Lehrerinnen und Lehrer gehören zu denjenigen Berufsgruppen, die fast idealtypisch die gesellschaftliche "Mitte" symbolisieren. Aufgrund ihrer pädagogisch-erzieherischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen haben sie zudem eine eminent wichtige gesellschaftliche Funktion: Wie sie mit bestimmten Themen und Problemen umgehen, prägt auch ihre Schülerinnen und Schüler. Ob Lehrerinnen und Lehrer aber für bestimmte Problematiken überhaupt sensibel sind, hängt wiederum eng mit ihrer eigenen Ausbildung zusammen.
Im Folgenden soll in den Blick genommen werden, ob und inwiefern Rassismuskritik im Anforderungsprofil (angehender) Lehrerinnen und Lehrer eine Rolle spielt. Vor dem Hintergrund fehlender rassismuskritischer Vorgaben für die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern werden wir hierfür zunächst die relevanten Empfehlungen der Kultusministerkonferenz der Länder (KMK) und der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) vorstellen und diese mit Blick auf die Zielsetzung der interkulturellen Kompetenz kritisch untersuchen. Anschließend stellen wir das Konzept des institutionellen und individuellen Alltagsrassismus dar, um dann die Schwierigkeiten zu erörtern, die sich in Alltag und Schule ergeben, wenn Rassismus verhandelt wird. Der Artikel endet mit einem Plädoyer für die Relevanz einer rassismuskritischen Perspektive im Rahmen der Professionalisierung von Lehrkräften.
Länderübergreifende Empfehlungen
Mit der gemeinsamen Empfehlung "Lehrerbildung für eine Schule der Vielfalt" haben HRK und KMK die Bedeutung von "Diversität in einem umfassenden Sinne" unter Berücksichtigung "verschiedene(r) Dimensionen" für die Lehrerbildung jüngst wieder deutlich hervorgehoben. Unter anderem wird darin zum Beispiel die Erwartung formuliert, dass (zukünftige) Lehrkräfte Benachteiligung im schulischen Kontext entgegenwirken und aufbrechen, indem sie "jedwede Diskriminierung vermeiden".
Aus den länderübergreifenden Leitlinien "Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule" der KMK geht zudem hervor, dass interkulturelle Kompetenz zum einen als Handlungskompetenz von Lehrkräften, zum anderen als Bildungsinhalt beziehungsweise Bildungsziel für die Schülerinnen und Schüler betrachtet wird. Dabei wird interkulturelle Kompetenz als "Kernkompetenz für das verantwortungsvolle Handeln in einer pluralen, global vernetzten Gesellschaft" bezeichnet, die jedoch "nicht nur die Auseinandersetzung mit anderen Sprachen und Kulturen (bedeutet), sondern vor allem die Fähigkeit, sich selbstreflexiv mit den eigenen Bildern von Anderen auseinander und dazu in Bezug zu setzen sowie gesellschaftliche Rahmenbedingungen für die Entstehung solcher Bilder zu kennen und zu reflektieren". Explizit wird gefordert, für Benachteiligung und Diskriminierung zu sensibilisieren und dagegen vorzugehen. Bei den Schülerinnen und Schülern sei der "Erwerb interkultureller Kompetenzen im Unterricht aller Fächer und durch außerunterrichtliche Aktivitäten" zu fördern. Dabei wird an zwei Stellen explizit formuliert, dass sie unterstützt werden sollen, "bewusst gegen Diskriminierung und Rassismus ein(zu)treten".
Rassismuskritische Auseinandersetzung mit den Empfehlungen
Auch wenn es gut gemeint ist, ist die Verwendung des Begriffs "interkulturelle Kompetenz" durchaus kritisch zu sehen: suggeriert er (angehenden) Lehrerinnen und Lehrern doch einen Kompetenzerwerb, der sie in die Lage versetzt, "mit heterogenen und durch kulturelle Vielfalt geprägten Lerngruppen pädagogisch erfolgreich umzugehen"
Durch die von der HRK formulierte Empfehlung, in der Lehrerbildung Auslandspraktika zur Förderung interkultureller Kompetenzen zu ermöglichen, wird die Differenzmarkierung untermauert, weil damit nahegelegt wird, dass ein sogenannter Migrationshintergrund automatisch "nicht deutsch" bedeutet – als wären die betreffenden Schülerinnen und Schüler keine Deutschen. So wird eine Art "Ausländerhabitus"
Nicht allein die Differenzbeschreibung, sondern vor allem die damit reproduzierten Dominanzverhältnisse, die "in Kategorien der Über- und Unterordnung gefaßt sind",
Darüber hinaus werden die Anforderungen bezüglich der interkulturellen Kompetenz beziehungsweise der migrationsbedingten Diversität in den bildungspolitischen Vorgaben umfangreich dargestellt, ohne sie jedoch bildungswissenschaftlich und fachdidaktisch umzusetzen oder anzubahnen. So wird vor dem Hintergrund "interkulturelle(r) Handlungskompetenzen"
Es kristallisiert sich damit eine Leerstelle zwischen der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern und der Erwartung an ihr Professionsprofil heraus. Denn die Anforderungen an pädagogisches Handeln in der Schule sind konkret und erfordern einen differenzierteren Blick auf die interkulturelle Handlungskompetenz. Hierbei ist insbesondere auch die Haltung der Lehrkräfte in den Blick zu nehmen, die (selbst)kritisch sein muss, um eigene Einstellungen und Handlungen hinterfragen zu können.
