Die Kritik am Eurozentrismus der Geschichtsschreibung gehört heute bereits zum guten Ton. Seit den 1970er Jahren ist auch im "Westen" die Forderung nach einer "Überwindung des Eurozentrismus" und einer gleichberechtigten Einbeziehung der "Völker ohne Geschichte" nach und nach zu einem Bestandteil des Mainstreams geworden. In anderen Teilen der Welt, vor allem in kolonisierten Gesellschaften, ist diese Kritik wesentlich älter und geht bis in das 19. Jahrhundert zurück. In den vergangenen Jahrzehnten haben Ansätze wie die Transnationale Geschichte, die postcolonial studies und die Globalgeschichte dazu beigetragen, Wege zu einer nichteurozentrischen Geschichtsschreibung auszuloten.
Worin besteht der Eurozentrismus, und was ist daran so problematisch? In vielen Darstellungen werden zwei Ebenen vermischt, die sinnvollerweise auseinandergehalten werden sollten. Auf der einen Seite steht der Eurozentrismus als Sichtweise, als Deutungsmuster; auf der anderen Seite steht die Frage nach Europas Rolle in der Geschichte. Beide Aspekte sind natürlich eng miteinander verbunden, aber aus heuristischen Gründen ist es hilfreich, zwischen ihnen zu unterscheiden.
Eurozentrismus und Europazentriertheit
Als Perspektive erscheint der Eurozentrismus wiederum in unterschiedlichen Formen. Auch hier ist es hilfreich, die zwei wichtigsten Richtungen auseinanderzuhalten: Die erste bezieht sich auf die Idee von Europa als Ursprung des historischen Fortschritts, von Europa als Triebkraft der Moderne. Die zweite Richtung hat vor allem mit den Normen, den Begriffen und Narrativen zu tun, mit denen Historikerinnen und Historiker die Vergangenheit mit Bedeutung versehen – und zwar selbst dann, wenn von Europa gar nicht die Rede ist. Hier geht es also weniger um den historischen Prozess selbst, sondern um die Perspektive, mit der dieser Prozess in den Blick genommen wird.
Um mit der ersten Richtung des Eurozentrismus zu beginnen: Die Stilisierung des historischen Prozesses als von Europa dominiert hat der Historiker Robert Marks folgendermaßen zusammengefasst: "Die eurozentrische Weltsicht betrachtet Europa als den einzig aktiven Gestalter der Weltgeschichte, gewissermaßen als ihren ‚Urquell‘. Europa handelt, während der Rest der Welt gehorcht. Europa hat gestaltende Kraft, der Rest der Welt ist passiv. Europa macht Geschichte, der Rest der Welt besitzt keine, bis er mit Europa in Kontakt tritt. Europa ist das Zentrum, der Rest der Welt seine Peripherie. Nur Europäer sind in der Lage, Wandlungen oder Modernisierung einzuleiten, der Rest der Welt ist es nicht."
Lange Zeit war eine solche Sichtweise in der Weltgeschichtsschreibung ein gängiges Muster.
Dieses Bemühen um Inklusion zielt in letzter Instanz nicht nur auf geografische Gerechtigkeit, sondern darauf, das vorherrschende Narrativ der westlichen Dominanz zu hinterfragen und zu unterminieren. In der Tat hat die neuere Forschung deutlich gemacht, dass die teleologische Sicht älterer Darstellungen – der zufolge eine europäische Überlegenheit tief in der Weltgeschichte angelegt sei – nicht zu halten ist. Von einer europäisch-amerikanischen Hegemonie kann man vor dem frühen 19. Jahrhundert kaum sprechen. Die Entstehung der modernen Welt war das Ergebnis vielfältiger Interaktionen. Was lange Zeit als einzigartige europäische Errungenschaft gegolten hatte, beruhte häufig auf komplexen Austauschprozessen, zu denen Akteure in unterschiedlichen Regionen beigetragen hatten.
