Seit Monaten hetzen im gesamten Bundesgebiet Neonazis und neonazistisch unterwanderte Bürgerinitiativen gegen die Unterbringung von Geflüchteten – in Dörfern ebenso wie in Kleinstädten und Städten wie Berlin oder Dortmund. Die Angebote, die organisierte neonazistische Strukturen dabei für Jugendliche und junge Erwachsene bereithalten, sind vielfältig und überall präsent: Insbesondere die zahllosen Facebook-Gruppen und Websites, über die rassistische Parolen bis hin zu offenen Aufforderungen zu Mord und Totschlag an Flüchtlingen und politischen Gegnern verbreitet werden, bieten einen niedrigschwelligen Einstieg. Häufig gehen damit Mobilisierungen zu Aufmärschen und Protesten in der "realen Welt" einher.
Klaus-Jürgen Winter (Name geändert), der als Pädagoge in einem Brennpunktbezirk einer Großstadt im Osten Deutschlands vor allem mit männlichen Jugendlichen zwischen 12 und 16 Jahren arbeitet, hat das "neue Anziehungspotenzial" der Neonazis, wie er es nennt, gerade erst an den Jugendlichen in seiner offenen Einrichtung beobachten müssen. Winter und sein Team waren sich sicher, dass die vor allem männlichen Teenager, die den offenen Jugendtreff eines freien Trägers besuchen, "wenn überhaupt, dann auf der Seite derer zu finden sein würden, die sich im Bezirk für Flüchtlinge engagieren".
Dennoch ist Klaus-Jürgen Winter davon überzeugt, trotz dieser überraschenden Entwicklung innerhalb einer vorher eher "ganz normal schwierigen" Gruppe in mehrfacher Hinsicht Glück zu haben: Der Träger des Treffpunkts habe dem Team schnell Unterstützung in Form von Fortbildungen und Supervision angeboten. Und vor allem: "An unserer Entscheidung, klar Position gegen die rassistischen Äußerungen der Jugendlichen zu beziehen und NPD-Kadern Hausverbot zu erteilen, rüttelt hier niemand." Kolleginnen und Kollegen in anderen Jugendeinrichtungen im Bezirk, die mit ähnlichen Entwicklungen konfrontiert seien, fühlten sich hingegen "allzu oft alleine gelassen mit einer neuen rechten Welle, die sich eben auch in der Jugendarbeit bemerkbar macht".
"Über die Rolle der Sozialarbeit spricht kaum jemand"
Auch Hagen Ludwig, der als Sozialarbeiter schon Mitte der 1990er Jahre in Berlin-Treptow mit einer schnell wachsenden extrem rechten Jugendclique konfrontiert war, betont: "Eine Grundfrage bei akzeptierender Arbeit mit Rechten muss sich jede Pädagogin und jeder Pädagoge gleich am Anfang stellen: Inwieweit bin ich denen gewachsen? Kann ich überhaupt unterscheiden, wer Mitläufer und wer Kader ist? Und bin ich denen inhaltlich überhaupt gewachsen? Denn wenn ich nicht darauf vorbereitet bin, dann können die einen auch argumentativ schnell an die Wand reden." Zudem, so Ludwig, sei es wichtig, "diejenigen, die Verbindungen in die Szene haben, gezielt anzusprechen und ihnen zu zeigen, dass man weiß, wo sie sich bewegen." Er könne allen Kollegen und Kolleginnen nur raten, "Kader und Strippenzieher" aus der eigenen Einrichtung herauszuhalten.
Ludwig weiß, wovon er spricht: Ein Besucher seiner Einrichtung, ein bekennender Neonazi, verübte Ende der 1990er Jahre einen Brandanschlag auf einen Treffpunkt alternativer Jugendlicher, bei dem nur durch glückliche Zufälle niemand zu Schaden kam. "Man darf die Entschlossenheit und die Militanz von organisierten Kadern einfach nicht unterschätzen – auch und gerade, wenn sie in den offenen Jugendtreffs wortgewandt und immer an der Grenze des Erlaubten auftreten." Und noch etwas ist ihm wichtig: "In den letzten Jahren war ja immer viel die Rede davon, dass Polizei und Verfassungsschutz die Konsequenzen aus der Mordserie des ‚Nationalsozialistischen Untergrunds‘ ziehen müssen. Über die Rolle der Sozialarbeit und Jugendtreffs in diesem Zusammenhang spricht aber kaum jemand."
