Die gesellschaftliche Mitte ist ein begehrtes Gut im Streit um politische Macht. Insbesondere vor Wahlen weisen Parteien auf ihre Nähe zur "Mitte" hin, aber auch soziale Bewegungen reklamieren für sich, den "Durchschnittsbürger" zu repräsentieren. Im alltagssprachlichen Gebrauch steht der Begriff für Neutralität, Demokratie und sozialen Ausgleich. Allerdings bleibt "die Mitte" bis heute ein politisches Konstrukt, das verschiedene Interpretationen erfährt – je nach angelegten ökonomischen und sozialen Kriterien sowie aus Sicht der Bevölkerungsteile selbst, die sich als Mitte und somit als die diskursbestimmende gesellschaftliche Kraft definieren.
In der Extremismusforschung bildet die gesellschaftliche Mitte die entscheidende Referenz, von der aus eine Unterscheidung in Rechts- und Linksextremismus vorgenommen wird. Die Definition des Soziologen Seymour Martin Lipset erweiterte den Blick: Er ergänzte den Links- und Rechtsextremismus um einen "Extremismus der Mitte".
Der Sozialpsychologe Andreas Zick und die Erziehungswissenschaftlerin Anna Klein beschreiben die Mitte der deutschen Gesellschaft in einer aktuellen Studie als "fragil" in Bezug auf ihre Normen und Werte, was sich unter anderem anhand der Akzeptanz von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit abbilden lässt.
Wie stellen sich die Übergänge zwischen der demokratischen Mitte und dem Rechtsextremismus dar? Ein Mensch wird nicht über Nacht zu einem Extremisten, sondern diese Entwicklung ist eng mit den gesellschaftlichen Konfliktlagen, ihrer individuellen Verarbeitung sowie der persönlichen Entwicklung verknüpft. Die Radikalisierung einer Person ist somit ein mentaler und emotionaler Prozess, der immer mit einem tief greifenden Wandel von Überzeugungen, Gefühlen und Handlungsweisen einhergeht. Auch ein rechtsextremer Mensch hat ein "tief empfundenes Verlangen nach soziopolitischen Veränderungen", während Radikalisierung verstanden werden kann als eine "wachsende Bereitschaft, weitreichende Veränderungen in der Gesellschaft zu verfolgen und zu unterstützen, die mit der existierenden Ordnung in Konflikt stehen oder diese gefährden".
Ich vertrete hier die These, dass es kein einheitliches Verhältnis zwischen dem Rechtsextremismus und der gesellschaftlichen Mitte gibt. Je nach historischen, geografischen, kulturellen und sozialen Konfliktkonstellationen sowie politischen Realitäten verändert sich dieses: Im Folgenden werde ich zunächst am Beispiel der NPD zeigen, wie Rechtsextremisten versuchen, selbst die gesellschaftliche Mitte zu repräsentieren. Daran anschließend werde ich darstellen, wie die rechtsextreme Splitterpartei Die Rechte den Kampf gegen die gesellschaftliche Mitte führt und wie diese darauf reagiert. Im dritten Abschnitt schließlich geht es darum, wie sich Teile der gesellschaftlichen Mitte in Gestalt von Pegida selbst radikalisierten.
NPD: Selbstbild als "deutsche Mitte"
Aktuell schwinden die Mitgliederzahlen der NPD, einzig in Mecklenburg-Vorpommern ist sie noch in einem Landesparlament vertreten, zudem in einigen Kommunalparlamenten sowie im Europaparlament. Die Strategie der NPD ist es bis heute, sich als gesellschaftliche Mitte zu definieren, die eine schweigende, unzufriedene Mehrheit darstellt und Konfliktthemen wie Einwanderung, Armut und soziale Gerechtigkeit aufgreift. Und in der Tat kann die NPD vielfach auf einen verbreiteten Alltagsrassismus bauen, der sie in Teilen der Bevölkerung anschlussfähig macht. Auffällig ist, dass sie besonders dort Zustimmung erfährt, wo demokratische Parteien und Verbände sowie zivilgesellschaftliche Organisationen relativ schwach sind. Mit Aktionen wie Kinderfesten oder Suppenküchen stößt die NPD zum Beispiel in gesellschaftliche Bereiche, die in Teilen Ostdeutschlands noch nicht oder bisher zu wenig von den demokratischen nicht-rechten Parteien ausgefüllt werden. Insbesondere im ländlichen Raum, wo es sonst wenige Angebote gibt, kann sie sich auf diese Weise Sympathien erwerben. Nach ihrem Verständnis wollen die Aktivisten der NPD in Gegenden und gesellschaftlichen Bereichen, denen bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, "Kümmerer" und "Aufklärer" sein.
