Dass wir Menschen immer älter werden, ist, so sollte man meinen, zunächst mal eine gute Nachricht. Zwar bestimmt nach wie vor der Zufall des Geburtsorts, ob ein Neugeborenes die statistische Aussicht auf 55 Lebensjahre, wie derzeit etwa in Angola, oder 82 Jahre, wie aktuell in Japan hat. Gleichwohl ist der Anstieg der Lebenserwartung ein seit Jahrzehnten weltweit zu beobachtendes Phänomen, das sich bekanntermaßen unter anderem dem medizinischen Fortschritt verdankt.
In Deutschland und anderen Industrienationen macht diese Entwicklung mittlerweile eine grundlegende Veränderung des Verständnisses von Biografie erforderlich: Während wir bis vor Kurzem noch daran gewöhnt waren, das Leben gleichsam in drei Etappen zu entwerfen und zu bewältigen – Jugend, Erwachsenenalter/Erwerbstätigkeit und Alter/Ruhestand –, öffnet sich nun mit dem 80. Geburtstag für eine stetig wachsende Zahl von Menschen eine neue Lebensphase, die von Demografen als das "vierte Alter" bezeichnet wird und ganz eigene Herausforderungen für die hochbetagten Einzelnen und ihr soziales Umfeld mit sich bringt.
Tatsächlich stellt die demografische Entwicklung Individuen und Gesellschaft vor immense Aufgaben, deren öffentliche Problematisierung die gute Nachricht vom langen Leben durchaus überschattet. So steigt mit dem Überschreiten der Schwelle ins vierte Alter die Wahrscheinlichkeit von Krankheit und Pflegebedürftigkeit sprunghaft an
Länger leben – aber nicht um jeden Preis
"Jeder möchte lange leben, aber keiner will alt werden",
Glaubt man entsprechenden Umfragen, wünscht sich nicht nur in Deutschland eine große Mehrheit der Menschen die Verfügbarkeit von Hilfe, um ihrem Leben in diesem Fall selbstbestimmt und eigenhändig ein schnelles und schmerzfreies Ende zu setzen. Die prinzipielle Zugänglichkeit des sogenannten assistierten Suizids, also die Bereitstellung von Substanzen, die vom Sterbewilligen selbst eingenommen werden und ihm den sicheren Tod ohne physische Schmerzen ermöglichen, stellt für sie eine beruhigende Perspektive dar: Selbst entscheiden zu können, welches Ausmaß an Leid man zu tragen bereit ist, und auf die Unterstützung anderer zählen zu können, wenn diese Grenze überschritten wird, lindert für manchen die Angst vor extremer Belastung, die wohlweislich nicht dem hohen Alter vorbehalten ist, sondern uns jederzeit treffen kann. Ob sie entsprechende Hilfe im Ernstfall tatsächlich in Anspruch nehmen würden, ist dabei für viele keineswegs ausgemacht. Ihnen geht es neben der Anerkennung ihres Rechts auf Selbstbestimmung über den Zeitpunkt des eigenen Todes vornehmlich darum, prinzipiell die Möglichkeit zu haben, ihr Leben leidensfrei zu beenden, wenn es für sie zur unerträglichen Last wird.
Doch was die einen beruhigt, empfinden die anderen als bedrohlich. So wird in der öffentlichen, politischen und fachwissenschaftlichen Kontroverse um die Zulässigkeit des assistierten Suizids immer wieder die verständliche Sorge laut, die gesellschaftliche Anerkennung der Suizidbeihilfe und die damit einhergehende Enttabuisierung der Selbsttötung könne langfristig ein Prinzip untergraben, das zu den moralischen Grundfesten unseres Zusammenlebens zählt: Es ist das Prinzip der absoluten Schutzwürdigkeit allen menschlichen Lebens. Trotz diesbezüglich entwarnender Daten aus Ländern, die – wie etwa die Schweiz, Belgien oder der US-Bundestaat Oregon – bereits Erfahrung mit der Praxis des assistierten Suizids haben,
In der Debatte um den assistierten Suizid, die in der Bundesrepublik derzeit spürbar durch das im Herbst anstehende gesetzliche Regulierungsvorhaben geprägt ist, fällt auf, dass der eigentliche Akt der Hilfe beim Suizid längst in den Hintergrund getreten ist. Während die einen über eine sozial institutionalisierte Praxis der Suizidbeihilfe reden und vor den vermeintlichen Folgen ihrer rechtlichen Freigabe warnen, verteidigen andere das hierzulande weitgehend unbestrittene und grundgesetzlich geschützte Recht auf Selbstbestimmung, das auch den Zeitpunkt des eigenen Todes einbezieht.
