Auf der Landkarte des europäischen Rechtspopulismus war die Bundesrepublik Deutschland lange Zeit ein weißer Fleck. Zwar hat es auch hier seit Mitte der 1980er Jahre gelegentliche Wahlerfolge verschiedener rechtspopulistischer und rechtsextremer Gruppierungen gegeben – von den Republikanern über die Schill-Partei bis hin zur NPD. Diese blieben aber im Wesentlichen auf die regionale Ebene der Landtagswahlen beschränkt und führten nicht zur dauerhaften Etablierung einer Rechtsaußenpartei im nationalen Rahmen.
Stellt die Ankunft des neuen Rechtspopulismus im deutschen Parteiensystem eine Annäherung an den (west)europäischen Normalzustand dar, der bei ausländischen Beobachterinnen und Beobachtern zwar aufmerksames Interesse, aber keine echte Besorgnis auslöste, so rieben sich dieselben Beobachter erstaunt die Augen, als im Gefolge der ostdeutschen AfD-Wahlerfolge eine Bewegung namens Pegida ("Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes") in der sächsischen Landeshauptstadt Dresden seit Oktober 2014 Tausende von Menschen Woche für Woche zu Massendemonstrationen auf die Straße lockte. Die aus einer Facebook-Gruppe hervorgegangene Pegida bildete rasch Ableger in anderen ost- und westdeutschen und sogar ausländischen Städten (Wien, Kopenhagen, Newcastle). Deren Zulauf blieb aber nicht nur deutlich hinter dem Dresdner Original, sondern auch hinter den nun geballt einsetzenden Gegendemonstrationen zurück. Letztere waren in ihrer Wirkung insofern ambivalent, als sie die mediale Aufmerksamkeit für Pegida über Gebühr verstärkten. Tatsächlich handelte und handelt es sich bei Pegida in hohem Maße um ein regionales – ostdeutsches und sächsisches – beziehungsweise lokales – Dresdner – Phänomen.
Ursprünge und Erfolgsursachen
Wenn dem so ist, bleibt die Frage, warum der Rechtspopulismus in Deutschland erst seit jüngster Zeit so lautstark auftritt und organisatorische Strukturen ausbildet. Aus der vergleichenden Forschung weiß man, dass es in der Regel einer bestimmten gesellschaftlichen Krisenkonstellation bedarf, um solche Parteien und Bewegungen hervorzubringen. Im Falle der AfD war dies die Finanz- und Eurokrise. Sie öffnete das Gelegenheitsfenster für eine neue, EU-kritische Partei, deren programmatische Kernforderungen – kontrollierte Auflösung der Währungsunion und Absage an eine weitere Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses – geeignet waren, um daran eine breitere rechtspopulistische Agenda anzudocken.
Betrachtet man die Entstehungsgeschichte der Partei genauer, zeigt sich, dass sie dabei auf ein bereits vorhandenes Netzwerk an gesellschaftlichen und politischen Strukturen zurückgreifen konnte. Die AfD fing also bei ihrer offiziellen Gründung im April 2013 nicht bei Null an.
Neue Parteien entstehen entweder aus der Gesellschaft heraus oder als Abspaltung von bestehenden Parteien. Auch Letzteres trifft auf die AfD mit gewissen Einschränkungen zu. Viele ihrer Führungsfiguren stammen aus dem bürgerlichen Lager von Union und FDP, hier allerdings nur aus der "zweiten Reihe". So kehrte beispielsweise Bernd Lucke, der bis zu seinem Austritt im Juli 2015 das bekannteste Gesicht der AfD war und neben Alexander Gauland und Konrad Adam zu ihrem Gründungstrio gehörte, der CDU wegen deren Kurs in der Eurokrise den Rücken. Gauland dagegen verweist auf seine negativen Erfahrungen mit dem "Berliner Kreis" – einem Zusammenschluss von Vertreterinnen und Vertretern der Parteirechten innerhalb der CDU, der von der Vorsitzenden Angela Merkel und dem damaligen Generalsekretär Hermann Gröhe offen bekämpft wurde (Gauland war 40 Jahre lang CDU-Mitglied und von 1987 bis 1991 Chef der hessischen Staatskanzlei). Der frühere Industrieverbandspräsident Hans-Olaf Henkel fand wiederum – nach einem kurzen Umweg über die Freien Wähler – von der FDP zur AfD.