An dieser Stelle ist es sinnvoll, kurz auf das Verhältnis zwischen Eurozentrismus und Europazentriertheit einzugehen. Gewiss ist es wichtig, die ganze Bandbreite historischer Erfahrung in ihrer regionalen Vielfalt zu rekonstruieren. Aber zugleich besteht die Herausforderung darin, nicht ins andere Extrem zu verfallen und die Rolle von Machtstrukturen unter einem bunten Flickenteppich lokaler Geschichten verschwinden zu lassen. Die Überwindung des Eurozentrismus sollte nicht mit einer Marginalisierung Europas (und der Vereinigten Staaten) einhergehen. Wenn Historiker die neuere Weltgeschichtsschreibung dafür preisen, dass sie "ein besonders geeignetes Instrument ist, die Beiträge aller Völker zu der gemeinsamen Geschichte der Welt anzuerkennen", dann klingt das vor allem nach guten Absichten – und birgt zugleich die Gefahr, Machtstrukturen und politische Hierarchien zu vernachlässigen.
Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen der Betonung der Europazentriertheit einer historischen Situation und ihrer eurozentrischen Deutung: Zu sagen, dass die Industrialisierung sich zuerst in England ereignete, ist nicht eurozentrisch; anzunehmen, dass sie nur dort auftreten konnte, hingegen schon. Als viele Gesellschaften im 19. Jahrhundert damit begannen, nach Westeuropa und Nordamerika zu schauen, wenn es um Vorbilder für ein modernes Schulwesen ging, war das ein Ausdruck der Tatsache, dass das geopolitische Terrain sich zugunsten des Westens verändert hatte. Eurozentrisch wäre zu behaupten, dass moderne Institutionen nur im Westen hätten entstehen können und nicht anderswo. Auch wenn beide Dimensionen zusammenhingen, kann man doch die Evaluierung der historischen Rolle Europas – im Grunde eine empirische Frage – von dem Problem des Eurozentrismus in heuristischer Absicht trennen; das ist umso wichtiger, da eurozentrische Deutungsmuster häufig auch dann Verwendung finden, wenn es gar nicht um Europa oder den "Westen" geht.
Das bringt uns zurück zu der Frage des Eurozentrismus als Deutungsmuster und leitet zu einem zweiten Aspekt dieser Problematik über, dem begrifflichen Eurozentrismus. Die Schwierigkeiten, sich von der eurozentrischen Meistererzählung zu emanzipieren, sind besonders anregend von dem Historiker Dipesh Chakrabarty erörtert worden. Seine These lautet, dass "im akademischen Diskurs über Geschichte (…) ‚Europa‘ immer noch das souveräne, theoretische Subjekt aller Geschichten (ist), einschließlich derjenigen, die wir als ‚indisch‘, ‚chinesisch‘ oder ‚kenianisch‘ bezeichnen." All diese nationalen Geschichten seien "Variationen einer Meistererzählung", die in und für Europa entwickelt worden ist.
Im Kern liegt dies daran, dass historische Akteure seit dem 19. Jahrhundert – keineswegs nur in Europa – die europäische Geschichte zum Modell einer universalen Entwicklung erklärten. Diese Sicht wurde im begrifflichen Instrumentarium der modernen Sozialwissenschaften verankert und dadurch immer wieder reproduziert. Vorgeblich analytische Begriffe wie Nation, Revolution, Gesellschaft oder Fortschritt transformierten eine lokale (europäische) Erfahrung in eine universalistische Theoriesprache, welche die Interpretation der jeweils lokalen Vergangenheiten bereits vorstrukturiert. "Nur ‚Europa‘ (…) ist theoretisch (…) erkennbar; alle anderen Geschichten sind Gegenstand der empirischen Forschung, die einem theoretischen Skelett, welches substantiell ‚Europa‘ ist, Fleisch und Blut verleiht."