Denn auch wenn jemand das Recht hat, seinem Leben ein Ende zu setzen, muss das noch nicht heißen, dass es auch moralisch zulässig ist, ihm dabei zu helfen. Und dass manche die Gewährung von Suizidbeihilfe als Empfehlung zur Selbsttötung missverstehen oder Dritte sie dazu missbrauchen könnten, Menschen, die noch gar nicht sterben wollen, zum Suizid zu nötigen, reicht sicher nicht aus, um den Akt der Hilfe als solchen moralisch zu disqualifizieren. Die ethische Frage, ob man die authentische und klarsichtige Bitte einer schwer leidenden Person um Suizidbeihilfe erfüllen darf, ist daher weder durch den Verweis auf deren Selbstbestimmungsrecht noch durch Mutmaßungen hinsichtlich einer lebensfeindlichen Entwicklung des sozialen Klimas überzeugend beantwortet.
Wie also steht es um die Suizidbeihilfe, wenn man sie aus der Perspektive der Moral betrachtet und nach der Ethik des Helfens fragt? Wie kommt es, dass diese Form der Hilfe moralisch so umstritten ist, wo es doch gemeinhin als lobenswert, ja oft gar als geboten gilt, notleidenden Menschen Hilfe zu gewähren?
Die Tugend der Hilfsbereitschaft
Tatsächlich hat das Helfen im Allgemeinen einen moralisch guten Ruf. Hilfsbereite Mitmenschen, die die Augen vor der Bedürftigkeit anderer nicht verschließen, werden allseits geschätzt und ernten nicht selten Anerkennung. Das gilt für die Kollegin, die ihr freies Wochenende opfert, um mir beim Umzug zu helfen, ebenso wie für den barmherzigen Samariter, der dem "unter die Räuber gefallenen" Fremden das Leben rettet und dessen weitere Versorgung sicherstellt.
Dass die Norm der Hilfsbereitschaft überkulturell unbestrittene Geltung beanspruchen kann, mag auch damit zusammenhängen, dass wir alle von ihrer Anerkennung profitieren, denn Hilfsbedürftigkeit ist dem Menschen wesentlich eigen, sie ist eine anthropologische Grundkonstante. Die Menschen, so formuliert es der Philosoph Immanuel Kant, sind "als bedürftige, auf einem Wohnplatz durch die Natur zur wechselseitigen Beihülfe vereinigte vernünftige Wesen"
Dabei stellt das Helfen eine in zweierlei Hinsicht besondere Form der Unterstützung dar. Anders als beispielsweise die Ermutigung leistet echte Hilfe nicht nur einen förderlichen, sondern einen ausschlaggebenden Beitrag dazu, dass andere ihr jeweiliges Ziel erreichen: Mag sein, dass ich den Umzug auch ohne die Hilfe meiner Kollegin über die Bühne gebracht hätte – vielleicht gab es andere, die für sie eingesprungen wären. Aber nachdem sie es war, die mir geholfen hat, verdanke ich es auch ihr, dass ich nun mein neues Zuhause bewohne. Dass Hilfe im Erfolgsfall entscheidend zur Verwirklichung der Ziele anderer beiträgt, erklärt denn auch, warum die Helfer und Helfershelfer einer Tat in anderer Weise – moralisch wie rechtlich – für deren Ergebnis mitverantwortlich gemacht werden als das bloße Unterstützerumfeld. Sie sind insofern als "Mittäter" zu betrachten, als sich der Handlungserfolg auch und erst durch ihre tatkräftige Beteiligung eingestellt hat.
Und es gibt eine zweite Besonderheit, die das Helfen auszeichnet, und zwar insbesondere im Vergleich mit der Kooperation als einer Form der Unterstützung, die für unser Zusammenleben ebenfalls unverzichtbar ist und es wesentlich prägt. Während wir einander als Kooperationspartner wechselseitig zum Ziel verhelfen, weil und insofern dies unseren je eigenen Interessen dient, ist die Hilfeleistung insofern asymmetrisch, als sie die Interessen und das Wohl der Helfenden – wenn überhaupt – unabsichtlich befördert. Wer hilft, stellt seine persönlichen Interessen zurück und seine Energie und Fähigkeiten in den Dienst der Interessen eines anderen, und zwar um des anderen und seines Wohles willen. Er oder sie macht sich, wiederum mit Kants Worten, die "Glückseligkeit anderer (…) zum Zweck"
Verwerfliche Hilfe?
