Begriffe wie "Rechtsextremismus" und "Linksextremismus" oder "Islamismus" beziehungsweise "Salafismus" sind einer breiten Öffentlichkeit wahrscheinlich einigermaßen geläufig. Die Bedeutung der Formulierung "Extremismus der Mitte" erschließt sich hingegen nicht unmittelbar. Gleichwohl finden sich Variationen der Formulierung sowohl in den Medien als auch regelmäßig in den Titeln von Studien, die sich mit der Erforschung von Rechtsextremismus befassen.
Als Schöpfer dieses Begriffes gilt der US-amerikanische Soziologe Seymour Martin Lipset. 1959 schrieb er in dem Buch "Political Man"
Eine genaue Definition, was er unter Faschismus versteht, oder eine Erläuterung, wo er die Grenzen zum Rechtsextremismus und Linksextremismus zieht, blieb Lipset jedoch schuldig. Für ihn war die Mitte eine sozialstrukturelle (Mittelschicht) und keine politische. Mangels besserer Daten stützte er sich auf Plausibilitätsinterpretationen von Wahlergebnissen der Reichstagswahlen 1928 bis 1933. Da auch andere zeitgenössische Beobachter, Politiker und Wissenschaftler der 1930er Jahre die Mittelschichten mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus in Verbindung brachten,
Seit der akribischen Analyse der Wahlen der Weimarer Republik durch den Politikwissenschaftler Jürgen W. Falter haben die historischen Mittelschichtsthesen zur Erklärung des Aufstiegs des Nationalsozialismus eine deutliche Eingrenzung erfahren. Sie sind zwar nicht gänzlich überholt, haben aber an Erklärungskraft eingebüßt. Falter arbeitet heraus, dass kein "anderes Sozialmerkmal die nationalsozialistischen Wahlerfolge so stark beeinflusst hat wie die Konfession".
Einstellungsforschung
Die empirische Meinungsforschung stellte die Dichotomie von Demokratie und Diktatur schon immer in den Fokus. Nicht umsonst gilt sie als Demokratieforschung. Sie geht dabei mehreren Fragestellungen nach: Welche extremistischen Einstellungen gibt es, was sind die Ursachen für die Entstehung, Entwicklung und Ausprägung, und wer sind die Träger der Einstellungen? Allerdings gibt es bei der Messung von extremistischen Einstellungen
Nach der klassischen normativen (Minimal-)Definition wird Extremismus als Ablehnung von Demokratie verstanden.
So einfach sich die Definition liest, so ambitioniert ist die Umsetzung in ein sozialwissenschaftliches Projekt. Welche Dimensionen und Inhalte dem jeweiligen Extremismus zugeschrieben werden, konnte noch nicht zufriedenstellend und verbindlich erarbeitet werden. Dies gilt gleichermaßen für die schon breiter aufgestellte Rechtsextremismusforschung
Hinzu kommen methodische Schwierigkeiten: Die Ergebnisse können je nach Auswahl und Formulierung der Fragen variieren, was ebenso eine Rolle spielt wie die uneinheitlichen Messverfahren (etwa unterschiedliche Skalenlängen sowie Antwortvorgaben mit und ohne mittlere/neutrale Antwortkategorie). Auch in der Auswertung der Daten bestehen erhebliche Spielräume. In einer Studie lag das Rechtsextremismuspotenzial zum Beispiel entweder bei 2 oder bei 13 Prozent, je nachdem, ob man die ersten zwei oder die ersten drei Skalenpunkte auf einer von eins bis sieben reichenden Skala einbezog.
Die Mitte-Studien
Innerhalb der Extremismusforschung haben es die sogenannten Mitte-Studien
Schon auf die Mitte-Studie von 2006 "Vom Rand zur Mitte" regte sich ausführliche Kritik, die zu einer Diskussion über die Wissenschaftlichkeit der Untersuchung führte.
2013 formulierten die Autoren der Mitte-Studien eine These, die bereits in der ersten Studie maßgeblich war, nämlich dass "das gesellschaftliche Zentrum (…) zur Bedrohung der bestehenden Gesellschaftsordnung werden" könne.