Erscheinungsformen von Rassismus
Während die normative Wirklichkeit in der Bundesrepublik (mehrheitlich) von dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes und des Antidiskriminierungsschutzes geprägt ist, weist die gesellschaftliche Realität egalitätsverweigernde und somit auch rassistische Strukturen auf: So haben zwar weiße Deutsche, Deutsche of Color beziehungsweise Schwarze Deutsche auf dem Papier dieselben Rechte, doch in der alltäglichen Praxis besitzen die Erstgenannten mehr (un)sichtbare Privilegien als die beiden anderen Gesellschaftsgruppen.
Die Rassismusforscherin Philomena Essed definiert Alltagsrassismus als latente und subtile Form des Rassismus, die "eine Ideologie, eine Struktur und einen Prozess (darstellt), mittels derer bestimmte Gruppierungen auf der Grundlage tatsächlicher oder zugeschriebener biologischer oder kultureller Eigenschaften als wesensmäßig andersgeartete und minderwertige ‚Rassen‘ oder ethnische Gruppen angesehen werden. In der Folge dienen diese Unterschiede als Erklärung dafür, dass Mitglieder dieser Gruppierungen vom Zugang zu materiellen und nicht-materiellen Ressourcen ausgeschlossen werden."
Diese Definition deckt sich mit derjenigen der Diversity-Forscherin Maureen Maisha Eggers, die vier Elemente herausgearbeitet hat, die "Rassismus als gesellschaftliches Ordnungsprinzip" ausmachen: erstens die "Kategorisierung weiße und ‚nicht-weiße‘ Menschen (Markierungspraxis)"; zweitens die "Feststellung der ‚Andersheit‘ von rassistisch markierten Menschen (Differenzierungspraxis)"; drittens die "Festlegung der Minderwertigkeit ihres moralischen Status (hierarchische Positionierung)" sowie viertens "ihr Ausschluss aus dem zivilpolitischen Regulationssystem (…) (Ausschlusspraxis)".
Das Wissen über sozial konstruierte "Rassen" und die damit einhergehenden (de)privilegierenden Dimensionen verorten beide Wissenschaftlerinnen unter anderem in der Sozialisation von Gesellschaftsmitgliedern. Somit wächst jeder Mensch, der in Deutschland sozialisiert wird, mit Wissen auf, das als "rassistisches Wissen"
Der institutionelle Rassismus unterscheidet sich in zweifacher Hinsicht vom direkten Rassismus: Zum einen ist er in seiner Entstehungs- und Wirkungsform komplexer als der direkte Rassismus, weil die aus ihm resultierenden Benachteiligungen zum Teil von den rassistischen Personen nicht mutwillig ausgehen beziehungsweise nicht beabsichtigt sind. Die Ungleichbehandlung geht nicht von der einzelnen Politikerin oder dem einzelnen Lehrer aus, sondern von dem Netz der Institutionen, deren Maßnahmen in der Erziehung, Wirtschaft und Rechtsprechung kumulativ wirken und in der Summe den Zustand rassistischer Diskriminierung bewirken.
Schwierigkeiten bei der Verhandlung von Rassismus
Die Ursache für einen bagatellisierenden Umgang mit dem Thema Rassismus in der Schule liegt unter anderem daran, dass es in der deutschen Gesellschaft nach wie vor schwierig ist, Handlungen und Sinnbezüge, die "rassismusrelevant" sind,
Nachfolgend werden vier Distanzierungsmuster beschrieben, die eine rassismuskritische Auseinandersetzung in der deutschen Gesellschaft im Allgemeinen und in der Schule im Speziellen behindern:
Diagnosen als Skandal Die gesellschaftliche Inszenierung von Rassismus als skandalöse Tat, die eine Besonderheit im gesellschaftlichen Umgang darstellt und als außerordentlicher Eklat zwischenmenschlicher Interaktion gewertet wird, kann der alltäglichen Praxis des Rassismus nicht gerecht werden, weil Schwarze deutsche Schülerinnen beziehungsweise Schüler of Color Rassismus in ihrer Lebenswirklichkeit regelmäßig wahrnehmen und davon betroffen sind.
