Bilder der Welt und damit nicht zuletzt Karten spielen eine wichtige Rolle bei der Herstellung und Vermittlung grundlegender Vorstellungs- und Deutungssysteme – also von Weltbildern in einem metaphorischen Sinn.
Allerdings wird die Idee einer kartografischen "Abbildung" seit den 1980er Jahren als modernistischer Mythos kritisiert. Diese sozial- und kulturwissenschaftlich orientierte, kritische Kartografieforschung betont, dass Karten immer in einem spezifischen soziotechnischen Kontext entstehen. Dieser prägt, welche Bilder der Welt hergestellt werden – und welche nicht. Karten oder, weiter gefasst, die ihnen zugrunde liegenden Geoinformationen sind also nicht einfach Abbilder der Welt, sondern (Re-)Produzenten von Weltbildern. Neuere Ansätze zeigen darüber hinaus, dass die Techniken und Praktiken der Kartografie und Geoinformation nicht nur Bilder der Welt prägen, sondern auch unsere physischen Lebenswelten mit formen.
Im Folgenden werden zunächst die Ansätze einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Karten und Geoinformationen vorgestellt. Anschließend werden wichtige Bausteine der soziotechnischen Transformation der Kartografie sowie des gesamten Feldes der Geoinformation im 20. und 21. Jahrhundert beschrieben, um abschließend zu diskutieren, welche Weltbilder heute in den sogenannten Neokartografien und Neogeografien des digitalen Zeitalters entstehen.
Jenseits der Karte
Unter dem Schlagwort der "Kritischen Kartografie" hat sich seit den 1980er Jahren eine sozial- und kulturwissenschaftliche Kartografieforschung entwickelt, welche die gesellschaftliche Einbettung von Kartografie und Karten sowie die Bedeutung der Kartografie für die (Re-)Produktion bestimmter Weltbilder untersucht. In jüngerer Zeit rücken dabei vermehrt auch die Praktiken, Konventionen und Techniken des Kartenmachens und -gebrauchens ins Blickfeld sowie die Frage, wie diese "in der Welt arbeiten".
Der Geograf und Kartografie-Historiker Brian Harley bemühte sich seit den 1970er Jahren, historische Karten nicht einfach als Abbilder historischer Situationen zu interpretieren, sondern als Dokumente, die innerhalb ihres spezifischen gesellschaftlichen Kontextes verstanden werden müssen. In seinem bekanntesten Aufsatz "Deconstructing the Map"
Um dies zu untersuchen, schlägt Harley vor, Karten ähnlich wie Texte zu analysieren. Dabei soll von den Regelmäßigkeiten in der Gestaltung von Karten auf die impliziten Regeln der Kartografie geschlossen werden: Was wird im Zuge der Generalisierung hervorgehoben, was wird nicht dargestellt? Welche Bezeichnungen werden verwendet? Welche Grenzen werden gezogen? Welche Orte werden ins Zentrum der Karte gerückt? Wie wird die dreidimensionale Erde auf die zweidimensionale Karte projiziert, zum Beispiel winkel- oder flächentreu? Als eine Regelmäßigkeit und diskursive Regel der Kartografie identifiziert Harley beispielsweise das Prinzip der Ethnozentrizität von Karten – also die Regel, dass der Ort des Eigenen ins Zentrum von Karten gesetzt wird.
Als eine weitere Regel beschreibt Harley die "Regel der sozialen Ordnung".
Dies lässt sich anschaulich illustrieren: So heben topografische Karten in Deutschland beispielsweise christliche Kirchen durch eine Signatur hervor. Andere religiöse Bauten werden hingegen nicht mit einer Signatur dargestellt und somit in der Regel kartografisch "verschwiegen". Für Synagogen oder Moscheen existieren in der amtlichen Kartografie in Deutschland bislang keine Signaturen – im Sinne Harleys eine Konsequenz der vorherrschenden sozialen Ordnungen, in diesem Fall der "religiösen Hierarchien".
In Weiterführung der sozial- und kulturwissenschaftlichen Kartografieforschung hat sich seit Ende der 1990er Jahre zunächst in der englischsprachigen Sozial- und Kulturgeografie ein Forschungszusammenhang entwickelt, der den Blick in noch höherem Maße auf die Prozesse "vor und nach" der Karte lenkt – beyond the map. Diese Arbeiten beziehen viele Anregungen aus der sozialwissenschaftlichen Wissenschafts- und Technikforschung. Ins Blickfeld rücken hier die Praktiken, Konventionen und Techniken, mit denen Karten hergestellt und verwendet werden.
