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Zum kulturgeschichtlichen Kontext der Verhandlungen über das Lebensende Hochbetagter - Essay | Hochbetagt | bpb.de

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Zum kulturgeschichtlichen Kontext der Verhandlungen über das Lebensende Hochbetagter - Essay

Reiner Sörries

/ 18 Minuten zu lesen

Über der aktuellen Sterbehilfedebatte schwebt, unausgesprochen, auch das Argument der ökonomischen Relevanz des frühzeitigen Ablebens Hochbetagter. Kulturgeschichtlich lässt sich zeigen, dass diese Überlegungen keineswegs neu sind.

Zumindest weiß es die Statistik, dass die Menschen immer älter werden, und viele von ihnen bleiben gesund, vital und unternehmenslustig. Die jungen Alten nennt man gerne die Generation der Golden Agers, und sie sind als Konsumenten hoch geschätzt. Doch nicht wenige bezahlen dann das hohe Alter mit Krankheit oder gar Pflegebedürftigkeit und werden zu einer Belastung für die Gesellschaft. Sie konsumieren allenfalls medizinische und pflegerische Leistungen, die sie, je länger je mehr, nicht mehr selbst finanzieren können. Muss sich da die Gesellschaft nicht darüber Gedanken machen, wie eine steigende Zahl solcher Menschen volkswirtschaftlich zu verkraften ist?

Euthanasie versus Euthanasia

Die Nationalsozialisten hatten ausgerechnet, was ein "Krüppel" oder "Erbgeschädigter" die "Volksgemeinschaft" kostet. In Reden, Schulbüchern und auf Plakaten informierte man die Bevölkerung über die Schäden, die durch ein "Durchfüttern" der "Ballastexistenzen" entstehen: "Zu der fortschreitenden Verdummung kommt noch die Belastung des Volkskörpers mit unbrauchbaren, verbrecherischen Elementen, mit körperlich Kranken, denen das Leben zur Qual wird, mit Epileptikern, Irrsinnigen, Säufern usw. Der jährliche Gesamtaufwand für die erblich Minderwertigen beträgt in Deutschland zur Zeit etwa 350 Millionen Reichsmark." "Hier trägst Du mit" lautete die Botschaft auf einem Plakat, auf dem ein Mann zwei offenkundig "Unbrauchbare" auf seinen starken, aber dadurch niedergedrückten Schultern trägt: "Ein Erbkranker kostet bis zur Erreichung des 60. Lebensjahres im Durchschnitt 50.000 RM."

Mit groß angelegten Euthanasieprogrammen hatte man begonnen, die Schwachen "auszumerzen", um die Volksgemeinschaft zu schützen, aber auch um die Kosten für die "hoffnungslosen Fälle" zu sparen. Moralisch konnte man sich auf die Thesen vom "unwerten Leben" stützen, und dass es doch sogar im Sinne dieser armen Geschöpfe sei, von ihrem Leiden erlöst zu werden. Bereits der Zoologe, Philosoph und Freidenker Ernst Haeckel (1834–1919) hatte mit dem Verweis auf den in vielen Kulturen geübten Infantizid für die Euthanasie behinderter Kinder plädiert. Der österreichische Psychologe Adolf Jost hatte 1895 Überlegungen angestellt, es könne Situationen geben, in denen der Tod eines Individuums sowohl für dieses selbst als auch für die Gesellschaft überhaupt wünschenswert sei. Schließlich waren es jedoch der Leipziger Jurist Karl Binding und der Freiburger Psychiater Alfred Hoche, die Anfang der 1920er Jahre die wissenschaftliche Grundlage für eine Beseitigung der Schwachen schufen und die Vernichtung unwerten Lebens propagierten.

Diese Vorgeschichte ist weitgehend bekannt, ebenso sind es die konkreten Tötungsmaßnahmen der Nationalsozialisten. Seit dieser Zeit hat die Euthanasia, die seit dem klassischen Altertum im positiven Sinn als gutes Sterben und durchaus als Hilfe zu einem guten Sterben verstanden wurde, als Euthanasie einen arg bitteren Beigeschmack angenommen.