Die Abspaltungstendenzen lassen sich nachvollziehen, wenn man die Entwicklung bedenkt, die CDU und FDP in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten genommen haben. Die CDU hat sich unter Merkels Führung einerseits wirtschaftspolitisch "sozialdemokratisiert" und der von Merkel selbst ursprünglich favorisierten liberalen Reformagenda abgeschworen. Andererseits ist sie kulturell immer mehr in die Mitte gerückt, indem hergebrachte Positionen in der Familien- und Gesellschaftspolitik reihum aufgegeben wurden: Von der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften über die Einführung einer gesetzlichen Frauenquote in Unternehmen bis hin zur Öffnung für ein modernes Einwanderungsrecht liegt die Partei heute ganz auf der Linie des Zeitgeistes.
Bei der Suche nach den Ursprüngen und Erfolgsursachen der Partei darf schließlich die Sarrazin-Debatte nicht unerwähnt bleiben. Die in Buchform veröffentlichten Thesen des SPD-Politikers und früheren Bundesbankvorstands Thilo Sarrazin zum angeblichen Scheitern der Einwanderungs- und Integrationspolitik, die die Bundesrepublik im Sommer 2010 für mehrere Monate in Atem hielten,
Ideologische Einordnung und Programmatik
Manche Beobachter wollten der Verlegenheit, die AfD als rechtspopulistisch einzustufen, entkommen, indem sie unter Verweis auf die Personalquerelen und Richtungskonflikte in der Partei behaupteten, diese bestehe aus drei im Grunde unverträglichen Strömungen: einer wirtschaftsliberalen, einer national-konservativen und einer rechtspopulistischen.
Die wirtschaftsliberalen und konservativen Positionen der Partei stellen ebenfalls keinen Gegensatz dar. Sie werden in einem nationalen "Besitzstands- oder Wettbewerbspopulismus" zusammengeführt, der die Überlegenheit des eigenen Wirtschaftsmodells gegenüber anderen Ländern und Kulturen betont. Die aktuelle Misere der Südländer im Euroraum spielt dieser Argumentation in die Hände, lässt sie sich doch mit der vermeintlichen deutschen Tugendhaftigkeit unmittelbar verknüpfen. Dasselbe gilt für das von der AfD gegen den bestehenden Sozialstaat hochgehaltene Bild einer "Leistungsgesellschaft", das sich zum Beispiel in der Konzeption einer ausschließlich auf Nützlichkeitsüberlegungen beruhenden Zuwanderungspolitik niederschlägt. Dies schließt sowohl an christlich-konservative als auch ordoliberale Ordnungsvorstellungen an.
Weil der wirtschaftsliberale Flügel in der Führung personell dominierte, trug die offizielle Programmatik der AfD, die in ihren politischen Leitlinien und den Programmen zur Bundestags- und Europawahl niedergelegt wurde, zunächst ganz dessen Handschrift.
Schon bei der Bundestagswahl 2013 zeigte sich, dass die kritische Haltung vieler Bürgerinnen und Bürger gegenüber Zuwanderung ein wichtigeres Motiv für die Wahl der AfD abgab als deren euroskeptische Positionen, die im Mittelpunkt des Wahlprogramms standen.
Innere Entwicklung und Spaltung
Der Rechtsruck der AfD wurde dadurch begünstigt, dass nach den erfolgreich verlaufenen Bundestags- und Europawahlen im Spätsommer 2014 drei Landtagswahlen in Ostdeutschland anstanden. Die Partei erzielte dort bessere Ergebnisse als im Westen, was die Landesverbände als Bestätigung ihrer Linie auffassten, die bisherige Fixierung der AfD auf das Eurothema zugunsten einer breiteren rechtspopulistischen Plattform zu überwinden. Ehemalige Mitglieder der Republikaner, der Schill-Partei und der Partei Die Freiheit traten der AfD reihenweise bei und drängten nach und nach in ihre Vorstände. In fast allen Landesverbänden kam es darüber zu zum Teil heftig ausgetragenen Konflikten. Der Bundesvorstand versuchte dem durch eine Erweiterung seiner eigenen Befugnisse zu begegnen, was aber den Widerstand an der Basis erst recht provozierte.