So hat der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour gezeigt,
Die sozialwissenschaftliche Wissenschafts- und Technikforschung stellt also eine konzeptionelle Perspektive zur Verfügung, die es ermöglicht herauszuarbeiten, wie die Praktiken, Techniken und Konventionen sowohl der traditionellen Print-Kartografie als auch der neueren digitalen Verarbeitung und Präsentation von Geoinformationen in der Welt wirksam werden und die Welt verändern.
Satellitengestützte Fernerkundung
Die Bilder der Erde, die im Zuge der Entwicklung von Luftfahrt und Fotografie zunächst von Heißluft-Ballons und Flugzeugen, im 20. Jahrhundert dann auch von Satelliten aufgenommen wurden, läuteten eine neue Ära der (Re-)Präsentation der Erdoberfläche ein.
Früh nutzten die westlichen Nationalstaaten die neuen Techniken und unterstützten deren Weiterentwicklung. So setzte beispielsweise die französische Armee bereits 1794 erstmals einen Aufklärungsballon ein. Während des Ersten Weltkrieges trieb das Militär die Entwicklung der Luftbildfotografie voran, die nach wie vor für alle Arten von Spionage eingesetzt wird. Luftbildfotografie eröffnete damit neue Erkundungsmöglichkeiten für technisch hochentwickelte Staaten und stellt bis heute eine Herausforderung für die Souveränität anderer Staaten dar.
Die Entwicklung der satellitengestützten Fernerkundung ab Mitte des 20. Jahrhunderts wurde zunächst vor allem von den Regierungen der USA und der Sowjetunion vorangetrieben. Der Start des ersten Satelliten "Sputnik 1" 1957 durch die Sowjetunion markierte den Beginn einer neuen Phase der Fernerkundung, da die Akzeptanz dieses Satelliten beziehungsweise das Ausbleiben eines Protests seitens der US-Regierung sowie anderer Regierungen die Grundlage für das Recht auf freien Überflug im Weltraum schuf – die sogenannte Open Sky Doctrine. Nur zwei Jahre später, 1959, schickte die CIA den ersten Spionagesatelliten ins Weltall.
Satellitengestützte Fernerkundung hat das Bild der Erde verändert: Erstens fordern die Bilder der gesamten, grenzenlosen Erdoberfläche das Konzept der territorialen Souveränität heraus.
Zweitens hat die Verfügbarkeit von Bildern aus dem Weltall Vorstellungen der Erde als endliche, aber grenzenlose Heimstätte der Menschheit befördert: Die von Satelliten und den Mondflügen aufgenommenen Bilder eines strahlend blauen Planeten vor der Dunkelheit des unendlichen Weltraums wurden zu einem wichtigen Symbol für transnational-globale Umweltbewegungen.
Nach dem Ende des Kalten Krieges beschleunigte sich die Verfügbarkeit von Satellitenbilddaten: Die Regierungen der USA und der Sowjetunion beziehungsweise Russlands gaben riesige Mengen von Daten zur zivilen Nutzung frei. Schrittweise hoben die USA Beschränkungen für die kommerzielle Satellitenindustrie auf. Es entwickelte sich eine Situation der zunehmenden wirtschaftlichen Konkurrenz der US-amerikanischen Anbieter mit Satellitenbildanbietern beispielsweise in Frankreich und Kanada.
Digitale Geografien: GIS, GPS und Geoweb
Seit den 1960er Jahren wurde die analoge Print-Kartografie rasch und umfassend von der digitalen Kartografie und schließlich von Geografischen Informationssystemen (GIS) verdrängt. Letztere ermöglichen es, Geodaten computergestützt zu erfassen, zu speichern, zu analysieren und zu präsentieren. Die Karte steht damit nicht länger im Mittelpunkt, sie wird zu einer Präsentationsform digitaler Geoinformationen.
Das US-Militär war auch ein wichtiger Akteur bei der Entwicklung einer weiteren soziotechnischen Innovation, welche grundlegend für die Transformation von Kartografie und weiterer Geoinformation im 21. Jahrhundert sein sollte: Das Navstar Global Positional System (GPS) ermöglicht elektronischen Empfängern weltweit, ihre Position in Länge- und Breitengrad mittels Funksignalen von Satelliten zu bestimmen. Es wurde seit 1970 als sogenannte Dual-use-Technologie für militärische und zivile Zwecke entwickelt und ist seit 1995 funktionsfähig. Bis 2000 wurde zwischen einem Signal mit hoher Genauigkeit für das US-Militär und einem öffentlichen Signal mit limitierter Genauigkeit differenziert. Mit der Freigabe des präzisen Signals ermöglichte die US-Regierung einen Boom neuer Navigationsdienste sowie die Entwicklung weiterer sogenannter location based services.