Verlagerung in den (Rechts-)Extremismus Die Verlagerung von Rassismus in das rechtsextreme Milieu und die Annahme, dass rassistisches Wissen nur von einigen wenigen Rechtsextremen geteilt wird, ist nicht geeignet, um im schulischen Kontext die Ursachen- und Wirkungszusammenhänge des gesellschaftlichen Rassismus zu analysieren und wirkungsvolle Rassismuskritik zu betreiben. Stattdessen muss anerkannt werden, dass bürgerliche Schichten, die die Mitte der Gesellschaft symbolisieren (unter anderem Lehrkräfte), rassistisches Wissen (re)produzieren.
Kulturalisierung Im zeitgenössischen Rassismus hat die Unterscheidungskategorie der Kultur an Einfluss gegenüber der historischen Differenzierungsgrundlage der biologischen "Rasse" gewonnen,
sodass nun die Zugehörigkeitsunterscheidung, die maßgeblich für die gesellschaftliche Macht- und Privilegienvergabe verantwortlich ist, (auch) entlang (fiktiver) kultureller Grenzziehungen verläuft. Verschiebung in die Vergangenheit Ein wichtiger Grund, warum die Ursachen- und Wirkungsanalyse von Rassismus in der Gesellschaft und in der Schule gegenwärtig nur unzureichend betrieben werden kann, ist der Umstand, dass die alltägliche Praxis des zeitgenössischen Rassismus in der hiesigen Gesellschaft weitgehend negiert und stattdessen vor allem auf die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft bis 1945 bezogen wird.
Notwendigkeit der Rassismuskritik
Vor diesem Hintergrund zeigt sich die dringende Notwendigkeit, insbesondere die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer so zu verändern, dass (angehende) Lehrkräfte Rassismus in der Schule nicht (re)produzieren.
In dem Beschluss der KMK "Standards für Lehrerbildung: Bildungswissenschaften" von 2004 nimmt die Förderung der Reflexion in der Lehrerbildung eine elementare Rolle ein. Insbesondere "biografisch-reflexive Ansätze" werden empfohlen.
Zu dieser professionellen rassismuskritischen Haltung gehört auch, Rassismuserfahrungen von Schülerinnen of Color sowie von Schwarzen deutschen Schülern ernst zu nehmen und diesen Möglichkeitsräume zu schaffen, damit sie eine Sprache finden, um Rassismus zu benennen. Zu diesem Zweck gilt es, "die eigene strukturelle Verwobenheit (…) sei es aufgrund eigener (Rassismuserfahrungen, Anm. d.A.) oder aufgrund der eigenen privilegierten (…) Position, in der Whiteness unsichtbar gemacht wird, weil es der unausgesprochenen Norm entspricht",
Fazit
Rassismus ist Teil der Lebenswirklichkeit aller Menschen, die in Deutschland leben, unterrichtet werden und selbst unterrichten, weil jede Person sozialisationsbedingt rassistisches Wissen besitzt. Aus diesem Grund ist eine rassismusfreie Gesellschaft eine bisher unerreichte Utopie, weil "in allem, was wir wissen (…) ein Stück rassistische Wissensgeschichte" steckt.
"Es kommt darauf an, dass man lernt, die eigene Praxis unter dem Gesichtspunkt zu beobachten, wo versteckte latente Mechanismen (des Rassismus, Anm. d.A.) bisher nicht wahrgenommen werden konnten".
Schwarze deutsche Lehramtsstudierende und angehende Lehrerinnen und Lehrer of Color sollten, angesichts ihrer selbst durchlebten rassistischen Erfahrungen, insbesondere in der eigenen Bildungsbiografie, in der Lehramtsausbildung Empowerment erfahren, um behutsam mit eigenen Kraftressourcen umzugehen und zu lernen, ihre körperliche und psychische Unversehrtheit zu wahren.
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit schulischer und universitärer Rassismuskritik steckt noch in den Kinderschuhen. Um die zahlreichen Forschungslücken beziehungsweise Desiderata zu schließen, sind grundlegende empirische Studien notwendig. Beispielsweise sollte erforscht werden, wie die Leerstelle zwischen der unzureichenden rassismuskritischen Ausbildung von Lehramtsstudierenden und der anschließenden Erwartung rassismussensiblen Handelns von Lehrerinnen und Lehrern in der schulischen Praxis beseitigt werden kann. Außerdem sollte die rassismuskritische Schulbuchforschung die Lehrwerke in den Schulen kritisch analysieren und eine Neubewertung des Curriculums vornehmen.