Dies ist eine Hypothese, die man überprüfen sollte, zumal für die Grundannahme, die Extremismusforschung würde nur die "Ränder" ins Visier nehmen, jeder Beleg fehlt. Das Gegenteil ist richtig: Die soziologischen Fragen sind selbstverständlicher Bestandteil der Extremismusforschung. Nicht von ungefähr kritisiert der Politikwissenschaftler Eckhard Jesse an der theoretischen Konzeption der Mitte-Studien, dass ihnen "eine Fundamentalkritik am Extremismuskonzept" zugrunde liege.
Auf den ersten Blick widersprechen die Hypothesen der Mitte-Studien den Befunden aus der Wahlforschung. Denn Wähler rechtsextremistischer Parteien haben eher die Merkmale: jung, männlich, mittleres bis niedriges Bildungsniveau und entsprechende Berufe.
Problematisch ist auch der theoretische Bezugsrahmen, der sich zwar auch auf die "autoritäre Persönlichkeit" nach Theodor W. Adorno bezieht, die Legitimität des Ansatzes jedoch von Lipset herleitet. Lipset bezieht sich hingegen auf die Mittelschicht und nicht auf ein gesellschaftliches Zentrum, wie immer man dieses definieren mag. Des Weiteren irritiert der explizite Bezug auf Lipset, da es nach dessen Verständnis zwar einen eigenen Extremismus der Mitte, nicht aber einen Rechtsextremismus der Mitte geben kann. Lipset bezieht den Begriff "Rechtsextremismus" auf den totalitären Autoritarismus der Oberklasse, der nicht identisch ist (und auch nicht sein kann) mit dem Extremismus der Mittelklasse, für den Lipset den Faschismus und nicht den Rechtsextremismus identifiziert. Entsprechend merkt Jesse an, dass der Begriff "Extremismus der Mitte" missverständlich sei.
Wo ist "die Mitte"?
Aus empirischer Sicht ergeben sich jedoch noch größere Probleme mit dem Begriff "Mitte". Die beiden größten liegen in der Definition und der Operationalisierung. So kritisiert auch Jesse an der Formel, der Extremismus komme aus der "Mitte der Gesellschaft", dass sie "je nach Interpretation eine Banalität oder eine unbewiesene Unterstellung" sei. Selbstverständlich gebe es Rechtsextremismus auch in den mittleren sozialen Schichten der Bevölkerung. Allerdings sei es "eine unbewiesene Unterstellung, wenn suggeriert wird, von den tragenden sozialen Gruppen der Gesellschaft gehe Rechtsextremismus aus".
Es lässt sich sowohl eine soziale als auch eine politische Mitte definieren. Die genaue Grenzziehung zwischen der Mitte und dem Rest ist vor allem bei der sozialen Mitte schwierig. Wo beginnt zum Beispiel die soziale Mitte, und wo endet sie? Ab wann gehört jemand der Mittelschicht an und ab wann der Unter- oder Oberschicht? Je nach sozialstrukturellem Ansatz fallen die Definitionen unterschiedlich aus. Vor dem Schicht-Ansatz wurde lange Zeit von "Klasse" gesprochen. Inzwischen findet man neben der Einteilung in Schichten häufig eine Unterscheidung der Gesellschaft nach "sozialen Lagen", "Milieus" oder "Lebensstilen".
Beim Schicht-Ansatz wird die Einteilung in der Regel anhand des Berufs, des Einkommens und des formalen Bildungsniveaus vorgenommen. Die genaue Grenzziehung fällt aber auch hier schwer. Ab welchem Einkommen beginnt die Mittelschicht? Wie geht man mit arbeitslosen Akademikern um und wie mit gut verdienenden Arbeitern? Generell können Gruppen wie Arbeitslose, Studierende, Rentner und Hausfrauen über den Schicht-Begriff nicht eingeordnet werden, da die Einordnung primär auf Basis des Berufs vorgenommen wird. Noch schwieriger wird es, wenn man einem Milieu- oder Lebensstil-Ansatz folgt und versucht, hier die Mitte zu operationalisieren, um sie empirisch zu untersuchen, zumal zum Beispiel die Sinus-Milieus generell über Schichtgrenzen hinweg verlaufen und darüber hinaus fortlaufend verändert und an die gesellschaftlichen Veränderungen angepasst werden. Die Verwendung des Mitte-Begriffes ist somit mangels Lokalisierbarkeit der sozialen Mitte häufig wenig erhellend.
