Neues vom Gottes-Teilchen" titelte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" im Juni 2014, nachdem das Forschungszentrum CERN wieder neue Daten aus der Elementarteilchenphysik veröffentlicht hatte.
Generell ist in Deutschland wie auch andernorts das Einvernehmen groß darüber, dass Wissenschaft und Religion zwei substanziell unterschiedliche Weltbilder zugrunde liegen: Religion basiert auf Glauben, Irrationalität und Unsicherheit, Wissenschaft auf Wissen, Rationalität und sicheren Belegen. Im Rahmen eines Interviews hat eine Stammzellforscherin das Verhältnis von Wissenschaft und Religion für sich so auf den Punkt gebracht: "Als Wissenschaftler kann man ja nicht an alles glauben, was die Kirche einem erzählt."
Sei es im Einvernehmen oder im offenen Konflikt: Wissenschaft und Religion scheinen auf zwei nicht zu vereinbarenden oder jedenfalls zueinander in Spannung stehenden Weltbildern zu fußen. Woher kommt diese klare Einschätzung und was ist davon zu halten? Dieser Frage widme ich mich zunächst historisch, dann konzeptionell und schließlich mit Blick auf aktuelle empirische Beispiele.
Konflikterzählungen
Einer der prominentesten Erzähler zum Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion war sicherlich der französische Philosoph und häufig als Gründungsvater der Soziologie betitelte Auguste Comte (1798–1857). Nach seinem "Dreistadiengesetz" durchlaufen Individuen sowie die Menschheit als Ganzes eine Fortschrittsentwicklung vom theologischen über das metaphysische zum positiven Stadium. Anstatt metaphysische Ursachen für (zunächst) Unerklärbares anzunehmen, geht für die positive wissenschaftliche Methode "ihre wissenschaftliche Wirksamkeit (…) stets ausschließlich aus ihrer mittelbaren oder unmittelbaren Übereinstimmung mit den beobachteten Phänomenen hervor".
Comtes Philosophie ist zugleich politisches Programm. Seine "Rede über den Geist des Positivismus" enthält die zu dieser Zeit üblichen Rassismen, wenn er sich etwa darüber auslässt, welche der "drei großen Rassen" in welchem Stadium verharren.
Der Weg in diese säkulare Religion wurde nicht von allen Positivismus-Anhängern mitgegangen. Inhaltlich aber war die Mission überaus erfolgreich: Wer fortan in der Wissenschaft ernst genommen werden wollte, musste sich an positivistischen Prämissen orientieren – und sich gegenüber religiösen Bekenntnissen eindeutig abgrenzen. Der Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion ist zu einem Kontinuum in der Wissenschaftsgeschichte geworden. 1873 veröffentlichte der Philosoph und Naturwissenschaftler John William Draper sein viel beachtetes Werk "History of the Conflict between Religion and Science" mit der Kernthese, dass Wissenschaft und Religion zwangsläufig im Konflikt zueinander stehen müssen, denn "(…) faith is in its nature unchangeable, stationary; Science is in its nature progressive".
Historisch wurden die Konflikterzählungen inzwischen vielfältig infrage gestellt. Insbesondere die Interpretationen der sogenannten wissenschaftlichen Revolution haben sich verändert – der Zeit also von etwa 1500 bis 1700, die Autoren wie dem zitierten Draper als Inbegriff des Siegeszuges der modernen Wissenschaft über die Religion galten. Aktuellere historische Forschung stellt heraus, wie komplex gerade in dieser Zeit die Interaktionen zwischen Wissenschaft und Religion sowohl institutionell als auch für die individuellen Wissenschaftler waren. Ein Blick ins Innere der Institutionen zeigt etwa, dass Galileo Galilei durchaus auch innerhalb der katholischen Kirche Fürsprecher und Bewunderer hatte, nicht zuletzt den Kardinal Maffeo Barberini und späteren Papst Urban VIII selbst.
Die Verhältnisse waren also komplexer, als viele Historikerinnen und Historiker wohl auch in der Euphorie des erstarkenden Positivismus zunächst angenommen haben. Aber wo stehen wir heute? Offensichtlich hat Comte mit seiner These von der Ablösung der Religion durch die Wissenschaft nicht Recht behalten. Alltagsbeobachtungen wie auch zahlreiche Studien zeigen, dass die Bedeutung von Religion auch in modernen Gesellschaften weiterhin groß ist. Dies gilt allerdings ebenso für die Wissenschaft – sie wird vielfach als der entscheidende Wachstumsmotor in modernen "Wissensgesellschaften" beschrieben. Abgelöst wurde also weder das eine noch das andere. Aber was bedeutet das? Was genau steht sich da eigentlich gegenüber mit Religion auf der einen und Wissenschaft auf der anderen Seite?