Eine Frage des Kontextes
Nun stellt der eurozentrische Blick, ganz allgemein gesprochen, lediglich eine Form der Positionalität dar. Eine solche Standortgebundenheit ist zunächst einmal nichts Ungewöhnliches, sondern spätestens seit dem Historismus im Prinzip ein integraler Bestandteil aller Theorien historischer Erkenntnis. Historiker sind geprägt von den Bedingungen ihrer Sozialisation und des Arbeitsumfelds, und Faktoren wie Nationalität, Herkunft, Alter, Religion, Geschlecht und so fort schlagen sich in Hintergrundannahmen, Bewertungen und Interpretationen nieder.
Zugleich sind auch Formen des Ethnozentrismus nichts Neues. Bezogenheit auf die Werte und Prämissen der eigenen Gesellschaft oder "Zivilisation" hat es zu allen Zeiten gegeben. Formal gesprochen ist daher auch der Eurozentrismus lediglich ein Ethnozentrismus unter vielen anderen. Seine Wirkung wurde allerdings dadurch verstärkt, dass er im Zuge des europäischen Imperialismus, der Ausbreitung kapitalistischer Produktionsweisen und schließlich der Verbreitung der modernen (europäischen) Sozialwissenschaften weltweite Verbreitung fand und Geltung beanspruchte.
Ein wichtiger Schritt, diese Hegemonie zu überwinden, wäre die Vervielfältigung der Perspektiven. So wie serbische und französische Historiker unterschiedliche Meinungen zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges haben können (was durchaus der Fall ist), so unterscheiden sich auch verschiedene Darstellungen der Welt. Die Bedeutung vieler Ereignisse – etwa des Sklavenhandels – verändert sich deutlich, wenn man von Angola oder Nigeria aus blickt, aus Brasilien oder Kuba, oder aus England oder Frankreich. Selbst das, was jeweils als "Welt" verstanden wird, ist keineswegs überall gleich. Die Anerkennung unterschiedlicher Perspektiven auf die globale Vergangenheit ermutigt dazu, eine Vielzahl historischer Akteure ernst zu nehmen – und beispielsweise Kolonialgeschichte nicht auf die Perspektive der Kolonisierenden zu reduzieren, Missionsgeschichte auf die Missionare oder die Studie von Grenzkonflikten auf nur eine Seite. Insgesamt wird es nötig sein, viele miteinander konkurrierende und sich zum Teil gegenseitig ausschließende Deutungen als legitim anzuerkennen.
Schließlich ist die Geschichtsschreibung – anders als die Naturwissenschaften – noch nicht zu einer einheitlichen, globalen Wissenschaft geworden. Sie bleibt stark von lokalen, regionalen und nationalen Kontexten, auch Leseerwartungen geprägt. Und angesichts der Nähe zu staatlichen Institutionen, dem Bildungssystem und der öffentlichen Erinnerung werden diese Faktoren auch weiterhin die Interpretation der Vergangenheit beeinflussen.
Wege aus dem Eurozentrismus
Als Reaktion und Gegenbewegung gegen einen vorherrschenden Eurozentrismus sind seit den 1990er Jahren verschiedene Vorschläge gemacht worden. Diese Diskussionen sind sehr facettenreich und heterogen, und sie weisen in unterschiedlichen Ländern und Wissenschaftssystemen auch andere Schwerpunktsetzungen auf. Ungeachtet dieser Vielfalt lassen sich jedoch drei prinzipielle Strategien unterscheiden.
Die erste Strategie – die Strategie der Inklusion – setzt darauf, Stimmen aus nichtwestlichen Gesellschaften, aus ehemals kolonisierten Regionen sowie aus dem globalen Süden stärker zur Geltung kommen zu lassen. Die Annahme dabei ist, dass zentrale politische und soziale Prozesse sozialer Ungleichheit, die in der herkömmlichen (europäischen) Sozialtheorie kaum vorkommen, in den betroffenen Regionen sehr wohl berücksichtigt werden. Während die in der Geschichtswissenschaft lange Zeit dominante Modernisierungstheorie etwa den Kolonialismus als Faktor weitgehend ausgeblendet hat, zeigen die Arbeiten aus ehemals kolonisierten Ländern, wie sich koloniale Strukturen auf Herrschaftsverhältnisse und den Staat, auf das soziale Gefüge, auf ethnische und religiöse Grenzziehungen oder auf die Alltagswelt ausgewirkt haben.