Die NPD und andere rechtsextreme Parteien leben davon, dass sie dort Antworten geben, wo bereits die Fragen tabu sind. Ein Beispiel: Darf man nur noch "Schokokuss" sagen? Während der alte, rassistische Begriff in der medialen und politischen Öffentlichkeit längst verpönt ist, ist er (nicht nur) an vielen Stammtischen durchaus noch geläufig, und die Diskussion darüber wird mit Unverständnis aufgenommen. An diesem Punkt setzt die Strategie in der Öffentlichkeitsarbeit der NPD an: So behaupten ihre Vertreter, dass bei ihr – im Gegensatz zum "Establishment" – jeder frei denken und handeln könne. Sie verstehen sich also selbst gleichsam als Repräsentanten einer gesellschaftlichen Mitte, die für die "wahren Interessen" des deutschen Volkes eintreten, während sich die etablierten schwarz-rot-grünen Parteien nach Lesart der Rechtsextremisten nur noch um die Interessen von "Randgruppen" (etwa Zuwanderer oder Homosexuelle) kümmern und deshalb viel weniger "Mitte" sind.
Vor allem in Westdeutschland fristet die NPD in den Kommunalparlamenten eine Außenseiterexistenz. Hinzu kommt: Wer einmal in der NPD eine führende Position hatte, wird in der demokratischen Gesellschaft keine große Karriere mehr machen können, weder als Lehrer, noch als Rechtsanwalt oder Arzt. Aber gerade diese Ausgrenzung ist ein wichtiger Resonanzboden für die Partei; sie schafft Bindungskräfte, weil es kein Zurück mehr für Führungskader gibt, was diese deshalb eher stärker als schwächer macht.
In den vergangenen Jahren hat sich die NPD fast ausschließlich auf den Einzug in Parlamente konzentriert und die Wahlkampfveranstaltungen mit Blick auf das Establishment entsprechend konfrontativ angelegt. Doch die Strategie, eine unzufriedene Mitte in den Parlamenten zu repräsentieren, verfängt nicht mehr in dem gewünschten Maße, sodass aktuell wieder eine verstärkte Zuwendung zum "Kampf um die Straße" erfolgt und dort speziell die Proteste gegen Asylbewerberheime im Fokus stehen. Dieses Konfliktthema wird inzwischen aber auch durch andere Akteure "bearbeitet", die ebenfalls für sich beanspruchen, für "die Mitte" zu sprechen und entsprechende Präsenz auf der Straße zeigen. Dazu unten mehr.
Die Rechte in Dortmund
Anders als die NPD, die sich selbst als gesellschaftliche Mitte sieht, führt die rechtsextreme Splitterpartei Die Rechte bewusst einen Kampf gegen die Mitte, die im Ruhrgebiet vor allem in der Sozialdemokratie verankert ist. Die Rechte, die nach dem Kameradschaftsverbot des Nationalen Widerstands Dortmund und den Verboten und Niedergängen anderer Kameradschaften zu einem Sammelbecken rechtsextremer Szeneangehöriger wurde, zählt aktuell rund 500 Mitglieder. Auch wenn der bekannte Rechtsextremist Christian Worch als Parteivorsitzender fungiert, agieren die Kreisverbände weitgehend autonom mit einer auf die jeweilige Stadt bezogenen Agenda, in der sie kommunalpolitische Themen aufgreifen und im Sinne ihrer rechtsextremen Ideologie deuten. Mit rund 200 Personen ist der Dortmunder Kreisverband derzeit der stärkste. Die Stadt selbst gilt als Hochburg der rechtsextremen Szene in Westdeutschland. Diese präsentiert sich mit einer hohen Frequenz an Aufmärschen sowie einer professionellen Internetpräsenz, die hohe Strahlkraft für die gesamte rechtsextreme Szene in Deutschland besitzt.