Definitionssache Religion
"Als Wissenschaftler kann man ja nicht an alles glauben, was die Kirche einem erzählt." Diese eingangs bereits zitierte Äußerung ist eine Antwort auf die Frage: "Würden Sie sich selbst als religiös beschreiben?" In der Reaktion der interviewten Stammzellforscherin spiegelt sich eine spontane Definition von Religiosität: Es geht um den Glauben an das, "was die Kirche einem erzählt". Religion ist hier erstens eine Institution und zweitens eine solche, die Wahrheitsansprüche vertritt. Diese Religionsdefinition liegt wohl auch den meisten Auseinandersetzungen zugrunde, in denen aktuell öffentlich über das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Religion gestritten wird. So gilt auch der Kampf der Evolutionisten in den angelsächsischen Ländern den religiösen Organisationen und ihrem Anspruch, Wahrheiten über die Verfasstheit der Welt zu kennen. Solchen Ansprüchen muss die Forscherin schon qua Identität entgegenstehen: Als Wissenschaftlerin kann sie solchen Erzählungen gar nicht glauben, schließlich ist es ihr Beruf, die Naturgesetze zu erforschen, die die Verfasstheit der Welt erklären können.
"Da ist schon so ein bisschen was, an das ich glaube", antwortet sie weiter, "da ist mit Sicherheit irgendwas, aber ich denke, dass das vielleicht auch eher so etwas ist, an dem man in schlechten Zeiten gerne mal dran festhält." Die Befragte unterscheidet hier also zwischen unterschiedlichen Inhalten, die mit Religiosität gemeint sein können. Religion als institutionalisierten Wahrheitsanspruch lehnt sie ab, den Glauben an "irgendetwas", das "in schlechten Zeiten" möglicherweise Halt gibt, kann sie für sich aber als sinnvoll akzeptieren. Damit nimmt sie eine Differenzierung vor, die sich auf zahlreiche religionssoziologische Autorinnen und Autoren beziehen kann.
Religion zu definieren ist kompliziert, weil das Wort für unterschiedliche Religionen in unterschiedlichen Kontexten Unterschiedliches bedeuten kann. So wird auch in der Religionssoziologie nicht mit einem einheitlichen Begriff dessen gearbeitet, was Religion substanziell ausmacht. Die Forschung ist vielmehr vor allem daran interessiert, welche Funktionen Religion in unterschiedlichen Gesellschaften erfüllt. Der US-amerikanische Soziologe Charles Y. Glock hat schon in den 1950er Jahren eine ideologische, eine ritualistische, eine erfahrungsbezogene, eine intellektuelle und eine handlungspraktische Dimension von Religion unterschieden.
Mit einer anderen Definition lässt sich Religion auch als Mittel zur Krisenbewältigung deuten. Der deutsche Soziologe Ulrich Oevermann sieht ihre Funktion darin, die menschliche Fundamentalkrise im Sinne eines Bewährungsproblems zu bearbeiten.
Religion und Wissenschaft müssen sich also, je nach Lesart, gar nicht in die Quere kommen. Und dies ist auch die gängige Auffassung in den westlichen Sozialwissenschaften. Der deutsche Soziologe und Nationalökonom Max Weber (1864–1920) hat in den 1920er Jahren die dazugehörige differenzierungstheoretische Großthese angelegt: Religion und Wissenschaft hat er als komplementäre Wertsphären konzipiert; Religion wäre demnach für Fragen des Sinns in Form außerweltlicher Erlösung zuständig, Wissenschaft auf die Erforschung des innerweltlich Erkennbaren spezialisiert.