Das gilt gleichwohl nicht immer, und damit kehren wir zurück zur Kritik an der Suizidbeihilfe. Denn ob es moralisch lobenswert, ja auch nur zulässig ist, anderen bei der Verfolgung ihrer Ziele zu helfen, hängt nicht zuletzt davon ab, was das für Ziele sind. So mag etwa die Beihilfe zur Steuerhinterziehung als Beispiel einer Hilfstätigkeit dienen, die zu Recht als moralisch verwerflich gilt, weil der Zweck die Verletzung einer Pflicht bedeutet, an die jeder von uns – also nicht nur der Handelnde, sondern auch die Person, die ihm hilft – gebunden ist. Hilfe ist, mit anderen Worten, nicht grundsätzlich eine gute Sache, sondern immer nur so gut, wie der Zweck, dem sie dient.
Tatsächlich ist es diese Überlegung, die, wie mir scheint, einen Großteil der moralischen Kritik an der Suizidbeihilfe motiviert. Obwohl Zweifel an der moralischen Zulässigkeit der Selbsttötung eher selten laut werden, spielen sie meines Erachtens in der Debatte um den assistierten Suizid eine entscheidende Rolle. Denn auch wenn der Versuch, sich das Leben zu nehmen, in den meisten Ländern heutzutage nicht mehr staatlich sanktioniert wird:
Angesichts des Leides, das ein Suizid in aller Regel für das nähere soziale Umfeld der betroffenen Person bedeutet, lassen sich die genannten moralischen Bedenken gegenüber dem Suizid psychologisch leicht nachvollziehen. Aber sind sie auch moralisch gerechtfertigt? Sind wir wirklich verpflichtet, unser Leben fortzusetzen, auch wenn es uns zur Qual geworden ist? Und heißt das, dass, wer der Bitte eines anderen um Hilfe bei der Selbsttötung entspricht, etwas moralisch Verwerfliches tut, ja sich quasi zum Komplizen eines Unrechts macht, mögen seine Motive auch noch so uneigennützig sein?
Ich bin der Überzeugung, dass die Antwort auf beide Fragen "nein" lautet: Wir müssen unser "natürliches Ende"
Um diesen Gedankengang verständlich zu machen, gilt es zunächst zu erläutern, worin genau die moralische Verpflichtung, unser Leben nicht eigenhändig zu beenden, besteht und wie sich die damit einhergehende Einschränkung des Rechts auf Selbstbestimmung in existenziellen Angelegenheiten begründen lässt.
Gibt es eine moralische Pflicht, sich nicht zu töten?
Wenn ein Mensch sich das Leben nimmt, bedeutet das für diejenigen, die ihm nahe stehen, in der Regel großen Schmerz.
Als Reaktion auf das Handeln anderer gilt Empörung als angemessen, wenn jemand etwas getan hat, was er nicht hätte tun dürfen. Empörung ist gleichsam der emotionale Indikator einer moralischen Pflichtverletzung. Ist sie im Fall der Selbsttötung gerechtfertigt und wenn ja, wodurch?
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass es das durch den Suizid hervorgerufene Leid der Angehörigen ist, das uns zu Recht empört. Demnach wäre es falsch, sich zu töten, weil wir moralisch verpflichtet sind, anderen nicht derart erheblichen Schaden zuzufügen. Aber dieses Argument lässt sich nicht lange durchhalten. Wenn wir die Pflicht hätten, alles zu unterlassen, was für unsere Mitmenschen schweres Leid bedeutet, ihr Leben vollständig auf den Kopf stellt und sie in Verzweiflung stürzt, müsste nicht nur der Suizid als verwerflich gelten, sondern viele andere mehr oder weniger existenzielle Entscheidungen auch: Jemandes Liebe gar nicht erst zu erwidern oder eine bereits bestehende Beziehung zu beenden, die eigene sexuelle Orientierung zu leben, obwohl sie den religiösen Überzeugungen der Eltern zutiefst entgegensteht, ein Unternehmen zu gründen, dessen Erfolg die Konkurrenz in Konkurs gehen lässt – all das und vieles mehr sind Handlungsweisen, die für andere Menschen durchaus großes Leid bedeuten können, aber sicher nicht als moralische Pflichtverletzungen zu betrachten sind. Dass, technisch formuliert, unser Handeln für Dritte von erheblichem Nachteil ist, heißt nicht schon, dass es moralisch falsch oder gar verwerflich war. Wir dürfen andere Menschen verletzen, auch die, die uns in besonderer Weise nahestehen, und manchmal bleibt uns gar nichts anderes übrig, wenn wir unseren eigenen Weg gehen und ein authentisches, ein gelingendes Leben führen wollen.
