der Wahrnehmung des Betrachters zuzuführen: etwa den Einblick in Relationen zwischen verschiedenen Orten oder einen anderen epistemologischen Sachverhalt, der anders nicht gezeigt beziehungsweise sichtbar gemacht werden kann. Erst die Abstraktion vom Territorium führt zur Lesbarkeit der Karte, weist diese damit aber auch als soziales Konstrukt aus, das stets aus einem macht- und interessengeleiteten Gefüge hervorgeht. Durch Karten entstehen Bilder von der Welt, deren wie auch immer motivierte Perspektivierung wieder zurückwirkt auf die Wahrnehmung der Welt beziehungsweise des Territoriums.
Die Welt des griechischen kosmos und der geschaffene mundus des Mittelalters werden in der Neuzeit durch die im 16. Jahrhundert zunehmende Akzeptanz des heliozentrischen Weltmodells sowie die im 19. und 20. Jahrhundert immer präziser werdenden astrophysikalischen Messmethoden zum Universum. Als solche wird die Welt für lange Zeit als nicht mehr darstellbar empfunden. Dies gilt zunächst mit Blick auf ihre Größe: Die Ausdehnung des Universums in der Neuzeit verändert tiefgreifend die Vorstellungen, die sich die Menschen von der Welt machen. Für die Darstellbarkeit der Welt heißt das: Die Welt, von der man weiß, ist zu groß, als dass sie auch nur vorgestellt werden könnte. Mit dieser räumlichen Entgrenzung der Welt, die in der Vormoderne durch die klassische Unterscheidung von Zentrum und Peripherie oder die Trennung eines Oben von einem Unten strukturiert werden konnte, kommt es zum Verlust wahrnehmbarer Ordnung – nicht zuletzt aufgrund des enormen Zuwachses an Kenntnissen über die Welt, die mit ihrer Entdeckung und Erforschung sowie der zunehmenden Ausdifferenzierung der Wissenschaften einhergeht.
Versuchen die Kunst- und Wunderkammern des Barock noch, die kosmische Ordnung des Makrokosmos im Mikrokosmos abzubilden und den universalen Zusammenhang aller Dinge aufzuzeigen, stoßen die Enzyklopädien der Aufklärung damit bald an ihre Grenzen. Im 18. Jahrhundert entsteht neben einer ganzen Reihe ähnlicher Vorhaben in Europa auch die "Encyclopédie" des französischen Philosophen und Schriftstellers Denis Diderot (1713–1784) und des Mathematikers Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (1717–1783). Die Intention der Herausgeber der "Encyclopédie" ist die Sammlung aller auf der Erdoberfläche verstreuten Kenntnisse und deren systematische Darlegung. Zwischen 1752 und 1780 entsteht damit eines der wirkmächtigsten Hauptwerke der französischen Aufklärung, das gleichsam zum Symbol für das Weltbild dieser Epoche in Europa wird. Am Ende umfasst das Werk 17 Textbände mit rund 72000 Artikeln sowie elf opulent gestaltete Tafelbände.
Einem Ergänzungsband von 1780 fügen die Herausgeber eine höchst aufwendig gestaltete Ausklapptafel in einer Größe von 98,5 mal 63,5 Zentimetern hinzu, welche die kaum mehr zu überblickende Vielfalt der Erkenntnisse über die Welt in der Gestalt von einem Baum des Wissens darstellt (Abbildung 3). Der Stich wird mit der Intention entworfen, das wesentliche Wissen über die genealogische Entwicklung der Wissenschaften und der Künste für eine rasche Orientierung des Lesers auf einen Blick verfügbar zu machen. Aus dem Baumstamm erwächst ein komplexes Gefüge von Ästen, die eine Vielzahl ovaler Medaillons als Früchte tragen, in denen kurze, jedoch kaum zu entziffernde Erläuterungen eingetragen sind. Das Wissen wächst in diesem Bild organisch von der Wurzel bis hinauf in die Baumkrone, verzweigt sich immerfort und gleicht schließlich der Gestalt eines natürlichen Baums.