Eine politische Mitte zu definieren, erscheint aus ähnlichen Gründen problematisch, zumal sie sich im Rahmen des gesellschaftlichen und politischen Wandels inhaltlich kaum festmachen lässt. Wo befindet sich zum Beispiel die politische Mitte bei den Themen Homo-Ehe oder Atomkraft? Zudem sollte man Mitte nicht mit Mehrheit verwechseln. Wenn extremistische Einstellungen mehrheitsfähig wären, müssten sie weit in die Gesellschaft reichen, könnten aber auch eine Mehrheit haben, ohne von der Mitte getragen zu werden. Mehrheiten für oder gegen eine politische Frage haben somit wenig Aussagekraft bezüglich einer politischen oder soziologischen Mitte.
Befunde und Interpretationen
Dennoch gibt es empirische Ergebnisse, die man trotz der skizzierten Schwierigkeiten heranziehen kann, um rechtsextreme Einstellungen in der sozialen sowie der politischen Mitte – gemessen anhand der Links-Rechts-Selbsteinstufung – zu untersuchen. Dabei zeigt sich, dass Rechtsextremismus eben kein besonders ausgeprägtes Phänomen der sozialen Mitte ist. Der Politikwissenschaftler Richard Stöss misst ein rechtsextremistisches Einstellungspotenzial von 21 Prozent in der Unterschicht, 8 Prozent in der Mittelschicht und 4 Prozent in der Oberschicht. Daraus schließt er, dass "sich Rechtsextremismus weithin (aber nicht durchgängig) als ein Unterschichtphänomen" erweise.
Auch in der aktuellen Mitte-Studie von Zick und Klein heißt es: "Die Zustimmung zum Rechtsextremismus ist in dieser Mitte am geringsten", und gemeint ist damit die sozioökonomische Mitte.
Bei der Verbreitung Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit "zeigt sich – ähnlich wie bei rechtsextremen Einstellungen – dass Personen, die sich in der mittleren Schicht verorten, am wenigsten feindselig sind".
Die empirischen Befunde können demnach nicht nachweisen, dass Rechtsextremismus ein Phänomen der sozialen Mitte ist. Das Gegenteil ist der Fall: Die soziale Mitte weist sowohl beim Rechtsextremismus als auch bei Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit die geringste Anfälligkeit auf.
Wenn die soziale Mitte kein Hort des Rechtsextremismus ist, vielleicht ist es dann die politische Mitte? Doch auch hier weisen die Ergebnisse in eine andere Richtung: "Mit Blick auf die politische Mitte wird zunächst deutlich, dass diese Mitte geringere Zustimmungswerte im Vergleich zu jenen Befragten aufweist, die sich ‚rechts‘ verorten." Die Autoren schließen an diese Feststellung an: "Auch bei Befragten, die sich in der politischen Mitte verorten, ist jedoch ein erhebliches Ausmaß an Zustimmung zu rechtsextremen Einstellungen zu verzeichnen."
Ähnlich verhält es sich bei Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, die "unter politisch rechts stehenden Befragten am weitesten verbreitet" ist.
Die Daten der aktuellen Mitte-Studie können somit die These nicht bestätigen, dass Rechtsextremismus vor allem ein Phänomen der gesellschaftlichen und politischen Mitte sei. Personen, die sich selbst im politischen Spektrum rechts verorten, sind wesentlich anfälliger für Rechtsextremismus als Personen, die sich der politischen Mitte zugehörig fühlen. Doch wer verortet sich politisch rechts?
Wir sind dieser Frage mithilfe der Politbarometer-Daten von 2012 nachgegangen.
Fazit
Auch wenn nach der aktuellen Datenlage für "die Mitte" eher Entwarnung gegeben werden kann, heißt das nicht, dass dies ein Persilschein ist. Jeder kann Träger extremistischer Einstellungen sein, jeder kann für Extremismen anfällig werden. Und die Extremismusforschung in ihrer Breite hat dies auch nie infrage gestellt oder Extremismus quasi automatisch an den "Rändern" verortet.
Und hier liegt die Aufgabe der Sozialwissenschaften: immer wieder danach zu suchen, welche Extremismen in der Gesellschaft existieren und wo sie beheimatet sind. Gerade das Aufkommen des Salafismus beziehungsweise Islamismus verdeutlicht, wie wichtig auch eine präventive sozialwissenschaftliche Forschung ist, die sensibel bereits frühzeitig mit etablierten wie experimentellen Methoden extremistischen Einstellungen nachgeht.