"Der moderne Tod"

Man tut sich schwer, sachlich und emotionslos über die vorzeitige Beendigung des Lebens zu reden, und dennoch sind die Überlegungen zu einer Euthanasie aus ökonomischen oder sogar aus ethischen Gründen nie ganz verstummt. Immerhin gibt es jetzt modernere Konzepte, die ein "sozialverträgliches Frühableben" für erwägenswert oder gar notwendig halten. Noch bevor der damalige Präsident der Bundesärztekammer Karsten Villmar dieses Unwort des Jahres 1998 geprägt hatte, hatte der schwedische Schriftsteller Carl-Henning Wijkmark 1978 mit einem kleinen Buch mit dem Titel "Den moderna döden" – zunächst nur in schwedischer Sprache – eine Diskussion vorweggenommen, die auf moderne Industriestaaten zukommen könnte, falls es nicht gelingen würde, die "Rentnerschwemme" – so das Unwort des Jahres 1996 – zu bewältigen. Wie soll man angesichts ihrer wachsenden Anzahl mit den unproduktiven Alten umgehen, die nur noch Geld kosten und die Volkswirtschaft belasten?

Wijkmark schilderte einen fiktiven Dialog unter schwedischen Experten, die auf Einladung von Dellem, einer Projektgruppe für Altersfragen im schwedischen Sozialministerium, in einem behaglichen Hotel am Öresund zusammengekommen waren, um die Frage zu erörtern, wie man überflüssige Menschen auf möglichst humane Art töten könne. Dabei sollte unbedingt auf die Einsicht der Betroffenen gesetzt werden, dass es nicht gut sei, aus egoistischen Gründen am Leben festzuhalten. Am besten sei es nämlich, wenn die Alten aus freien Stücken in ihr Ableben einwilligten. Erst 2001 erschien das Buch dann in deutscher Sprache unter dem Titel "Der moderne Tod. Vom Ende der Humanität".

2005 wurden in Hamburg und Senftenberg Theaterfassungen des "modernen Todes" uraufgeführt und angesichts der aktuellen Sterbehilfedebatte 2015 im Volkstheater Rostock neu ins Programm genommen, und zwar in dieser Version:

"In der vergangenen Woche fand in Sitzungszimmer N207 im Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Berlin eine lange geplante Sitzung zum Thema Sterbehilfe statt. Die Teilnehmer hatte man im Vorfeld um strikte Vertraulichkeit gebeten. Es ging um 'heikle Fragen'. Als Erstes ergriff Abteilungsleiter Bert Persson das Wort, Leiter der Projektgruppe des Ministeriums, die sich mit der sozialpolitischen Dimension des letzten Lebensabschnitts beschäftigt. Persson holte weit aus, sprach über das demografische Problem, die Belastungen für die junge Generation, die explodierenden Pflegekosten. 'Wir müssen', sagte Persson, 'die Probleme zusammen mit den Alten lösen, nicht gegen sie.' Dann stellte er die Vorschläge seiner Projektgruppe vor. Sie will vor allem an den Gemeinschaftssinn der älteren Generation appellieren. Den Senioren müsse klargemacht werden, welche Opfer sie der Gesellschaft abverlangen. Man müsse, forderte Persson, die Einstellung zum Tod verändern. Natürlich nicht sofort nach der Pensionierung, sondern erst, 'wenn die Kräfte abnehmen und die Alterskrankheiten einsetzen'. Unterstützt wurde Persson von Caspar Storm, Professor am Institut für medizinische Ethik. Er forderte in seinem kurzen Vortrag eine 'neue Lebens- und Todesethik'. Widerspruch gab es nach Angaben von Teilnehmern kaum. Man beschloss zu prüfen, wie eine Telefon-Hotline eingerichtet werden könne, die Sterbewillige an entsprechende Organisationen vermittelt. Perssons Fazit ist eindeutig: 'Wir brauchen schnell mehr Tote.'" Aber das ist ja nur Theaterdonner – noch.

Der altruistische Selbstmord

Doch ist das wirklich nur ferne Zukunftssorge? Immerhin resümiert der Sozialwissenschaftler Ludger Fittkau 2006, dass Sterbehilfe seit ihrer "Erfindung" am Ende des 19. Jahrhunderts ein doppeltes Gesicht besitze. Zum einen soll sie dem Einzelnen die Kontrolle über das Sterbegeschehen und den Todeszeitpunkt geben. Zum anderen bietet sie der Gesellschaft die Möglichkeit einer "biologischen Politik". Im Sterbehilfediskurs ging es von Beginn an um politische Ökonomie, beispielsweise um Ressourcenpolitik im Gesundheitssystem. Es waren Biologen und Ökonomen, die als erste ein Recht auf Sterbehilfe propagierten. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Wo immer es um Sterbehilfe geht, sind Überlegungen zur Bevölkerungsentwicklung, zu Budgetbelastungen durch Altersdemente oder psychisch Kranke nicht weit.