Während das Feindbild der Dortmunder Rechtsextremisten in den 2000er Jahren bis 2008 vor allem autonome, linksextreme Antifaschisten waren, verlagerte sich dieses immer mehr hin zu den Repräsentanten der regierenden Sozialdemokraten und ihrer "Blockparteien". Mit ihrer konfrontativen Strategie bei gleichzeitiger Pflege einer "rechtsextremen Erlebniskultur" mit Konzerten, Fußballspielen und Partys gelang es der Partei, eine nennenswerte Anhängerschaft hinter sich zu versammeln. Speziell im Kommunalwahlkampf sprachen Die Rechte-Aktivisten einige soziale Themen in Dortmund an und zeigten insbesondere in Sozialräumen Präsenz, in denen gesellschaftliche Problemlagen und Desintegration akut sind. Bei den Kommunalwahlen 2014 erreichte Die Rechte ein Prozent der Wählerstimmen und einen Sitz im Stadtrat sowie vier Sitze in den Bezirksvertretungen der Stadt.
Doch auch die parlamentarische Strategie der Partei bleibt Provokation: So stellte beispielsweise ihr Ratsmitglied im Herbst 2014 eine Anfrage, wie viele Juden in Dortmund leben. Die Aktivisten präsentieren sich als Opposition zu den "Systemparteien", insbesondere zu den regierenden Sozialdemokraten. Provokationen werden als Handlungsinstrument genutzt, um Öffentlichkeit zu erzielen – sei es durch den Versuch, eine Art Bürgerwehr ("Stadtschutz") zu etablieren, oder durch parlamentarische Anfragen. Somit bleibt Die Rechte eine Partei jenseits der Mitte, die bewusst auf Abgrenzung und "autoritäre Rebellion" setzt.
Die gesellschaftliche Mitte – unter anderem in Gestalt der nicht-rechten demokratischen Parteien und der zivilgesellschaftlichen Organisationen – setzt auf klare Ab- und Ausgrenzung. Mittlerweile gibt es den zweiten Versuch, Die Rechte zu verbieten; Mitglieder der rechtsextremen Partei haben nach diversen Outings durch antifaschistische Organisationen ihren Arbeitsplatz verloren oder ihnen wurde ihre Wohnung gekündigt. Diese Maßnahmen haben bis heute jedoch nicht zu einer Abnahme rechtsextremer Strukturen oder Gewalt geführt.
Pegida: Die Radikalen aus der Mitte
Nicht nur die NPD hat das Konfliktthema Zuwanderung (und damit verbunden die Angst vor einer vermeintlichen Islamisierung) als Protestmotiv aufgegriffen. Die "Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" (Pegida) wurden mit ihren Dresdner "Spaziergängen" erstmals im Herbst 2014 öffentlich wahrnehmbar. Von Anfang an war es das Prinzip der Organisatoren, politische Parteien von den Demonstrationen fernzuhalten und sich politisch nicht vereinnahmen zu lassen. Mit diesem Rezept gelang es, viele Unzufriedene aus der gesellschaftlichen Mitte anzusprechen, die sich nicht mehr repräsentiert fühlten und bereit waren, ihren Protest gegen die in ihren Augen schlechten Zustände in Deutschland auf die Straße zu bringen. Die Themenschwerpunkte von Pegida sind die Ablehnung einer multikulturellen Gesellschaft, die vermeintlich mangelnden Mitbestimmungsmöglichkeiten sowie ein empfundenes "Meinungsdiktat" durch Politik, Medien und Wissenschaft. Weiteres Thema war der Ukraine-Konflikt, bei dem Pegida für eine klare Parteinahme für Russland stand, was zum Teil mit offenem Antiamerikanismus einherging.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Pegida-Demonstrationen traten ebenfalls als Repräsentanten der gesellschaftlichen Mitte an.
Als im Januar 2015 ausländerfeindliche Aussagen des Pegida-Organisators Lutz Bachmann bekannt wurden, spaltete sich der Organisationskreis, und die Bewegung verlor an Teilnehmerzahlen und Dynamik. Dennoch konnte die Kandidatin der Bewegung bei der Dresdner Oberbürgermeisterwahl Anfang Juni 2015 im ersten Wahlgang fast zehn Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Die Parteien der gesellschaftlichen Mitte verloren massiv, und kein Kandidat errang im ersten Wahlgang die erforderliche Mehrheit, um den Oberbürgermeister zu stellen. Zu einem zweiten Wahlgang trat die Pegida-Kandidatin nicht mehr an und empfahl, die FDP zu wählen. Letztlich aber zeigten diese Wahlen, dass den Repräsentanten der gesellschaftlichen Mitte Vertrauen entzogen wurde.