Die Strategie der Inklusion geht davon aus, dass theoretische Zugänge durch das empirische Material vor Ort "grundiert" und lokal geeicht werden müssen, dann aber durchaus in der Sprache der modernen Sozialwissenschaften formuliert werden können. Dieser Ansatz trägt sicherlich viel zu einer facettenreicheren Deutungslandschaft bei – auch wenn offen bleibt, ob Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem globalen Süden generell ein Korrektiv zu einer eurozentrischen Geschichtsschreibung darstellen, zumal viele dieser Historiker den lokalen Eliten angehören und in internationalen Institutionen ausgebildet worden sind.
"Zentrismen des Südens" oder das Comeback des Zivilisationskonzepts
Der zweite Ansatz ist viel radikaler und fordert eine fundamentale Dekolonisierung des Wissens sowie eine Rehabilitierung "indigener Epistemologien" ein. Statt der Vielfalt der Welt eine einheitliche (europäische) Begriffs- und Theoriesprache überzustülpen, zielen die Vertreterinnen und Vertreter dieser Strategie darauf, verschüttet geglaubte Kosmologien lokaler Gruppen wiederzubeleben und auf diese Weise alternative Lesarten der Vergangenheit und Visionen für die Zukunft zu entwickeln. Die europäischen Konzepte und Theorien werden dann als Instrumente der Unterwerfung diskreditiert und durch dezidiert nichtuniversalistische Gegenentwürfe und die Suche nach alternativen Formen der Moderne ersetzt.
So attraktiv die Suche nach alternativen kulturellen Ressourcen und Bedeutungsreservoirs ist, birgt sie zugleich die Gefahr, miteinander unvereinbare kulturelle Einheiten zu postulieren, die in der global vernetzten Gegenwart so kaum mehr existieren. Häufig wird dann die Formulierung kultureller Spezifik zu einer eigenen Form des "Zentrismus". In der Tat sind seit etwa 1990, seit der Konjunktur der Globalisierung und mit dem Ende des Kalten Krieges, zahlreiche alternative Ansprüche auf kognitive Zugänge zur Welt formuliert worden. Diese "Zentrismen des Südens", wie man sie nennen könnte, gehören zu den bemerkenswertesten Phänomenen der gegenwärtigen globalen Wissensproduktion.
Die zahlreichen Zentrismen decken ein weites Spektrum ab, von der Rekonstruktion lokaler Bedeutungswelten bis hin zum ausgewachsenen kulturellen Fundamentalismus. Häufig treten sie als epistemologische Befreiungsbewegung vom Eurozentrismus auf und formulieren kulturelle Unabhängigkeitserklärungen. In den meisten Gesellschaften stellen sie nicht unbedingt den Mainstream dar; gleichwohl finden sie in der Öffentlichkeit und zum Teil auch in der Wissenschaft Resonanz. Ihr verstärktes Auftreten kann auch als Teil einer Kommodifizierung von Differenz verstanden werden: als Verwandlung der Diversität in ein marktfähiges Gut. Dieser Trend wurde durch die Politik der Weltbank, die 1997 die Forschung zu indigenem Wissen offiziell zum Programm erhob, noch verstärkt. Und die Schockwellen des 11. September 2001 haben der Tendenz, separate kulturelle Sphären zu postulieren, weiteren Vorschub geleistet.