Albert Scherr, der als Soziologe und Sozialarbeitswissenschaftler an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg im Breisgau seit fast zwei Jahrzehnten die Entwicklungen in der pädagogischen Arbeit mit rechtsextremen Jugendlichen begleitet, betont: "Eine angemessene fachliche Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex findet in der Sozialen Arbeit bislang nicht statt." Er vermutet die Gründe dafür zum einen in einer "Gewöhnung innerhalb der Sozialen Arbeit daran, dass Rechtsextremismus zur gesellschaftlichen Normalität gehört". Zum anderen werde die fachliche Auseinandersetzung über, der fachliche Streit um, aber auch die Weiterentwicklung von entsprechenden Konzepten von Sozialarbeit mit rechtsextremen, aber auch rechts-affinen Jugendlichen und jungen Erwachsenen kaum noch offensiv und öffentlich geführt. Und nicht zuletzt müsse die politische Bildung insgesamt in der Aus- und Fortbildung von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern gestärkt werden, damit die Fachkräfte befähigt würden, sich als gesellschaftspolitische Akteure zu begreifen.
Barbara Schäuble, Professorin an der Alice Salomon Hochschule in Berlin, spricht im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex von einer "Leerstelle in der Aus- und Fortbildung von Sozialarbeitern und Pädagogen". Weil die Studierenden ihres Seminars trotz der medialen Berichterstattung wenig Wissen über die rassistische Mordserie des NSU hatten und es "kaum glauben konnten, dass neonazistische Gewalt über Jahre hinweg ungeahndet bleiben konnte", organisierte Schäuble gemeinsam mit einer Kollegin und einem Studenten im Rahmen eines Seminars im Sommer 2015 einen Besuch beim Prozess gegen Beate Zschäpe und ihre Mitangeklagten vor dem Oberlandesgericht München.
Auch Josefine Heusinger, die an der Hochschule Magdeburg im Frühjahr 2015 eine gut besuchte Vorlesungsreihe unter dem Motto "Von der Mitte zum braunen Rand" initiiert hatte, hat bei ihren Studierenden großes Interesse an einer fundierten Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus im Berufsfeld der Sozialen Arbeit festgestellt. Dass die Vorlesungsreihe so breit angenommen wurde, habe ihr "nicht nur deutlich vor Augen geführt, wie viele Berührungspunkte die Studierenden mit dem Thema Rechtsextremismus haben – beispielsweise in ihrem familiären oder sozialen Umfeld". Vielmehr sei deutlich geworden, dass es sich beim Thema Rechtsextremismus auch um eine Querschnittsaufgabe für die Lehrenden an der Hochschule handele. Schließlich kämen Sozialarbeiter und -pädagoginnen – unabhängig davon ob sie für freie Träger oder Behörden arbeiteten – vielerorts mit (potenziellen) Opfern und Täterinnen und Tätern rechter und rassistischer Gewalt und Diskriminierung in Berührung.
Die Professorin für Grundlagen und Handlungstheorien der Sozialen Arbeit betont, dazu gehöre auch, dass Sozialarbeiterinnen und -arbeiter und Studierende der Sozialen Arbeit sich mit dem NSU und seiner Entstehungsgeschichte beschäftigen. Denn es bestehe die Gefahr, den NSU und die in dessen Netzwerk handelnden Personen – seien es Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe als das mutmaßliche Kern-Trio oder deren polizeibekannte Unterstützer und Helferinnen aus Thüringen und Sachsen – als etwas "Außergewöhnliches" zu betrachten und davon auszugehen, dass eine Wiederholung unmöglich sei. Dabei werde aber ein entscheidender Aspekt ausgeblendet: die weit verbreiteten rassistischen Einstellungen, als deren Vollstrecker sich die Aktivistinnen und Aktivisten des NSU fühlen konnten.
NSU-Komplex als Fallbeispiel
Barbara Schäuble verweist darauf, dass es in der Aus- und Fortbildung von Sozialarbeitern gängige Praxis sei, im Sinne lernender Organisationen mit sogenannten Worst-Case-Fallbeispielen zu arbeiten, etwa wenn es um Themen wie Kindeswohlgefährdung bei Kindern und Jugendlichen ginge. Mit Blick auf den NSU-Komplex ist die Professorin davon überzeugt, dass es anhand von Primär- und Sekundärquellen möglich ist, ein ausdifferenziertes Praxisszenario zu zentralen Fragen der Arbeit mit rechtsextremen Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie der Gemeinwesenarbeit gegen Rassismus und Rechtsextremismus zu entwickeln. Zu den wichtigsten Quellen gehören etwa die Fernsehinterviews mit Sozialarbeitern und Streetworkern wie Thomas "Kaktus" Grund aus Jena, der in den frühen 1990er Jahren mit den Besuchern des Winzerla-Jugendclubs arbeitete, in dem auch Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe ein- und ausgingen, oder die Anhörungen von Sachverständigen zur Rolle der Jugendarbeit in den 1990er Jahren in den NSU-Untersuchungsausschüssen der Landtage Thüringen und Sachsen.