Es ist denn auch nicht das sogenannte Nicht-Schädigungsprinzip, das verpflichtende Gründe stiftet, unser Leben nicht "vor der Zeit" zu beenden. Die normative Basis dieser Verpflichtung ist, so meine ich, eine andere.
Die Bedeutung von Beziehungen für das gute Leben
Menschen sind soziale Wesen. Nur im Verbund mit anderen können wir gedeihen und diejenigen Güter erlangen, die ein gelingendes Leben auszeichnen. Dazu gehört auch die Beziehung zu Menschen, für die es von zentraler Bedeutung ist, dass es mich gibt, und die das Risiko eingehen, nicht bloß ihr Wohlergehen, sondern ihr Selbstverständnis mit meiner Existenz zu verknüpfen. Ohne Menschen, die sich und ihre soziale Identität wesentlich mit mir verbinden und mit denen ich in derselben Weise verbunden bin, ohne Beziehungen, für die die wechselseitig vertrauensvolle Sorge um das Wohlergehen der anderen Person konstitutiv und verbindlich ist, ist ein gutes Leben für Wesen wie uns nicht denkbar. Beziehungen dieser Art haben in diesem Sinne intrinsischen Wert und sie sind, so scheint mir, erst aufgrund eines wechselseitigen Commitments möglich, das sich vielleicht am besten im Sinne des impliziten Versprechens verstehen lässt, auch morgen noch (füreinander) da zu sein.
Diese Zusage ist es nun, aus der sich nach meiner Überzeugung die prinzipielle Verpflichtung ableitet, unser Leben nicht eigenhändig zu beenden. Eine Verpflichtung, die das Recht einer Person auf Selbstbestimmung über den Zeitpunkt des eigenen Todes allein denjenigen gegenüber einschränkt, mit denen sie in dieser besonderen Weise verbunden ist. Im Laufe eines langen, intensiven Lebens wird der Kreis dieser Menschen wachsen und seine Mitgliedschaft wechseln. Wer das vierte Lebensalter erreicht, macht zudem in der Regel die schmerzhafte Erfahrung, viele seiner einstigen Lebensgefährten zu überleben. Die Runde derjenigen, mit denen wir im hohen Alter eng verbunden sind, schrumpft zusehends, und es kann deutlich mühsamer werden, neue bedeutsame Bindungen einzugehen. Gleichwohl ist Einsamkeit kein Privileg des Alters, so wenig wir ein reiches Beziehungsleben den jugendlicheren Phasen unseres Lebens vorbehalten ist. Jene intrinsisch wertvollen Bindungen, die jene verpflichtenden Gründe zum "Weiterleben" stiften, sind in jedem Lebensalter möglich – wo sie bestehen, ist unsere Selbstbestimmung in Sachen Selbsttötung eingeschränkt.
Dass andere uns brauchen, hebt das Recht auf Selbstbestimmung jedoch nicht grundsätzlich auf. Im Gegenteil. Das, was gemeinhin Autonomie genannt wird, ist ein wesentlicher Teil des Personseins, und es ist gerade die Person des anderen, und nicht allein sein Körper oder seine biologische Existenz, mit der wir uns im Rahmen solcher Beziehungen verbinden. Deren moralischer Wert und damit ihr Potenzial, überhaupt erst entsprechende Verpflichtungen zu generieren, beruht daher immer schon auf der wechselseitigen Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts. Allein, sofern es die Selbsttötung betrifft, unterliegen wir aus den genannten Gründen einer wesentlichen Einschränkung unserer Autonomie.
Tatsächlich sollten wir das Recht auf Selbstbestimmung in Fragen des eigenen Sterbens vor diesem Hintergrund meines Erachtens als ein Recht auf Freiheit von Fremdbestimmung verstehen. Als solches verbietet es, dass andere über den Zeitpunkt meines Todes bestimmen, etwa indem sie mein Leben durch entsprechende medizinische Interventionen verlängern, ohne dass ich dem zugestimmt hätte, mich dazu nötigen, lebenserhaltende Therapien in Anspruch zu nehmen, obwohl ich das nicht will, oder mich zum Suizid drängen, wenn ich weiterleben möchte. Aber mein Selbstbestimmungsrecht beinhaltet nicht schon die Freiheit, mir in dem Moment das Leben zu nehmen, der mir als der geeignete Todeszeitpunkt erscheint.