Visuelle Ordnungssysteme für Segmente einer immer komplexeren Welt
Weltbilder, so scheint es ab dem 19. Jahrhundert, können nicht mehr Visualisierungen der Welt von der Art vormoderner Darstellungen des Kosmos sein. Charakteristisch für die Verwendung des Begriffs werden daher Kombinationen mit explikativem Genitiv, etwa das "Weltbild der Physik" oder das "Weltbild des mittelalterlichen Menschen". Solche Ausdrücke weisen auf die Wahrnehmung insbesondere des 19. Jahrhunderts hin, dass Bilder nur mehr Segmente einer Welt repräsentieren können, die als immer komplexer werdend wahrgenommen wird.
So sind beispielsweise visuelle Ordnungssysteme im 18. und 19. Jahrhundert überaus beliebter Bestandteil naturkundlicher Publikationen. Naturforscher sind beseelt von der Suche nach den Gesetzmäßigkeiten der natürlichen Welt und einer systematischen Beschreibung der Ordnung der Natur. Neben dem begrifflichen Klassifikationssystem, das der Schwede Carl von Linné (1707–1778) in Form einer binomialen Nomenklatur in seinem Werk "Systema naturae" von 1735 als Ordnungssystem der Natur vorstellt, entstehen unzählige taxonomische Diagramme, Bilder und Skizzen, die eine visuelle Ordnung der Natur zu etablieren suchen.
Durch die Expansion des Welthandels und die Kolonisierung weiter Teile der Welt steigt die Zahl der in den Sammlungen der europäischen Naturforscher angehäuften Objekte in einem bis dahin nicht gekannten Maße und bringt die bis dahin verwendeten ordnenden Systeme an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit. Die Fülle und die damit einhergehende Unübersichtlichkeit sowohl der Tier- als auch der Pflanzenwelt führen zu der Einsicht von der Unregelmäßigkeit der natürlichen Ordnung. Um diese zumindest visuell in den Griff zu bekommen, entwerfen Naturforscher mithilfe einer streng geometrischen Bildsprache systematisierende Diagramme, die wiederum Rückschlüsse auf die Gesetzmäßigkeiten und Ordnung der Tier- und Pflanzenwelt zulassen sollen.
Als etwa der britische Naturforscher Charles Darwin (1809–1882) sein epochales Werk über die Ursachen der Veränderlichkeit der Arten 1859 in London publiziert, ergänzt er seine Ausführungen um ein Diagramm auf einer ausklappbaren Tafel (Abbildung 4). Die Leserichtung läuft vom unteren Rand der Tafel nach oben: Die Großbuchstaben A bis L bezeichnen die Populationen einer Art. Die von da nach oben in unterschiedlicher Länge aufstrebenden gepunkteten Linien repräsentieren die Stammlinien der Nachkommen. Vom Großbuchstaben A aus streben sechs Linien fächerförmig auf, wobei sich nur die beiden äußeren bis zur ersten horizontal verlaufenden Linie erstrecken und am Schnittpunkt mit den Kleinbuchstaben a1 und m1 belegt werden. Die im gleichen Abstand eingetragenen und mit den römischen Ziffern I bis XIV durchnummerierten horizontal verlaufenden Linien stehen für Zeitspannen, in welchen Tausende von Generationen aufeinanderfolgen: Nach zehntausend Generationen hat sich A in a10, f10 und m10 aufgespalten, B, C, D sind im Laufe der Zeit ausgestorben, und E und F wurden ohne größere Veränderungen zu E10 und F10. Die Populationen G, H, K und L sind ebenfalls ausgestorben, I wurde jedoch ähnlich wie A entsprechend den Prinzipien der Evolution zu w10 und z10.
Obwohl Darwin seine Publikation mit dem griffigen Titel "On the Origin of Species" überschreibt, lässt er den Leser im Dunkeln über den Ursprung der Arten: Von den Buchstaben A bis L laufen elf abgewinkelte Linien zum unteren Rand der Buchseite. Würde der Betrachter das Fortlaufen der Linien imaginieren, träfen diese sich außerhalb der von der Größe des Papiers vorgegebenen Fläche in einem Punkt, der wohl einen gemeinsamen Vorfahren repräsentieren würde. Mit seinem Diagramm macht Darwin jedoch deutlich, dass die Evolution nicht als ein linearer Prozess verläuft, sondern der Struktur eines Busches ähnelt, an dessen vielen Zweigen Gleiches unabhängig voneinander erwachsen kann, und am Ende nicht nur die am besten angepasste Variante existieren kann, sondern eine ganze Reihe von Varianten, wie a10, f10, m10, E10, F10, w10 und z10.