Haben denn die Projektgruppen auf der schwedischen Insel oder im Berliner Ministerium in den Inszenierungen von "Der moderne Tod" nicht mit guten Gründen für ein gesellschaftspolitisch notwendiges Lebensende plädiert, durchaus mit dem Verweis auf den alten Grundsatz, dass Allgemeinwohl vor Eigennutz gehe? Ist es dann nicht eine gute Tat, wenn ein Hochbetagter beschließt, der Gemeinschaft nicht länger als Kostgänger zu schaden?

In seiner bis heute hoch geachteten Schrift "Der Selbstmord" von 1897 hat der französische Soziologe und Ethnologe Émile Durkheim differenzierend von einem "altruistischen Selbstmord" gesprochen. Im Gegensatz zum "egoistischen Selbstmord" wird der altruistische Selbstmord von Menschen verübt, die sehr gut oder sogar übermäßig in eine vorhandene Sozialstruktur eingebunden sind. Dabei verweist er auf Gesellschaften, in denen die Selbsttötung unter bestimmten Voraussetzungen als notwendig erachtet wird. Dazu gehören Formen der sogenannten Totenfolge, die in klassischer Weise in der Witwenverbrennung in Indien zum Ausdruck kommt. Andere Beispiele bieten verschiedene Arten von Selbstmordkommandos für einen gedachten guten Zweck, von den japanischen Kamikazepiloten im Zweiten Weltkrieg bis zu den Selbstmordattentaten strenger Islamisten. Selbstverbrennungen aus politischen Gründen kennt aber auch unser Kulturkreis oder den Hungerstreik, bei dem der eigene Tod in Kauf genommen wird. In den jeweiligen Gesellschaften oder Gruppen genießt die deshalb vollzogene Selbsttötung einen hohen Stellenwert. Letztlich können viele Gründe gegeben sein, die ein Gruppenmitglied zur Selbsttötung veranlassen, um dem Wohl der ganzen Gruppe zu dienen, und der Gedanke, der Gruppe, der Familie, den Angehörigen nicht zur Last fallen zu wollen, kann ebenfalls einen altruistischen Selbstmord zur Folge haben. Diesen Gesichtspunkt betonen heute Gegner der aktiven Sterbehilfe, die befürchten, dass auf alte, kranke, nicht mehr produktive Menschen Druck ausgeübt werden könnte, ihrem Leben, dass die Gruppe nur noch belastet, ein Ende zu setzen. Die Betroffenen könnten es als Verpflichtung ansehen, diesen Schritt zu gehen. Es sind Verhältnisse denkbar, in denen die Selbsttötung zu einem gesellschaftlichen wie individuellen Wert erkoren wird. Dabei kann die Einschätzung entstehen, dieser Tod sei ein guter Tod. Nicht nur in religiösen Kreisen kann der Tod für andere, der Opfertod, zu einem Wert an sich werden. Und dann ist es lediglich die Frage, wofür ein Opfer, gar das Opfer des eigenen Lebens sinnvoll, wünschenswert oder sogar geboten erscheint.

Abwägung zwischen höher- und minderwertigem Leben

Gibt es folglich doch eine Abwägung zwischen höher- und minderwertigem Leben? Kann die prospektive Lebensperspektive der Organempfänger die eingeschränkte Lebensqualität des Spenders überwiegen? Den Tod für andere als moralisches Gut zu implizieren bedeutet, dass es neben dem einen Leben ein höherrangiges anderes gibt, zu dessen Gunsten es erlaubt oder sogar geboten ist, den Tod zu wählen. Im Falle von Pater Maximilian Kolbe, 1941 in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert, entschied sich der Ordensmann dafür, sein Leben für den Mithäftling zu geben, weil dieser als Familienvater Frau und zwei Söhne hatte im Gegensatz zu dem alleinstehenden Pater. Heutzutage sind es beispielsweise Personenschützer, deren Aufgabe und Pflicht es ist, gegebenenfalls ihr Leben für das Leben der zu schützenden Person zu opfern. Auch dies funktioniert nur dann, wenn das Leben der zu schützenden Person höherwertig eingestuft wird als jenes der Personenschützer. Solche Differenzierungen von Wertigkeiten von Leben widersprechen zwar nicht nur christlichen Überzeugungen von der unbedingten Gleichheit aller Menschen, sondern auch den Grundsätzen der allgemeinen Menschenrechte, aber sie werden selbst in modernen, demokratischen Gesellschaften aus unterschiedlichen Gründen getroffen.