Warum es uns erlaubt ist, unser Leben zu beenden
Dass daraus gleichwohl nicht folgt, dass wir um jeden Preis unser natürliches Ende abwarten müssen, ergibt sich nun interessanterweise aus exakt derselben Überlegung, die diese Einschränkung unserer Freiheit rechtfertigt. Die Grenzen meiner moralischen Pflicht, mich nicht zu töten, wurzeln, mit anderen Worten, in eben jenem Boden, aus dem diese Verpflichtung erst erwächst, nämlich dem Wert und Wesen von Beziehungen, für die die vertrauensvolle Verbindung mit dem anderen als einer autonomen Person und die Sorge um sein Wohl konstitutiv und verbindlich ist.
Nicht erst die Debatte um den assistierten Suizid hat deutlich gemacht, dass es Umstände geben kann, unter denen der schmerzfreie und sichere Tod für einen Menschen die Erlösung von schwerem Leid bedeutet. Es sind in aller Regel Umstände dieser Art, unter denen eine Person das Sterben herbeisehnt und den Suizid in Erwägung zieht: die Grenze dessen, was sie subjektiv an Leid zu ertragen bereit oder imstande ist, ist erreicht, und es ist keine Linderung auf für sie zumutbarem Weg oder in für sie zumutbarer Frist in Sicht. Wem gegenüber kann ein Mensch unter solchen Umständen noch zum Weiterleben verpflichtet sein? Ich glaube: niemandem. Wenn die gegenüber den "Beziehungspartnern" bestehende Pflicht, das eigene Leben nicht zu beenden, in der stillschweigenden Zusage wurzelt, dass wir wechselseitig um die Verletzlichkeit des anderen wissen und die Sorge um sein Wohl als verbindlich ansehen, dann bindet diese Zusage auch die anderen. Es ist nun an ihnen, ihr Commitment dadurch zu zeigen, dass sie den Sterbewilligen von seiner Pflicht, sich nicht zu töten, entbinden. Darauf zu bestehen, dass er bleibt und ausharrt, ist, so meine ich, nicht nur ein Verrat am eigentlichen Gut der Beziehung. Es wäre auch ein Missbrauch der moralischen Macht, die wir über Menschen haben, die in verbindlicher Weise ihr Leben mit uns teilen und es dadurch reich machen. Unter der Bedingung subjektiv unerträglichen Leids hat eine sterbewillige Person daher einen moralischen Anspruch darauf, aus der "Pflicht zum Weiterleben" entlassen zu werden, sodass sie keine Verpflichtung verletzt, wenn sie beschließt, sich zu töten.
Man könnte meinen, dass diese Überlegungen letztlich auf dasselbe hinaus laufen, wie die Position derjenigen, die mit Verweis auf unsere Autonomie ein Recht auf Selbstbestimmung über den Zeitpunkt des eigenen Todes einfordern: Denn kommt nicht der Umstand, dass die anderen mich ohnehin aus meiner Verpflichtung, weiterzuleben, entlassen müssen, der Behauptung gleich, dass ich in dieser Frage durch keine Pflicht gebunden bin und insofern selbstbestimmt handeln kann? Das ist meines Erachtens ein Missverständnis.
Tatsächlich besteht ein moralisch entscheidender Unterschied zwischen dieser Argumentation und der hier vorgestellten Überlegung, dass wir erstens prinzipiell die Pflicht haben, uns nicht zu töten, sodass zweitens das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Tod als Recht auf Freiheit von Fremdbestimmung zu verstehen ist, das gleichwohl drittens mit dem Anspruch einhergeht, unter bestimmten Bedingungen von meiner Pflicht entbunden zu werden. Denn auch wenn es zutrifft, dass wir angesichts des bestehenden Anspruchs auf Entbindung praktisch nicht darauf angewiesen sind, dass die anderen uns quasi die Erlaubnis zum Suizid auch faktisch erteilen – es reicht zu wissen, dass sie in bestimmten Fällen dazu verpflichtet sind –, ist es etwas grundsätzlich anderes, ob wir einen Anspruch darauf haben, von einer Pflicht entbunden zu werden, oder ob diese Pflicht gar nicht erst besteht. Denn wenn letzteres der Fall ist, müssen damit einhergehende berechtigte Erwartungen anderer in unseren Erwägungen von vornherein keine Rolle spielen, und darin besteht eines der Probleme der autonomiebasierten Argumentation zugunsten der Zulässigkeit des Suizids.