Spätestens Anfang 2015 zeichnete sich ab, dass die mehrheitlich aus Vertretern der Gemäßigten bestehende Parteiführung den Rückhalt der Funktionäre und Mitglieder der AfD verloren hatte. Lucke versuchte die Kontrolle durch eine Satzungsänderung zurückzugewinnen, durch die die AfD nach einer kurzen Übergangsphase nur noch von einem einzigen Vorsitzenden – ihm selbst – geführt werden sollte. Obwohl ihm der Bremer Parteitag Ende Januar 2015 darin folgte, erwies sich der Beschluss als Pyrrhussieg, da dieser weder die Zuspitzung des nun immer erbitterter ausgetragenen innerparteilichen Machtkampfes noch Luckes Niederlage gegen die Vorsitzende der AfD Sachsen, Frauke Petry, bei der Wahl des/der Bundesvorsitzenden auf dem Essener Parteitag Anfang Juli 2015 verhindern konnte. Lucke stemmte sich gegen die Abwahl, indem er im Vorfeld des Parteitages seine Anhängerinnen und Anhänger in einem eigenen Verein (Weckruf 2015) versammelte. Dieser nahm die Spaltung der AfD vorweg. Bis Mitte Juli verließen mehr als 2000 Mitglieder die Partei, darunter neben Lucke selbst mit Hans-Olaf Henkel, Ulrike Trebesius, Bernd Kölmel und Joachim Starbatty fast alle Protagonisten des liberalen Flügels. Die Mitglieder des Weckrufs befürworteten mit großer Mehrheit die Gründung einer neuen europakritischen Partei unter Luckes Führung, die den Namen Allianz für Fortschritt und Aufbruch (ALFA) tragen soll.
Die Chancen für die Neugründung sind gering. Denn wo sollte das Potenzial für eine "Lucke-Partei" liegen, die politisch zwischen der Rest-AfD und der FDP zu verorten wäre? Dies gilt zumal, wenn sich Letztere nach den für sie erfreulichen Wahlergebnissen in Hamburg und Bremen regeneriert. Als Hauptproblem dürfte sich erweisen, dass der Partei ihr wichtigstes Thema – die Kritik an der Währungsunion – aus den Händen rinnt, ohne dass andere Themen in Sicht sind, die eine nennenswerte Wählermobilisierung versprechen. Von der FDP könnte sie sich zwar durch eine konservative Linie in der Rechts- und Gesellschaftspolitik abheben, die sie dann aber in unmittelbarer Konkurrenz zur Rest-AfD vertreten müsste.
Auch für diese dürften sich die Aussichten nach der Spaltung eintrüben. Blickt man auf die Motive, um derentwillen die Partei bisher gewählt worden ist, scheint der Abgang der Liberalen zwar verkraftbar. Dies gilt aber nur für die östlichen Landesverbände, die im Unterschied zu den Parteigliederungen im Westen kaum Austritte verzeichnen, weil sie sich längst zu einem Sammelbecken für den rechten Rand entwickelt haben. Ausgerechnet der sächsische Landesverband von Frauke Petry spielt hier eine unrühmliche Vorreiterrolle.
Rätsel Pegida
Größere Rätsel als die sich in die Phalanx der europäischen Rechtspopulisten einreihende AfD gibt aus vergleichender Sicht Pegida auf. Dass eine im bürgerlich-konservativen Lager angesiedelte Organisation auf Formen der politischen Partizipation zurückgreift, die man eher aus dem linken Spektrum kennt, ist an sich schon ungewöhnlich. Die "Pegidisten" nahmen damit die Tradition der "Montagsdemonstrationen" auf, die auf die Massenproteste gegen das untergehende DDR-Regime im Herbst 1989 zurückging und seither auch bei anderen Anlässen aktiviert wurde (etwa bei den Protesten gegen die Sozial- und Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Bundesregierung 2004). Ihren Höhepunkt erreichten die Demonstrationen in Dresden im Januar 2015, als geschätzt etwa 20000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer wöchentlich auf die Straße gingen. Danach ging der Zulauf stark zurück (bis auf durchschnittlich jeweils 2500 Teilnehmer im Mai und 1500 im Juni 2015).
Umfragen und teilnehmende Beobachtungen bestätigen, dass der Typus des routinierten Demonstrationsteilnehmers, der etwa bei den Protesten gegen den Bahnhofsneubau "Stuttgart 21" in der Mehrheit war, bei Pegida nur eine Randerscheinung darstellt.