Tatsächlich werden in den Abschlussberichten des Thüringer Untersuchungsausschusses "Rechtsterrorismus und Behördenhandeln" und des Sächsischen Untersuchungsausschusses zwei zentrale Aspekte deutlich. Erstens: Der Streit über die Konsequenzen und Schlussfolgerungen aus der "akzeptierenden Jugendsozialarbeit" mit rechtsextremen Jugendlichen und jungen Erwachsenen dauert bis heute an. Von 1992 bis 1996 wurden unter anderem im Rahmen des "Aktionsprogramms gegen Aggression und Gewalt" (AgAG) in Thüringen und Sachsen drei Dutzend Projekte der Jugendsozialarbeit aus Bundesmitteln zusätzlich gefördert,
Fernsehbeiträge zum NSU zeigen immer wieder Bilder eines für die Nachwendezeit bis zum Ende der 1990er Jahre in den ostdeutschen Bundesländern vertraut wirkenden Jugendclubszenarios: eine sanierungsbedürftige, mit Graffiti überzogene Baracke und inmitten von ganz "normalen" Jugendlichen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im "klassischen" Neonazi-Outfit mit Glatze und Bomberjacke.
Der Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss hat sich als bislang einziger parlamentarischer Untersuchungsausschuss auch mit der Rolle der akzeptierenden Jugendsozialarbeit mit rechtsextremen und neonazistischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen bei der Entstehung des NSU-Netzwerks auseinandergesetzt und eine Reihe von Sachverständigen und Zeugen dazu gehört. Experten wie der Jenaer Soziologe Matthias Quent kritisierten vor dem Untersuchungsausschuss, dass mithilfe staatlicher Mittel – insbesondere durch das AgAG-Programm – nicht nur Anlaufpunkte für rechtsgerichtete Jugendliche geschaffen, sondern auch rechtsextreme Strukturen mit aufgebaut worden seien.
Auch das neonazistische Helferinnen- und Helfernetzwerk, welches das untergetauchte NSU-Trio Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe über zwei Jahre lang in Wohnungen in Chemnitz unterbrachte und mit Ausweispapieren und Geld unterstützte, hatte sich in dem kommunalen Jugendtreff "Piccolo" im Heckert-Viertel in Chemnitz zusammengefunden.
Der ehemalige Sozialarbeiter des "Piccolo" berichtet, dass dem Team die "Organisierung" von Jugendlichen des Clubs in Vereinigungen wie Blood & Honour, die 88er, Hoonara und Junge Nationalsozialisten durch informelle Quellen schon damals bekannt gewesen sei. Im "Beziehungsverhältnis" zwischen Jugendlichen und Sozialarbeitern seien aber keine Informationen zu den Untergrundnetzwerken geflossen, vielmehr seien die Sozialarbeiter von den Jugendlichen eher als "Sozialfuzzies" wahrgenommen worden. Im Rückblick, sagt der ehemalige Sozialpädagoge, sei das Konzept der offenen Kinder- und Jugendarbeit nur "bedingt tauglich gewesen für die Arbeit mit den ‚Rechten‘ und eher anwendbar für die ‚Normalos‘ und die Kindergruppe", die es auch im "Piccolo" gegeben habe. Eine Supervision und eine fachliche Auseinandersetzung um Konzepte der akzeptierenden Sozialarbeit habe es damals für das Team nicht gegeben.
Neue Herausforderungen
Barbara Schäuble verweist darauf, dass es für ihre Studierenden mit der Exkursion zum NSU-Prozess am OLG München sehr viel greifbarer geworden sei, dass es für die Soziale Arbeit mit rechtsorientierten Jugendlichen Grenzen gebe – und dass sie sich immer auch der Stärkung von Alternativen zuwenden müsse.
Die Grenzen Sozialer Arbeit mit rechtsextremen Jugendlichen hatte der Bremer Pädagogikprofessor Franz-Josef Krafeld, auf dessen Konzepte der akzeptierenden Jugendarbeit sich in den 1990er Jahren bundesweit viele Pädagogen und Jugendämter bezogen,
Der Freiburger Soziologe Scherr hofft, dass sowohl anhand des NSU-Komplexes als auch aufgrund der aktuellen Welle rassistischer Gewalt eine dringend notwendige "Weiterentwicklung angemessener Strategien gegen Rechtsextremismus" stattfinden wird. Er will daher Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeiter ermutigen, Konflikte auszuhalten, betont aber auch: Von prekär beschäftigten Sozialarbeiterinnen, die kaum über Zeit für Fachdiskurse und Vernetzung verfügten, sei kein substanzieller Beitrag zur Zurückdrängung von Rassismus und Rechtsextremismus zu erwarten. Seine Vision: "Jugendarbeit kann dann einen wichtigen Beitrag gegen Rassismus und Rechtsextremismus leisten, wenn sie von Jugendlichen als eine offensive und attraktive Gegenkultur erlebt werden kann, in der Vielfalt und Gleichberechtigung erfahren werden können und die sich eine deutliche politische Positionierung gegen Rassismus und Rechtsextremismus zutraut."