Die Lingua franca dieser neuen Zentrismen ist die Sprache der "Zivilisation". Das Zivilisationskonzept ist nicht neu und kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Aber seit den 1990er Jahren und dem Zusammenbruch der bipolaren Welt hat es ein erstaunliches Comeback erlebt. Man findet es gegenwärtig beinahe überall, wenn auch in jeweils lokalen Ausprägungen. In Teilen Afrikas, aber auch in den Vereinigten Staaten sind afrozentrische Diskurse sehr populär geworden, die das Bild einer homogenen afrikanischen Zivilisation zeichnen, die moralisch und kulturell dem Westen überlegen ist. In Südafrika hat die Regierung 2004 im Namen des Projekts "Afrikanische Renaissance" die Förderung indigenen Wissens beschlossen und institutionalisiert. Die Betonung regionaler Besonderheit und kultureller Spezifik findet sich in Lateinamerika etwa in Plädoyers für die Regeneration von Aymara- oder Maya-Wissen ebenso wie in Indien, im Nahen Osten oder in Südostasien.
Die wohl einflussreichste Version eines alternativen Zentrismus ist der Sinozentrismus. Der Hauptgrund dafür ist Chinas prominente Rolle auf der Weltbühne sowie die ökonomische und zum Teil auch politische Herausforderung, die der Aufstieg Chinas für die internationale Ordnung darstellt. Wie in anderen Zentrismen auch, gehen sinozentrische Perspektiven von einer kulturellen Substanz aus, die dem "Westen" entgegengesetzt ist (hier häufig der Konfuzianismus). Politisch relevant wurden diese Diskurse durch Schlagworte wie das der "asiatischen Werte", mit denen beispielsweise Mahathir Mohamad und Lee Kuan Yew, die Premierminister Malaysias und Singapurs, operierten.
Diese populären Diskurse finden inzwischen ihr akademisches Pendant im Comeback und der Institutionalisierung der "Chinastudien" (guoxue). Alle großen und prestigereichen Universitäten haben inzwischen Colleges und Forschungseinrichtungen für "Chinastudien" eingerichtet, während die gebildete Öffentlichkeit mit Büchern, Sonderheften, im Fernsehen übertragenen Vorträgen und Sommerschulen beschallt wird. Auf der einen Seite bezeugt dieser Trend eine verbreitete Nostalgie für die chinesische Geschichte und ihre Kultur in der Zeit vor der Revolution. Hinter der Faszination für die Taten und Leistungen vergangener Dynastien steht auf der anderen Seite aber die grundsätzliche Frage, inwiefern es möglich sein kann, chinesische Traditionen des Wissens, die von den modernen Wissenschaften verdrängt wurden, wieder zugänglich und fruchtbar zu machen.
Der Aufstieg Chinas hat aber nicht nur sinozentrische Perspektiven populär gemacht, sondern – ironischerweise – auch dem in die Defensive geratenen Eurozentrismus neues Leben eingehaucht. Das mag auf den ersten Blick angesichts der sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten heftigen Kritik an eurozentrischen Begriffen und Narrativen verwundern. Aber dessen ungeachtet erfreuen sich eurozentrische Deutungsmuster seit der Jahrtausendwende erneuter Beliebtheit. Insbesondere nach den Anschlägen des 11. September 2001, die dem Slogan vom "Kampf der Kulturen" neue Plausibilität verliehen, entsprach eine Reihe von Historikern der öffentlichen Nachfrage nach einer "westlichen" Identität mit Narrativen über die autonome, selbstgenerierte Entwicklung Europas.
Die weltweite Konjunktur des Zivilisationskonzepts bezieht einen Teil seiner Attraktivität aus dem Versprechen, einfache Antworten auf komplexe globale Herausforderungen zu liefern. Es ermöglicht eine Kritik an der angeblich bevorstehenden Homogenisierung der globalisierten Welt und an den Effekten globaler Migration und der Hegemonie der USA. Stattdessen postuliert es autonome kulturelle Sphären als Hort reiner Traditionen und Garanten einer jeweils besonderen, eigenständigen Entwicklung. Auch inhaltlich gibt es viele Gemeinsamkeiten. Die verschiedenen Formen des Zentrismus tragen weitgehend dieselben Kleider.