Definitionssache Wissenschaft
Auffällig ist nun an dieser Auffassung von Religion und Wissenschaft als trennbare Welten, dass der spezifische Gehalt von Wissenschaft praktisch nicht thematisiert wird. Auffällig ist dies, weil ansonsten die gängige Idee von Wissenschaft als rein rationale, objektive Wahrheitssuche längst vielfach infrage gestellt wurde. Die Wissenschaftssoziologie hat es sich gerade zur Aufgabe gemacht, die soziale Konstruiertheit von wissenschaftlichem Wissen herauszustellen. Wissenschaftliche Ergebnisse werden hier als das Produkt eines sozialen Prozesses angenommen und nicht als substanziell für immer und überall gültige Fakten. Mit dieser Grundannahme ist nichts darüber ausgesagt, ob diese Ergebnisse richtig oder falsch sind. Sie betont "nur", dass jeweils raum-zeitlich besondere soziale Bedingungen einen Einfluss darauf haben, warum aus der unendlichen Vielfalt möglicher Fragestellungen, Hypothesen und Ergebnisinterpretationen genau diese oder jene ausgewählt wurden. Mit dieser Perspektive liegt es nun nahe, auch religiöse Weltbilder – oder breiter: eine spezifische religionskulturelle Umgebung – als beeinflussende soziale Bedingungen anzunehmen.
Öffnet man außerdem die black box wissenschaftlicher Wissensproduktion, dann stößt man auch auf erstaunliche Parallelen zwischen Wissenschaft und Religion. Tatsächlich ist nämlich dieser Produktionsprozess ebenfalls in erster Linie ein Umgang mit permanenter Unsicherheit. Schon der polnische Naturwissenschaftler und Erkenntnistheoretiker Ludwik Fleck (1896–1961) hat eindrücklich beschrieben, wie sehr die gemeinschaftlichen Rituale sogenannter wissenschaftlicher Denkkollektive denen religiöser Gemeinschaften ähneln.
Sind Wissenschaft und Religion am Ende dann also ein und dasselbe? Auch dafür mag es je nach Definition sinnvolle Argumente geben. Ich beziehe mich hier lieber auf eine Unterscheidung des französischen Wissenschaftssoziologen Bruno Latour, der Wissenschaft und Religion als unterschiedliche Kommunikationsmodelle charakterisiert.
Eine Nähe von Wissenschaft und Religion lässt sich schließlich auch aus funktionalistischer Perspektive herleiten. Je nach Perspektive können beide ähnliche Funktionen in Gesellschaften erfüllen. So kann auch die Wissenschaft dabei helfen, das oben aufgeführte, von Oevermann so bezeichnete Bewährungsproblem zu bearbeiten. Mit wissenschaftlichen Experimenten können menschliche Grenzen überwunden werden – man könnte auch sagen, Endlichkeit transzendiert werden. Wissenschaft wird dann zu einem neuen Heilsversprechen.
Wissenschaft und Religion voneinander zu trennen ist also nicht so einfach und selbstverständlich, wie manche Debatten es nahelegen. Das gilt sowohl für den Entstehungsprozess, also die Produktion von wissenschaftlichem Wissen, als auch für dessen gesellschaftliche Akzeptanz. Ich will dies an einigen empirischen Beispielen weiter illustrieren.
Wissensproduktion und Ethik
Mit Blick auf die Produktionsseite wissenschaftlichen Wissens geht es um die Frage, ob und inwiefern die religionskulturelle Umgebung einer Forschungsarbeit deren Fortgang beeinflussen kann. Dieser Frage hat sich der US-amerikanische Soziologe Robert K. Merton bereits in den 1970er Jahren gewidmet. Er beschreibt einen engen Zusammenhang zwischen dem Puritanismus im England des 17. Jahrhunderts und der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften.
Konflikte um die Grenzen wissenschaftlichen Fortschritts finden wir heute insbesondere im Feld der Lebenswissenschaften. In Debatten um das Klonen von Menschen, um die Forschung an embryonalen Stammzellen oder in jüngerer Zeit um die Entwicklung von Mensch-Tier-Mischwesen
Akzeptanzkonflikte
Wie sich auf der einen Seite die Produktion wissenschaftlichen Wissens nicht einfach losgelöst von der religionskulturellen Umgebung denken lässt, so ist auf der anderen Seite auch die gesellschaftliche Akzeptanz wissenschaftlicher Ergebnisse in diese Umgebung eingebettet. Die Frage ist hier, was und wem warum geglaubt wird. Oder sozialwissenschaftlich ausgedrückt: Welches Wissen erhält unter welchen Bedingungen Akzeptanz?
Dass wissenschaftliches Wissen nicht unter allen Bedingungen unangefochten Autorität beanspruchen kann, wurde bereits mit Hinweis auf den Streit zwischen Kreationisten und Evolutionisten angedeutet. Regional war dieser Streit zunächst auf die USA und Großbritannien beschränkt und hat dann eine Auseinandersetzung zwischen islamischen und christlichen Kreationisten nach sich gezogen.