Auch die Ursprünge des Internet können unter anderem auf verschiedene Initiativen der US-Regierung in den 1960er Jahren zurückgeführt werden, die darauf abzielten, ein robustes und fehlerresistentes Computernetzwerk zu etablieren. Im Zuge der Zusammenführung mehrerer solcher Netzwerke und der Aufhebung von Restriktionen für deren kommerzielle Nutzung entwickelte sich in den 1990er Jahren das Netzwerk, das wir heute Internet nennen.
Die Techniken und Praktiken von GIS, die wachsende Verfügbarkeit digitaler Geodaten infolge der GPS-Technik und der Entwicklung einer kommerziellen Satellitenbildindustrie sowie die zunehmend einfache Nutzung des Internets über Desktop- und mobile Computer (Smartphones) sind die wichtigsten Bausteine für die Entwicklung des sogenannten Geoweb – und somit für die grundlegende Transformation von Geoinformation und kartografischer (Re-)Präsentation im digitalen Zeitalter.
Zunehmend wird im Geoweb geformt, was wir über Orte und Räume der Erde wissen und wie wir in der Welt agieren. Die Entwicklung des Geoweb wurde und wird in hohem Maße von Unternehmen bestimmt, die bis vor wenigen Jahren wie etwa Google oder TomTom keinen Bezug zu Geoinformation und Kartografie hatten oder noch überhaupt nicht existierten. Gleichzeitig ermöglicht der Kontext des Web 2.0 die Entwicklung von nichtkommerziellen, offenen Projekten wie OpenStreetMap und Wikimapia, in denen Tausende Freiwillige geografische Informationen erheben, organisieren und präsentieren – sogenannte volunteered geographic information.
Google, der sicherlich wichtigste Akteur des Geowebs, kaufte im Jahr 2004 das Start-up "Where2Technologies", das eine benutzerfreundliche Web-Oberfläche zur Präsentation geografischer Informationen geschaffen hatte. Google entwickelte die Software zu Google Maps weiter, das nach dem Start 2005 rasch zur meist genutzten digitalen Kartenplattform wurde.
Bereits wenige Monate nach dem Start von Google Maps wurde das Programm von einem kalifornischen Informatiker gehackt und genutzt, um Immobilienangebote in Kalifornien räumlich differenziert zu präsentieren. Google erkannte, dass die Zusammenführung der Google-Basiskarte mit allen möglichen Arten weiterer georeferenzierter Daten neue Dienstleistungen ermöglicht und viele neue Nutzerinnen und Nutzer zu Google führt. Rasch schuf das Unternehmen eine Schnittstelle, die solche Zusammenführungen erleichtert und auch Menschen ohne Programmier- oder Kartografieausbildung ermöglicht, sogenannte map mashups zu schaffen. Auch wenn die Kartendienste von Google derzeit zumindest für die nichtkommerzielle Nutzung kostenfrei verfügbar sind, bleiben die zugrunde liegenden Geodaten allerdings nicht zugänglich und im Besitz des Unternehmens.
Bei offenen Geoweb-Projekten wie dem besonders erfolgreichen OpenStreetMap-Projekt (OSM) sind diese Daten hingegen frei verfügbar. OSM präsentiert sich auf der eigenen Webseite als "Projekt mit dem Ziel, eine freie Weltkarte zu erschaffen" – vielfach wird OSM auch als "Wikipedia der Kartografie" bezeichnet. Gestartet wurde das Projekt ebenfalls 2004 durch einen britischen Informatikstudenten, der frustriert war von der restriktiven Lizenzpolitik des staatlichen britischen Kartografiedienstleisters Ordnance Survey. Gemeinsam mit weiteren Freiwilligen der OpenData-Bewegung in London schuf er die notwendige Infrastruktur zum Start des Projekts. Mapping parties in immer mehr Regionen brachten neue Freiwillige zu dem Projekt, die auf der Basis von selbst erhobenen GPS-tracks und Beobachtungen im Gelände Geodaten beitrugen.
Neue Kartografien – neue Geografien?
Die skizzierte Transformation von Geoinformation und kartografischer (Re-)Präsentation im digitalen Zeitalter wird vielfach mit den Begriffen "Neokartografie", volunteered geographic information sowie "Neogeografie" beschrieben. Welche Aspekte betonen diese Begriffe und inwiefern können sie sinnvoll voneinander unterschieden werden?