Die starke Vermehrung der zentristischen Diskurse ist häufig das Werk von Gruppen, die man als "nativistische Unternehmer" bezeichnen könnte – Mitglieder lokaler Eliten, die häufig eng mit den Institutionen des Staates in Verbindung stehen. Mit ihrer Beschwörung einer je indigenen Moderne intervenieren sie in Konflikte in den eigenen Gesellschaften, und das Beharren auf indigenen Kosmologien ist dann ein Argument in einer politischen Auseinandersetzung.
Zum Teil konkurrieren sie jedoch auch auf internationalem Parkett, in Auseinandersetzung mit Vertretern der Eliten in anderen Ländern. Dort erheben sie Ansprüche auf eine alternative Moderne, die nicht von der europäisch-amerikanischen Kultur abgeleitet ist, sondern als Produkt indigener Traditionen präsentiert wird. Die nativistischen Unternehmer operieren hier vor allem mit geopolitischem Machtinteresse und innerhalb von Strukturen eines globalen Marktes, in dem Ansprüche auf kulturelle Diversität prämiert werden – und reagieren weniger auf den Ruf der Traditionen, der aus der Vergangenheit zu ihnen schallt. In Lebensstil und Weltanschauung sind diese Eliten ihren Wettbewerbern in anderen Ländern häufig näher als den breiten Bevölkerungsgruppen, für die sie zu sprechen vorgeben – und erst recht näher als den Vorfahren, deren Traditionen sie vermeintlich aufrechterhalten. In vielen Fällen gleiten die Forderungen nach alternativen Wissensordnungen leicht in einen kulturellen Essenzialismus und in Identitätspolitik ab.
Positionalität frei von kulturellem Essenzialismus
Die Suche nach indigenen Epistemologien basiert auf einem kulturellen Verständnis von Vielfalt und Diversität. Aber viele dieser "Kulturen" sind infolge einer langen Geschichte der Austauschbeziehungen und der Einbindung in größere Prozesse gar nicht mehr zu rekonstruieren. Statt also nach rein "nigerianischen" und "vietnamesischen" Stimmen zu fahnden, müsste es darum gehen, die Machtbeziehungen zu untersuchen, die sich auf die jeweiligen Positionierungen ausgewirkt haben. Dies ist der Punkt, an dem die dritte Strategie der Hinterfragung des Eurozentrismus ansetzt. Sie beruht darauf, an Positionalität festzuhalten, ohne zugleich in kulturelle Essenzialismen zu verfallen.
Die Ethnologen Jean und John Comaroff gehören zu denjenigen, die die Erfahrungen und strukturellen Ungleichheiten im globalen Süden zum Ausgangspunkt nehmen, um alternative theoretische Entwürfe auszuloten. Ihr Konzept der "Theory from the South" basiert dabei jedoch nicht auf einer Verabsolutierung kultureller Differenz. Die Comaroffs beharren darauf, dass es bei ihrem Projekt "nicht um die Theorien von Menschen geht, die ganz oder zum Teil aus dem Süden kommen (…) vielmehr geht es um den Effekt des Südens selbst auf die Theorie."
Das gilt umso mehr, als die Geschichte der Welt – wie überhaupt wissenschaftliche Texte – in erster Linie von Mitgliedern der intellektuellen und urbanen Mittelschichten verfasst werden. Es wäre daher irreführend anzunehmen, dass zivilisatorische oder nationale Besonderheiten das zentrale Unterscheidungskriterium darstellen. Der einflussreiche Kulturdiskurs der Gegenwart suggeriert, dass Ungleichheit und konkurrierende Positionen in der globalisierten Welt vor allem auf nationale oder gar kulturelle Differenzen zurückgeführt werden könnten. Eine solche Annahme verschleiert die materiellen und strukturellen Faktoren, die die globale politische Ökonomie heute dominieren.