Zwar existieren im 19. Jahrhundert eine Vielzahl biologischer Evolutionsmodelle und eine Reihe eindrucksvoller Belege, welche die Evolution zu einer bestechenden Erklärung für die Entstehung der biologischen Vielfalt des Lebens auf der Erde machen. Darwin ist jedoch der Erste, der eine überzeugende Theorie anbietet, die wirklich schlüssig erklären kann, wie die mit der Evolution einhergehenden physiologischen Veränderungen der Lebewesen zustande kommen – insbesondere im Hinblick auf die Tatsache, dass Lebewesen perfekt an ihren Lebensraum angepasst sind.
Bei der Formulierung seiner Theorie vermeidet Darwin die Bezeichnung "Evolution" und verwendet den Ausdruck "Entwicklung". Denn "Evolution" bezeichnet damals gerade nicht den Wandel der Arten, sondern das Aus- beziehungsweise Entfalten bereits vorgebildeter Anlagen. Der Kerngedanke dieser entwicklungsbiologischen Theorie war in Form der sogenannten Präformationslehre bereits in der Antike entwickelt worden und vom 17. bis ins 19. Jahrhundert hinein eine der vorherrschenden Erklärungen für die Entstehung von Leben. Eine der Ursachen für den lang andauernden Widerstand gegen die Vorstellung der Veränderlichkeit der Arten liegt sicher in der großen Bedeutung, die Platons idealistischer Philosophie lange zugeschrieben wurde. Als ein Vertreter der Typenlehre beschreibt Platon die Organismen als geordnet sowie nach gleichbleibenden Formen und Ideen gestaltet – und somit als unveränderlich und ewig.
In "On the Origin of Species" entwirft Darwin ein Bild von der Natur, das bestimmt ist von Unvollkommenheit, Zufall und Auslese und sich mit der Vorstellung einer perfekten und unveränderlichen Schöpfung nicht mehr in Einklang bringen lässt. Mit seiner Evolutionstheorie skizziert Darwin ein neues Weltbild, das dem Menschen eine neue Rahmung eröffnet, sich in ein Verhältnis zur Natur und zu seiner Kultur zu setzen, ohne einen Schöpfergott als Erklärung bemühen zu müssen. Er liefert nicht nur Einsichten über die Ursachen der Entstehung der biologischen Vielfalt des Lebens, sondern zugleich den letzten großen Baustein zur Formulierung einer vollständig naturalistischen Weltsicht mit all ihren Folgen für das Menschen- und Weltbild bis in die heutige Zeit.
Nur mehr ein Punkt im Weltall
Wird die Welt für die Menschen der Neuzeit zu groß, als dass sie auch nur vorgestellt werden kann, schrumpft die Welt für die Menschen des ausgehenden 20. Jahrhunderts zu einem Punkt. Als die Raumsonde "Voyager 1" am 14. Februar 1990 das Sonnensystem verlässt, entsteht eine Fotografie der Erde aus 6,4 Milliarden Kilometern Entfernung, die als "Pale Blue Dot" bekannt wird. Das ist die größte Distanz, aus der die Erde bis dahin aufgenommen wurde. Die Aufnahme zeigt ein Bild von der Erde, die von den anderen Planeten in den unendlichen Weiten des Universums nicht mehr zu unterscheiden ist. Die Milchstraße ist nur ein Sonnensystem neben unendlich vielen anderen und die Erde nur ein Punkt in einem recht kleinen Sonnensystem.
Bereits auf dem Mondflug der "Apollo 8" war am 24. Dezember 1968 eine Fotografie der Erde entstanden, die in ihrer Darstellung den Vorstellungsrahmen vieler Menschen neu justierte (Abbildung 5): Das Bild mit dem Titel "Earthrise" zeigt den Erdaufgang vom Mondorbit aus in seiner ganzen Singularität in einem unendlich großen Universum. Wie kein anderes Bild der Raumfahrt trägt "Earthrise" seit seiner Entstehung zur Bildung und Rahmung des Selbst- und Weltverhältnisses der Menschen bei und bildet – wie auch schon die Babylonische Weltkarte zweieinhalb Jahrtausende zuvor – eine Grundlage für die Erzeugung von Darstellungen und Vorstellungen, die sich die Menschen von der Welt machen können.
PD Dr. phil., geb. 1970; FONTE Stiftungsprofessorin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10117 Berlin. E-Mail Link: ingeborg.reichle@kunstgeschichte.de
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