Aus meiner Sicht macht es, mit anderen Worten, einen großen Unterschied, ob wir den Beschluss, unser Leben zu beenden, völlig autark fällen dürfen, oder ob wir im Wissen um unsere wechselseitige Verpflichtung diejenigen, mit denen wir unser Leben teilen, nicht nur in unsere internen Überlegungen, sondern in den konkreten Prozess unserer Entscheidungsfindung, in unsere Verzweiflung am Leben und unsere Hoffnung auf den Tod auf jeweils geeignete Weise mit einbeziehen. Selbst bestimmen zu können, heißt meines Erachtens nicht notwendigerweise auch, allein entscheiden zu dürfen.
Auch wenn es auf den ersten Blick als Zumutung erscheinen mag, die uns nahestehenden Menschen in das Vorhaben, unser Leben zu beenden, einzuweihen und noch dazu quasi um ihre Zustimmung zu bitten, gilt es zu bedenken, dass die Konfrontation mit dem unangekündigten Suizid eines Angehörigen sicher keine geringere Zumutung darstellt. Es spricht daher einiges dafür, das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Tod als Anspruch darauf zu verstehen, dass die mir Nahestehenden meine Bitte um Entbindung von einer bestehenden Pflicht gewähren, und es spricht einiges dafür, diese Bitte auch tatsächlich zu äußern, bevor ich den Beschluss fasse, mir das Leben zu nehmen.
Darf ich helfen?
Was folgt aus all dem nun für die ursprüngliche Frage nach der Moral der Hilfe beim Suizid? Wenn die vorangegangen Ausführungen einleuchten, immerhin eines: Die moralische Kritik an der Suizidbeihilfe ist, sofern sie sich mit dem Argument der Komplizenschaft auf die Verwerflichkeit der Selbsttötung beruft, nicht überzeugend. Sie ist es jedenfalls nicht in denjenigen Fällen, in denen über die Beihilfe zum Suizid ernsthaft diskutiert wird, denn in diesen Situationen stellt die Selbsttötung aus den genannten Gründen schlicht kein moralisches Unrecht dar.
Doch reicht es aus, zu wissen, dass der andere sich töten darf, um darin gerechtfertigt zu sein, ihm dabei zu helfen? Ist die moralische Zulässigkeit des Aktes, den ich mit meiner Hilfe befördere, die einzige Bedingung dafür, dass ich helfen darf? Die Antwort auf diese Frage ist zweiteilig.
Zunächst einmal spricht meines Erachtens einiges dafür, dass die moralische Zulässigkeit einer Handlung unter "normalen" Umständen tatsächlich nicht nur eine notwendige, sondern eine hinreichende Voraussetzung dafür darstellt, dass es Dritten erlaubt ist, die Handlung zu befördern. Im Fall der Suizidbeihilfe würde dann gelten: "Wenn du dich töten darfst, darf ich dir dabei helfen." Allerdings ist es durchaus denkbar, dass es Handlungen gibt, mit Blick auf die die Geltung dieses Prinzips mindestens fraglich ist – etwa solche, die zwar moralisch zulässig, aber in hohem Maße unklug sind, weil sie massiv gegen die eigenen Interessen des Handelnden verstoßen.
Doch die Frage nach der Zulässigkeit meiner Hilfe – und darin besteht der zweite Teil der Antwort – ist ohnehin nicht die einzige Frage, die sich aus moralischer Perspektive stellt. Wer einem anderen bei der Verfolgung seiner Ziele hilft, trägt, wie eingangs erläutert wurde, in ausschlaggebender Weise dazu bei, dass dieser seine Ziele erreicht. Wer hilft, ist für das Ergebnis mitverantwortlich – und diese Verantwortungsübernahme gilt es zu bedenken, bevor ich mich als Sterbehelfer, Ärztin oder Angehörige entscheide, einem suizidwilligen Menschen die Hilfe zu gewähren, um die er mich bittet. Nicht nur die Frage, ob der andere sich töten darf, auch die Frage, ob ich damit leben kann, ihm dabei geholfen zu haben, ist eine moralisch relevante Frage.
In seiner Novelle "Ein Bekenntnis" erzählt Theodor Storm die Geschichte eines Arztes, der die flehentliche Bitte seiner sterbenden Frau, er möge ihren unerträglichen Todeskampf beenden, schließlich schweren Herzens erhört, und kurz darauf von einer Therapie erfährt, die ihre Krankheit hätte heilen können.