Der australische Philosoph und Ethiker Peter Singer war bereits 1980 gemeinsam mit Helga Kuhse durch seine radikalen Überlegungen zur Euthanasie in bestimmten Fällen bekannt geworden. Sie stellten die Frage, ob es nicht unter Umständen erlaubt oder sogar geboten sei, menschliches Leben, nicht zuletzt um seiner selbst zu töten, um nicht nur Leid, sondern vor allem sinnloses Leben zu vermeiden. Ihr gemeinsam verfasstes Buch, in dem sie die Frage erörterten "Muß dieses Kind am Leben bleiben?", schlug Wellen. Sie stellten eine Frage, die so wohl in Deutschland undenkbar gewesen wäre: "Die moderne Medizin hat uns die Mittel verschafft, die es ermöglichen, viele schwerkranke oder schwerbehinderte Kinder am Leben zu erhalten, die noch vor zwei oder drei Jahrzehnten bald nach der Geburt gestorben wären. Sollen wir aber auch jedes Kind mit allen verfügbaren Mitteln am Leben erhalten, oder sollen wir in gewissen Fällen wegen einer schweren Krankheit bzw. Behinderung eines kleinen Kindes zulassen oder gar dazu beitragen, dass es sterben kann?"

Singer, dessen Thesen in Deutschland auf viel Kritik stießen, war allerdings auch hierzulande auf Vortragsreisen unterwegs, zu denen ihn der Leipziger Philosophieprofessor Georg Meggle eingeladen hatte. Als leidenschaftliche Utilitaristen sind Singer und Meggle Brüder im Geiste. Schon Jahre zuvor hatte Meggle Berechnungen über den Wert des Lebens angestellt und auch schlussgefolgert, der Tod beziehungsweise das Totsein könne selber etwas Gutes sein. Wenn sich der Wert eines Lebens gegen Null neigt, so müsse man über eine entsprechende "Lethalalternative" nachdenken dürfen. Konsequent weiter gedacht kritisierte der Journalist und studierte Rechtswissenschaftler Oliver Tolmein noch zu D-Mark-Zeiten, welche Schlussfolgerungen nach Meggle gezogen werden müssten: "Wenn das Leben als monetärer Wert meß- und mithin einstufbar geworden ist, können die Interessen des Einzelnen und der so bestimmte Wert seines Lebens für ihn gegen die Interessen der Gesellschaft gerechnet werden. Denn ein Wert, der sich in einer abstrakten Größe wie Mark fassen läßt, ist einer, der nicht nur Leben mit sich selbst und zueinander, sondern auch Leben mit anderem in Beziehung setzen kann. Entspricht der Lebenswert 50.000 Mark, kostet eine medizinische Behandlung aber weitaus mehr, wäre es konsequent, die Behandlung abzubrechen." Und er zitiert die finnischen Philosophen Hefa und Matti Hävry: "Es gibt eine Reihe von Theoretikern, die unter Berufung auf ökonomische Notwendigkeiten argumentieren, daß Alten oder Behinderten ohne große Sorge der Zugang zu den Segnungen der modernen Medizin versperrt werden darf, die sich aber gleichzeitig strikt gegen eine Legalisierung der Euthanasie wenden. Dabei hätte Euthanasie sehr wahrscheinlich einen äußerst positiven Effekt auf die Finanzierung des Gesundheitswesens, weil sie ein Ende für die vielen, lebensverlängernden Behandlungen, die derzeit an sterbenskranken Patienten gegen deren Willen durchgeführt werden, bedeuten würden." Ist demnach die Expertenrunde, die schon 1978 auf der schwedischen Insel zusammenkam, gar nicht so fiktiv, wie man meinen könnte?