Dass diese Debatten in Deutschland kaum geführt werden, bedeutet auch hier nicht, dass wissenschaftliche Wahrheitsangebote stets unangefochten Autorität beanspruchen könnten. Als Beispiel sei etwa auf die auch in Deutschland steigende Popularität von Alternativmedizin wie beispielsweise Ayurveda hingewiesen. Zunehmend viele Patientinnen und Patienten ziehen offenbar (jedenfalls in bestimmten Situationen) eine sich auf religiöse Traditionen berufende Heilslehre dem rein schulmedizinischen, auf wissenschaftlicher Methode basierenden Wissen vor – Medizin als "spirituelles Sinnangebot".
Wissenschaftliche und religiöse Wahrheitsangebote konkurrieren miteinander – und sind nicht immer klar voneinander zu trennen. Dazu ein anderes aktuelles Beispiel: Unter dem Titel "Transhumanismus" organisiert sich in den vergangenen rund 15 Jahren eine Bewegung, die nun in erste Parteigründungen in den USA und auch in Deutschland mündet. Erklärtes Ziel der Bewegung ist es, die biologisch gegebenen Begrenztheiten des Menschen durch die Nutzung von Wissenschaft und Technik zu überwinden – und den Menschen damit schließlich unsterblich zu machen. Solche Ideen sind als Science Fiction nicht neu. Dass sie in jüngerer Zeit zunehmend neue Anhängerinnen und Anhänger finden, hängt wesentlich mit wissenschaftlichen Entwicklungen zusammen. Raymond Kurzweil, ein Kopf der Bewegung und leitender Entwickler bei Google, hat seine futuristischen Szenarien zur Abschaffung des Todes vor allem auf Entwicklungen in der Computertechnologie gestützt.
Was ist das für eine Bewegung? Schaut man auf ihre Webseiten und Texte, dann drängen sich schnell Parallelen zu frühen positivistischen Ideen auf: Wissenschaft bietet Heilsvisionen, die offenbar in bestimmten Kontexten Akzeptanz finden – der Transhumanismus als neue "Menschheitsreligion". Protagonisten beschreiben ihre Ideen selbst als eine Philosophie für Atheisten – ganz im Sinne Oevermanns hilft hier der Glaube an die Wissenschaft dabei, das menschliche Bewährungsproblem zu bearbeiten.
Gleichzeitig macht dieses Beispiel einmal mehr deutlich, wie Wahrheitsansprüche eingebettet sind in konkrete Macht- und Interessenkonstellationen. Dies gilt für Wahrheitsansprüche von religiösen Organisationen, aber nicht weniger für Wahrheitsansprüche der Wissenschaft. Einflussreiche Teile der Transhumanismus-Bewegung sind eng verknüpft mit Unternehmensnetzwerken im Silicon Valley, die Heilssuche von Transhumanisten ist verbunden mit lukrativer Produktentwicklung.
Ausblick
Wissenschaft und Religion sind historisch enger miteinander verknüpft, als das gängige Narrativ nahelegt. Je nach Definitionsperspektive sind beide Bereiche zudem theoretisch nur schwer eindeutig voneinander zu unterscheiden. Die Produktion wissenschaftlichen Wissens ist stets in eine soziokulturelle und so auch religionskulturelle Umgebung eingebettet. Welche Wahrheitsangebote gesellschaftlich akzeptiert werden, hängt ebenfalls von dieser Umgebung ab. Für die Forschung heißt dies umgekehrt, dass empirische Analysen zum Verhältnis zwischen Wissenschaft und Religion zentrale Erkenntnisse über die normativen Grundlagen in modernen Gesellschaften versprechen.
Wie sind religiöse Organisationen in die Regulierung von Forschung eingebunden? Welche Rolle spielen religiöse Argumente in öffentlichen Debatten zu Forschung und Technik? Was ist Glauben und was ist Wissen im Forschungsprozess? International vergleichende Analysen zu Fragen wie diesen können Säkularisierungsthesen neu auf den Prüfstand stellen. Das Thema ist im Rahmen von Säkularisierungstheorien der vergangenen Jahrzehnte nämlich aus dem Blickfeld geraten – wohl auch eine Konsequenz der erfolgreichen Erzählung von getrennten Welten. Es ist an der Zeit für eine umfassende Neubetrachtung.