Interessanterweise ist Neokartografie dabei bislang der am wenigsten prominente Begriff. Erstens werden damit die Veränderung der Techniken kartografischer (Re-)Präsentation bezeichnet, insbesondere die zunehmende Dynamik in diesem Bereich: Karten werden zu einer volatilen Präsentation dynamischer Datenströme.
Der Begriff der volunteered geographic information (VGI) wurde zunächst von dem US-amerikanischen Geografen und GIS-Spezialisten Michael Frank Goodchild geprägt
Relativ weit verbreitet ist der Begriff der "Neogeografie", der allerdings sehr unterschiedlich verwendet wird. Vielfach synonym zu Neokartografie gebraucht,
Innerhalb der universitären Kartografie und Geografie sind die Begriffe der Neokartografie, VGI sowie Neogeografie zunächst zurückhaltend aufgegriffen worden. Aus Sorge um die Zukunft der Disziplin dominierten in der wissenschaftlichen Kartografie Abgrenzungen gegenüber neokartografischen Praktiken. In jüngerer Zeit setzt aber eine Interaktion zwischen Neokartografie und wissenschaftlicher Kartografie ein.
In der wissenschaftlichen Geografie hat sich bislang vor allem in der englischsprachigen Forschungslandschaft ein lebhafter Forschungs- und Diskussionszusammenhang entwickelt, der die soziotechnischen Hintergründe und Effekte neogeografischer Praktiken untersucht und reflektiert, und auf dem auch der folgende Ausblick aufbaut.
Ausblick: Neue Weltbilder im digitalen Zeitalter?
Welche Weltbilder und darüber hinaus welche Geografien entstehen also im digitalen Zeitalter? Anhand zweier Spannungsfelder und einer These lassen sich grundlegende Entwicklungen skizzieren.
Das erste Spannungsfeld liegt zwischen den Polen "Universalisierung von Geoinformation" versus "neue Fragmentierungen". Die neuzeitliche Kartografie hat das bis heute vorherrschende Weltbild der Erde als lückenloses Mosaik politischer Territorien geprägt.
Allerdings zeigen sich auch neue Fragmentierungen. So führen die ökonomischen Interessen privatwirtschaftlicher Geoweb-Dienstleister dazu, dass in ihren Online-Karten in erster Linie kommerzielle Angebote wie etwa Pizzerien, Anwaltskanzleien oder Fitnesscenter verzeichnet werden: Die Welt wird als eine große Shopping-Mall präsentiert. Nicht zuletzt gab Google 2013 mit der Einführung einer neuen Version von Google Maps die Idee einer universellen Weltkarte auf: Je nach Suchanfrage, den besuchten Orten, dem jeweiligen individuellen Verlauf bisheriger Suchanfragen und besuchter Orte, den Spracheinstellungen und der Lokalisierung des abrufenden Computers personalisiert Google die Inhalte der Karte. Der Grund liegt im Geschäftsmodell von Google: gezielte, also möglichst personalisierte Werbung.
Neben den ökonomischen Interessen führen aber auch national differenzierte geopolitische Interessen zu neuen Fragmentierungen: So unterscheidet Google seit 2014 beispielsweise drei kartografische Präsentationen der Halbinsel Krim. Für Computer mit IP-Adressen aus der Ukraine wird die Krim als Teil der Ukraine dargestellt, für IP-Adressen aus Russland ist die Ukraine durch eine nationale Grenze von der Ukraine abgetrennt und Teil Russlands, für alle anderen Internetnutzer zeigt Google eine gestrichelte Linie im Norden der Krim als umstrittene Grenze.
Das zweite Spannungsfeld liegt zwischen den Polen "Öffnung und Demokratisierung" sowie "neue Exklusionen". Insbesondere die Projekte der volunteered geographic information sind vielfach als "Öffnung" beziehungsweise "Demokratisierung" der Kartografie sowie der gesamten Geoinformation begrüßt worden:
Für den gesamten Bereich der Neokartografie und Neogeografie gilt, dass einerseits die Prozesse der Herstellung und Verarbeitung von Geoinformation in höherem Maße sichtbar werden, als dies in der traditionellen Print-Kartografie der Fall war. Andererseits wächst die Bedeutung von Code und Software für diese Prozesse und damit ein Bereich, dessen Funktionsweise und Entwicklung für die allermeisten Nutzer kaum einsichtig und verständlich ist.
Letztlich stellt sich die Frage, wie sich im digitalen Zeitalter das viel diskutierte Verhältnis zwischen "Karte" und "Territorium" gestaltet, das heißt zwischen räumlicher Wirklichkeit und (Re-)Präsentation. Es zeichnet sich ab, dass eine Karte nicht länger sinnvoll als Einzelmedium konzeptualisiert werden kann.