Niemandem zur Last fallen wollen

Freilich, so könnte man denken, kommt es dann immer noch auf die Höhe der Schwelle an, die man setzt, bevor das Leben als geringwertig eingestuft wird. Gegenwärtig lassen sich viele ältere Menschen bei der Planung ihrer Bestattung und des Grabes von dem Gedanken leiten, ihren Angehörigen nicht zur Last fallen zu wollen. Sie wählen deshalb eine anonyme Grabstelle unter der grünen Wiese oder ein pflegefreies Gemeinschaftsgrab. Immerhin ist daran abzulesen, dass sie den Wunsch ihrer Angehörigen nach Gedenken und Erinnerung an sie für gering oder gar nicht vorhanden halten. Um wie viel mehr kann sich der Gedanke einstellen, sie könnten ihrer Familie durch ihre Pflegebedürftigkeit zur Last fallen. Oder es treibt sie die Sorge um, auch das letzte Ersparte könne durch die Pflegekosten aufgezehrt werden? Würde nicht ein Einwilligen in das Sterben all diese Sorgen beseitigen helfen? Wie stark wird das Gewissen oder das Selbstwertgefühl belastet durch das Gefühl, nur noch eine psychische, physische und finanzielle Last zu sein?

Dass eine Gesellschaft nach einem Ausgleich der Interessen der Jungen und Alten verlangt, ist keine ganz neue Einsicht. Im utopischen Gemeinwesen von Aldous Huxleys "Schöne, neuer Welt" (1932) war dies ganz einfach geregelt. Dort sterben die Menschen in einem vorbestimmten Lebensalter in einer Art Luxusklinik und unter Verabreichung einer Soma genannten Droge, die ihnen ein angenehmes Sterben ermöglicht. Sie werden nicht mehr gebraucht, deshalb dürfen (müssen) sie gehen. Von außen wie von innen strahlt die Klinik eine bunte, angenehme Atmosphäre aus. Die Räume, die jeweils 20 Betten enthalten, sind ausgestattet mit Duftverteilern, die jede Viertelstunde ein neues Parfüm abgeben, Fernsehapparaten, die von morgens bis abends laufen, und Supervox-Orgeln, die synthetische Weisen spielen. Alles in der Moribundenklinik dient der Ablenkung und Benebelung der Patienten. Den Sterbenden wird Soma verabreicht, damit sie nicht leiden müssen, sondern in einem angenehmen, kindlichen Traum verharren, bis ihr Ende gekommen ist. Nichts bei Huxley lässt erkennen, dass die Menschen hier leiden.

Einen Boom solcher Einrichtungen sieht der Theologe, Soziologe und Hochschullehrer Reimer Gronemeyer kommen: "Die Zahl der Moribundenkliniken in Deutschland wächst rasant. Sie heißen Hospiz oder Palliativabteilung. Sie sprießen wie Pilze bei feuchtem Wetter aus dem Boden. 179 Hospize, 231 Palliativstationen werden gegenwärtig gezählt. Tendenz: steigend. Die stationären Einrichtungen werden ergänzt durch 1500 ambulante Hospizdienste, jetzt kommt die SAPV dazu, das sind Spezialisierte Ambulante Palliative Dienste, die flächendeckend werden möchten: Sie bringen die Moribundenklinik ins Haus." Mit seiner schonungslosen Analyse der Industrialisierung, Professionalisierung und Ökonomisierung des Hospiz- und Palliativwesens kritisiert Gronemeyer gerade jene Einrichtungen, die die Gegner der Sterbehilfe als gewichtigstes Argument gegen jeden Sterbewunsch ins Feld führen. Freilich sind die hospizlichen und palliativen Dienste keineswegs wie die Moribundenkliniken der schönen, neuen Welt auf das terminierte Sterben der Menschen eingerichtet, aber sie lassen den Eindruck entstehen, als könne Sterben machbar, erträglich und vielleicht gar nicht so schlimm sein. Am Horizont schimmert der Verdacht auf, man könne unter diesen Voraussetzungen leichter in sein Sterben einwilligen, solange die wichtigsten Wünsche erfüllt seien: Das sind Schmerzfreiheit und Bewusstseinsminderung oder -ausschaltung. In nahezu allen Fällen soll das möglich sein, sagen die Schmerzexperten. "Genaue Auskünfte darüber, wie viele Menschen eigentlich 'terminal sediert' werden, sind nicht zu bekommen. So viel steht fest: Mehr als die Hälfte der Menschen, die in Krankenhäusern sterben, erleben ihren Tod nicht, sondern verschlafen ihn. Das wollen die Menschen so, heißt es."