Offizielle Solidaritätsadressen, Unterstützungsbekundungen oder eine Einladung zur Zusammenarbeit mit Pegida blieben vonseiten der AfD aus, weil man die Sorge hatte, mit etwaigen rechtsextremen Tendenzen sowohl in der Organisation der Protestbewegung als auch unter den Demonstrationsteilnehmern in Verbindung gebracht zu werden. Dennoch scheint es nicht unangebracht, Pegida als Ausdruck derselben rechtspopulistischen Grundstimmung in weiten Teilen der ostdeutschen Wählerschaft zu deuten, die der AfD bei den Landtagswahlen im Spätsommer 2014 zweistellige Ergebnisse einbrachte. Ob Pegida ohne die "Vorarbeit" der AfD in dieser Form entstanden wäre und einen so starken Zulauf gehabt hätte, ist fraglich, wenngleich das stark konservativ geprägte Umfeld der sächsischen Politik, die Anknüpfungspunkte im organisierten rechtsextremen Milieu und der spezifische Dresdner Opferstolz am Erfolg sicherlich großen Anteil hatten.
Die Motivlagen der AfD-Wähler und Pegida-Teilnehmer lassen sich mit dem Begriffspaar Unsicherheit und Unbehagen am besten umschreiben. Unsicherheit bezieht sich dabei mehr auf die soziale Situation, also die Sorge vor Wohlstandsverlusten, während Unbehagen auf kulturelle Entfremdungsgefühle abzielt, den Verlust vertrauter Ordnungsvorstellungen und Bindungen.
Schlussbemerkungen
Abschließend stellen sich zwei Fragen. Die erste Frage bezieht sich auf die politische Funktion von Parteien und Bewegungen wie AfD und Pegida. Nützlich wären sie, wenn sie dazu beitragen, dass der Protest nicht in schlimmere, sprich: gewaltsame Bahnen abgleitet (Kanalisierungsthese). Der Soziologe Ruud Koopmans hat in einer internationalen Vergleichsuntersuchung, die inzwischen allerdings über 20 Jahre zurückliegt, Belege dafür beigebracht.
Die zweite Frage bezieht sich auf die Konsequenzen einer möglichen Etablierung der AfD für das deutsche Parteiensystem. Die Analyse ihrer bisherigen Wahlergebnisse belegt, dass die Rechtspopulisten von allen anderen Parteien (und aus dem Lager der Nichtwähler) Stimmen abgezogen haben – die Verortung der AfD im rechten politischen Spektrum findet insofern keine Entsprechung auf der Wählerebene. Besonders ausgeprägt zeigt sich dieser Effekt in Ostdeutschland: So sind bei der Landtagswahl in Thüringen im September 2014 insgesamt mehr Wählerinnen und Wähler von den drei linken Parteien (Linke, SPD und Grüne) zur AfD übergelaufen als von CDU und FDP. Und in Brandenburg war es ausgerechnet die Linkspartei, die den größten Abfluss in Richtung der Rechtspopulisten hinnehmen musste.
Dass die Wähler linker Parteien für konservativ-autoritäre Wert- und Ordnungsvorstellungen durchaus empfänglich sind, weiß man in den Sozialwissenschaften seit Langem. Wahlerfolge der Rechtspopulisten tragen insofern dazu bei, dass sich die Achse des Parteiensystems insgesamt nach rechts verschiebt. Dies ist einerseits eine schlechte Nachricht für die deutsche Sozialdemokratie, weil es ihre Chancen für eine Rückeroberung des Kanzleramtes von der Union weiter vermindert. Andererseits schadet es CDU und CSU, die zumindest mittelfristig kein Interesse daran haben können, mit der AfD eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit einzugehen. Deren Präsenz erhöht also sowohl die Polarisierung als auch die Segmentierung des Parteiensystems. Dieses könnte damit künftig in eine ähnliche Lage geraten wie in Österreich, wo der Wettbewerb inzwischen mehr an den Rändern als in der Mitte stattfindet und die mangels anderer Koalitionsmöglichkeiten erzwungene Fortsetzung der Großen Koalition den Rechtspopulisten direkt in die Hände spielt. Ob dies für die Bundestagswahl 2017 ein realistisches Szenario ist, wird sich vielleicht schon im kommenden Frühjahr bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt andeuten.