Dieses Ereignis stellt jedoch keineswegs den Schlusspunkt der Geschichte von Pegida dar. Die fremdenfeindlichen Proteste und Ausschreitungen unter anderem in Freital, Meißen und Heidenau, wo auch die NPD kommunalpolitisch wieder an Boden gewinnt, zeigen, dass entsprechende Einstellungen vorhanden sind und sich flexibel mobilisieren lassen. Pegida lässt sich somit nicht als Gegenstück zur gesellschaftlichen Mitte beschreiben. Tatsächlich hat sich in den vergangenen Jahren eine soziale Bewegung von rechts mit Kristallisationspunkten in Ostdeutschland gebildet, die ihre Ursprünge direkt aus der gesellschaftlichen Mitte bezieht.
Von linken sozialen Bewegungen wissen wir, dass sie sich mit der Abgrenzung zu Gewalt stets schwer getan haben.
Fazit
Die Trennung zwischen "gesellschaftlicher Mitte" auf der einen und "rechtsextremen Einstellungen" auf der anderen Seite ist künstlich und je nach gesellschaftlicher Konfliktlage stärker oder schwächer ausgeprägt. So zeigten Erhebungen 2014 zwar noch einen Rückgang rechtsextremer und rassistischer Einstellungen, doch spätestens seit dem Diskurs über "Flüchtlingsströme" und den Angriffen auf Asylunterkünfte im Jahr 2015 würden diese Erhebungen aller Wahrscheinlichkeit nach aktuell wieder anders ausfallen.
Die NPD mit ihrem Selbstbild als "deutsche Mitte" könnte von den rechten Protesten langfristig profitieren – sei es als Auffangbecken für enttäuschte Bürger, die gleichzeitig Merkmale Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zeigen, oder auch als parteipolitisches Zuhause für erlebnisorientierte rechtsextreme Jugendliche. Die Splitterpartei Die Rechte dagegen wird parlamentarisch über die kommunale Ebene hinaus keine Rolle spielen. Pegida als rechte, aber aus der gesellschaftlichen Mitte kommende Bewegung bildet das Protestpotenzial ab, das in den Umfragen über Einstellungen zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus längst bekannt war, jedoch erst aktuell auch auf der Handlungsebene sichtbar wird. Auch vor dem Aufkommen von Pegida zeigten Umfragen sowie diverse Wahlenthaltungen und Ergebnisse bei Kommunal-, Landtags- und Bundestagswahlen, dass sich viele Bürgerinnen und Bürger schlecht repräsentiert fühlen und von demokratischen Willensbildungsprozessen abwenden.
Aber warum ist das so? Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer sprach mit Blick auf die ersten zehn Jahre dieses Jahrtausends von einem "entsicherten Jahrzehnt", das durch Modernisierung, Umbrüche und einem extrem schnellen Wandel der Arbeits- und Lebensverhältnisse geprägt gewesen sei.
Die gewaltigen Veränderungen bezüglich der Bevölkerungsentwicklung und der sozialen Realitäten vollziehen sich immer rascher. Unmittelbar spürbar wird dies vor allem in Stadtbezirken, die ohnehin durch eine hohe Armutsquote und soziale Desintegration gekennzeichnet sind, aber auch in ländlichen Regionen, die bisher wenige Erfahrungen mit Migranten und Flüchtlingen haben. Diese Konflikte sind aktuell der Lackmustest unseres Gemeinwesens. Es spricht viel für die These, dass Rechtsextremismus und die gesellschaftliche Mitte eng verwoben sind und rechte Bewegungen sich nicht durch Ausgrenzung verhindern lassen. Notwendig ist vielmehr eine Ursachenanalyse, die sich der ökonomischen, kulturellen und psychologischen Konflikte in der Einwanderungsgesellschaft annimmt, dabei aber auch auf die Ursachen von Flucht und Migration eingeht. Für die pädagogische Praxis kann dies nur heißen, konfliktsensibel zu agieren und nicht einäugig auf Rechtsextremisten zu schauen, sondern mehrgleisiges Arbeiten zu fördern und dabei stets einen kritischen Blick auf die gesellschaftliche Mitte zu haben, die von diesen Konflikten nicht abgelöst betrachtet werden kann.