So gibt es heute bereits ein Sterben nach Plan. Hospize leisten dabei spirituellen Beistand und gehen davon aus, dass es wie im Bilderbuch beziehungsweise nach den fast dogmatisierten Sterbephasen von Elisabeth Kübler-Ross eine letzte Phase gibt, in der der Sterbende in sein Sterben einwilligt: "Das Ganze weckt einen Verdacht: Nachdem man sein ganzes Leben hat arbeiten müssen – an seinen Beziehungen, an seiner Berufsbiographie, an seiner Freizeit, lassen die spirituellen Experten einen auch am Ende noch nicht zufrieden, sondern verlangen, dass wir nun auch noch 'gut' sterben sollen und am eigenen Sterben mitwirken müssen."

Sterben lernen

Die schöne neue Welt ist zumindest soweit schon gegenwärtig, als es zu den heutigen Aufgaben gehört, das Sterben zu lernen und seine Notwendigkeit zu erkennen. Regelmäßige Besucher in der Moribundenklinik sind bei Huxley Kinder und Jugendliche, die schon von klein auf an die Nichtigkeit des Todes gewöhnt werden sollen. Die Kinder werden darauf genormt, den Tod als etwas Positives zu sehen. Sie begegnen ihm in einem Gebäude, das Frohsinn und Luxus ausstrahlt. Hier spielen sie lustige Spiele und bekommen Schokoladentorte. Ihnen begegnen hier kein Leid, kein Altern, keine Schmerzen. Die sterbenden Sechzigerinnen sehen aus wie Sechzehnjährige. Das alles trägt dazu bei, dem menschlichen Leben seinen individuellen Wert zu nehmen. Emotionen und Leidenschaften würden die Beständigkeit des Systems gefährden. Schmerz und Trauer sind Gefühle, denen der Mensch in der schönen neuen Welt nicht begegnen soll.

Das lernende Heranführen an Sterben und Tod nennt man im englischsprachigen Raum "Death Education". Dafür gibt es im Deutschen keinen adäquaten Begriff, aber dasselbe Bestreben, schon junge Menschen dem Thema näher zu bringen. Der Wiener Theologe Michael Wolf nennt es Friedhofspädagogik. Eine große Palette von Büchern will beim "Sterben lernen" helfen oder zeigen, wie das "Hinübergehen" wirklich geht. Man redet auch von Sterbepädagogik und gar von "Orthothanasie". Meint Franko Rest, einer der bedeutendsten Thanatologen Deutschlands mit dieser Bezeichnung auch lediglich "Sterbebeistand", so führt doch die griechische Wortwurzel dahin, dass es so etwas wie richtiges, korrektes Sterben gäbe. Man wird sehen, wer dafür welche Kriterien entwickelt und ob dereinst der rechte Zeitpunkt für das Sterben ebenfalls festgelegt wird.

Zumindest sollten die Kriterien dem demografischen Wandel angepasst werden, sagen einige. Der Bochumer Theologe Joachim Wiemeyer und der Konstanzer Sozialwissenschaftler Friedrich Breyer sprachen sich schon zu Anfang des neuen Jahrtausends öffentlich für eine Begrenzung von Behandlungsmaßnahmen bei älteren Kranken aus, als schon einmal die Debatte um die Sterbehilfe Fahrt aufgenommen hatte. 2003 waren auch die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) offiziell der demografischen Entwicklung angepasst worden. In den Empfehlungen zur "Behandlung und Betreuung von älteren pflegebedürftigen Menschen" wird nunmehr der Beihilfe zum Suizid breiterer Raum eingeräumt. So wird Pflegeheimen und Krankenhäusern angesichts der steigenden Gesundheitskosten empfohlen, der Autonomie älterer und pflegebedürftiger Personen, das heißt ihrem Wunsch nach Mithilfe zur Selbsttötung, angemessen Rechnung zu tragen. "Diese heiklen Passagen erinnern an die Entscheidung des eidgenössischen Bundesrates aus dem Jahr 2001, wonach Bewohner und Patienten von städtischen Alten- und Krankenheimen in Zürich Suizid mithilfe einer Sterbehilfeorganisation begehen dürfen."

Es ist längst in der Debatte angekommen, dass man im Zuge einer Pädagogik des Sterbens lernen soll zu begreifen, wann der richtige Zeitpunkt für das Sterben gekommen sei, so zumindest muss man die Argumentation des mit mehreren Preisen bedachten Kulturhistorikers Wolfgang Schivelbusch verstehen, wenn er das fundamentale Recht jedes Menschen einfordert, sein Leben zu beenden – und gegebenenfalls auch die Pflicht dazu. Die Debatte über das Lebensende im Kontext des demografischen Wandel sei eine Steilvorlage für den (Sozial-)Darwinismus, meint deshalb der Publizist und Medienwissenschaftler Klaus Kreimeier. Was wir beim Lesen von Huxleys schöner neuer Welt noch für undenkbar hielten, ist zu einer gesellschaftspolitischen Option geworden. Wir sollen "uns heute von der Lebensverlängerungsdiktatur der Medizin und der Pflegeheime befreien" und in eine vorzeitige Beendigung unseres irdischen Daseins einwilligen. Zumal diejenigen, so Kreimeier, die sich medizinische Hilfe nicht mehr leisten können, besser daran tun, freiwillig zu sterben, als unversorgt dahin zu siechen.

Sterben lassen aus Humanität

Doch vielleicht geht es dann nicht mehr nur um Sozialhilfeempfänger, sondern ganz im Sinne der Humanität darum, allen Hochbetagten nahe zu legen, ihr nicht mehr ganz so qualitätsvolles (und für die Allgemeinheit teures) Leben zu beenden beziehungsweise beenden zu lassen. "Auch ein Denkansatz, der für Humanität plädiert, kann auf antihumane Planspiele hinauslaufen." Man mag sich das nicht wünschen, aber jede Diskussion darüber, jedes neue Argument, erst recht jede gesetzliche Liberalisierung führt uns der Euthanasie durch Überzeugung, Überredung und schließlich Verordnung ein wenig näher. So wenigstens könnte man im Sinne von Major Leo Alexander argumentieren, der 1946 während der Nürnberger Ärzteprozesse als Berater des US-amerikanischen Chefanklägers Telford Taylor fungierte und in den USA darüber berichtete. Am Ende jeder Abweichung vom grundsätzlichen Tötungsverbot und einer scheibchenweisen Legalisierung der herbeigeführten Tötung – so Alexander – stehe die planmäßige Euthanasie.

Major Alexander schilderte den schleichenden Prozess einer Verschiebung ethischer Werte und des moralischen Bewusstseins der Ärzte: "Es begann mit der Akzeptanz der Einstellung, dass es bestimmte Leben gibt, die nicht wert sind, gelebt zu werden. Diese Einstellung umfasste in seiner frühen Ausprägung die ernsthaft und chronisch Kranken. Allmählich wurde der Kreis derjenigen, die in diese Kategorie einbezogen wurden, ausgeweitet auf die sozial Unproduktiven, die ideologisch Unerwünschten, die rassisch Unerwünschten (…) Es ist wichtig zu erkennen, dass die unendlich kleine Eintrittspforte, von der aus diese ganze Geisteshaltung ihren Lauf nahm, die Einstellung gegenüber nicht rehabilitierbarer Krankheit war." Was Alexander als unendlich kleine Eintrittspforte bezeichnete, nannte man später mit seinen Worten eine oiled oder slippery slope, eine glitschige schiefe Ebene, auf der alle menschlichen Werte und Vorbehalte gegen eine Tötung von Menschen ins Rutschen kommen würden. Deshalb sei von Anfang an jegliche Form der Euthanasie kategorisch abzulehnen. Sei erst mal das Tor dafür einen Spalt breit offen, dann würde es bald ganz aufgestoßen sein. Eine Right-to-die-Bewegung, die sich in den Vereinigten Staaten von Amerika bereits in den 1930er Jahren formiert hatte, hätte viel früher das Menschenrecht des selbstbestimmten Sterbens durchgesetzt, wenn diese Entwicklung nicht durch die Erfahrungen der Nazi-Euthanasie unterbrochen worden wäre. Sie musste deshalb in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen neuen Anlauf nehmen.

Dabei klingt das in den Ohren vieler Menschen gut, das Recht auf den selbstbestimmten Tod. Und impliziert die weltweit konsensfähige Forderung nach einem selbstbestimmten Leben nicht zwingend auch die die nach einem selbstbestimmten Sterben? Doch wo wird die Grenze zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung gezogen? Wo entsteht sanfter Druck, erheblicher Druck auf die eigene Entscheidung? Bekommen Hochbetagte nur einfach ein schlechtes Gewissen, wenn sie zu lange leben? Kann der eigene Tod zur guten Tat werden, und wann entsteht eine moralische Pflicht zum Ableben? Solche Fragen scheinen nur vordergründig abwegig zu sein. Es gibt kulturhistorisch gesehen längst jene Konzepte, die angeblich undenkbar sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Hermann Römpp, Lebenserscheinungen. Eine allgemeine Biologie für die Oberstufe höherer Lehranstalten und zum Selbstunterricht, Stuttgart 1933, S. 150.

  2. Adolf Jost, Das Recht auf den Tod, Göttingen 1895, S. 1.

  3. Karl Bindung/Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920.

  4. Nicola Abé et al., Der moderne Tod, in: Der Spiegel vom 3.2.2014, S. 36.

  5. Geprägt wurde der Begriff von Wilhelm Schallmayer, der als Begründer der Rassenhygiene und Eugenik gilt; Wilhelm Schallmayer, Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker. Eine staatswissenschaftliche Studie aufgrund der neueren Biologie, Jena 19204 (1903), S. 329.

  6. Vgl. Ludger Fittkau, Autonomie und Fremdtötung. Sterbehilfe als Sozialtechnologie, Frankfurt/M. 2006.

  7. Peter Singer/Helga Kuhse, Muß dieses Kind am Leben bleiben? Das Problem schwerstgeschädigter Neugeborener, Erlangen 1993; englische Originalausgabe: Should the Baby Live? The Problem of Handicapped Infants, Oxford 1985.

  8. Dies., Sollen alle schwergeschädigten Neugeborenen am Leben bleiben?, in: dies., Individuen, Menschen, Personen – Fragen des Lebens und Sterbens, Sankt Augustin 1999, S. 183–203, hier: S. 183.

  9. Georg Meggle, Euthanasie und der Wert eines Lebens, in: Grazer Philosophische Studien, (1991) 41, S. 208.

  10. Oliver Tolmein, Wann ist der Mensch ein Mensch? Humankapital. Die Ökonomie der "Euthanasie"-Diskussion, 1996, Externer Link: http://www.integra.at/files/Tolmein94.pdf (9.7.2015).

  11. Ebd.

  12. Reimer Gronemeyer, Verwaltung des Lebensendes oder Kunst des Sterbens?, 2012, Externer Link: http://www.impatientia-genarchiv.de/index.php/id-07_gronemeyer.html (9.7.2015).

  13. Ebd.

  14. Vgl. Elisabeth Kübler-Ross, Interviews mit Sterbenden, München 2001.

  15. R. Gronemeyer (Anm. 12).

  16. Michael Wolf, Friedhofspädagogik. Eine Untersuchung im Kontext der Fragen nach erfülltem Leben, Tod und Ewigkeit, Münster 2011.

  17. Z.B. Wolfgang Bergmann, Sterben lernen, München 2011.

  18. Monika Renz, Hinübergehen. Was beim Sterben geschieht. Annäherungen an letzte Wahrheiten unseres Lebens, Freiburg i.Br. 2011.

  19. Franko Rest, Praktische Orthothanasie (Sterbebeistand) im Arbeitsfeld sozialer Praxis, Opladen 1977.

  20. Thanatologie ist laut Duden die Forschungsrichtung, die sich mit den Problemen des Sterbens und des Todes befasst (Anm. d. Red.)

  21. Zu diesen Entwicklungen vgl. Theo R. Payk, Der beschützte Abschied. Streitfall Sterbehilfe, München 2009, S. 23.

  22. Vgl. Wolfgang Schivelbusch, Zur neuen Euthanasiedebatte, in: Süddeutsche Zeitung vom 15.10.2003.

  23. Klaus Kreimeier, Steilvorlage für den Darwinismus, 18.10.2003, Externer Link: http://www.taz.de/1/archiv/?dig=2003/10/18/a0094 (10.7.2015).

  24. Ebd.

  25. Ebd.

  26. Leo Alexander, Medical Science under Dictatorship, in: The New England Journal of Medicine, 241 (1949) 2, S. 39–47.

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Dr. theolog. habil., geb. 1952; apl. Professor am Lehrstuhl für christliche Archäologie und Kunstgeschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal e.V. und Direktor des Museums für Sepulkralkultur, Weinbergstraße 25–27, 34117 Kassel E-Mail Link: soerries@sepulkralmuseum.de