Zusammen mit der gesellschaftlichen Langlebigkeitsentwicklung wächst das Interesse am hohen Alter: Was bedeutet die steigende Zahl von Hochbetagten? Wie ist das Leben jenseits der 80 – beziehungsweise: Wie gut kann es sein?
Der vorliegende Beitrag setzt hier an und stellt Außen- und Innensichten vor. Erstens werden Muster der medialen Thematisierung des hohen Alters aufgezeigt. Zweitens geht es um die Ergebnisse einer Reihe von Interviews, in denen Hochbetagte ihre persönlichen Perspektiven ausgeführt haben. Im Fokus stehen dabei solche Praktiken, mit denen Menschen im hohen Alter um sich selbst Sorge tragen und mit denen sie ein möglichst gutes Leben zu verwirklichen suchen. Darauf aufbauend widme ich mich drittens der Frage, inwiefern es für "alternde Gesellschaften" besonders darauf ankommen könnte, eine soziale Umwelt herzustellen, in der Hochbetagte als Vertreter ihrer Selbst Anerkennung finden.
Die folgenden Ausführungen basieren zum einen auf der von der Volkswagen Stiftung geförderten und 2012 abgeschlossenen Studie "Gutes Leben im hohen Alter".
Pflegenotstand in der Demenz-Republik
Wenn das hohe Alter in den Medien zum Thema wird, dann oftmals im Rahmen von Berichten zum sogenannten Pflegenotstand. Für die entsprechenden Texte sind Problembeschreibungen der folgenden Art charakteristisch: "Wie (…) kann es (…) sein, dass Zehntausende alte Menschen in bundesdeutschen Heimen vor sich hin vegetieren – mit Psychopharmaka vollgedröhnt, bis auf die Knochen wund gelegen, halb verhungert, ihrer Würde beraubt?"
Negativfolgen des hohen Alters werden besonders auch in Artikeln zum Thema Demenz beschrieben. Demenz, allen voran die am häufigsten diagnostizierte Form der Alzheimer-Demenz, gilt etwa als "Preis des langen Lebens" – ein Preis, der in seiner Schrecklichkeit nicht zu überbieten sei.
Angesichts der hohen Verbreitung demenzieller Beeinträchtigungen sowie der besonderen Hilfs- und Pflegebedürftigkeit der Betroffenen wird Demenz jedoch nicht nur als individuelle, sondern ebenso als kollektive Katastrophe charakterisiert. Die neue "Volkskrankheit", so die Einschätzung, droht Deutschland in eine "Demenz-Republik" zu verwandeln.
Gemeinsam ist den erwähnten Darstellungen somit, dass sie vor allem defizitäre Zusammenhänge aufzeigen, die tendenziell verallgemeinert und pauschal bewertet werden. Dabei ist dieses Bild des verletzlichen hohen Alters durchaus nicht alternativlos, was zum Beispiel neuere Entwicklungen in der Demenzdebatte belegen. Betroffene, Angehörige, Interessensgruppen, wissenschaftliche Studien und nicht zuletzt mediale Reportagen weisen zunehmend darauf hin, dass Menschen mit Demenz neben Defiziten auch Potenziale haben, dass sie sowie auch pflegende Angehörige positive Erfahrungen machen können und dass Demenz die Solidargemeinschaft mitnichten zerstören muss, sondern vielmehr zur Verstärkung solidarischer Lebensformen zwingt.
Derartige kollektive Altersbilder geben grundlegende Orientierungen für den Umgang mit (hoch)betagten Menschen sowie für den Umgang mit dem eigenen Alter(n). Infolgedessen können sie manifeste praktische Folgen haben. Einerseits zum Positiven: Wenn etwa die Berichterstattung über Missstände zu deren Beseitigung führt. Anderseits zum Negativen: Wer hochbetagte Menschen als unselbständige und hilflose "Pflegefälle" wahrnimmt, die vor allem einer fürsorglichen Unterstützung bedürfen, wird ihnen möglicherweise kontrollierend und bevormundend begegnen. Und wer unter Einfluss der Vorstellung gerät, dass das verletzliche hohe Alter mehr oder minder unlebenswert sei und noch dazu eine kaum tragbare Last für die soziale Umwelt darstelle, dem mag unter Umständen die Möglichkeit eines "präventiven Suizids" attraktiv erscheinen: Lieber tot als ein Pflegefall.
Alte Meister in Turnschuhen
Auch wenn in den Medien tendenziell bezweifelt wird, dass das Leben Hochbetagter gelingen kann, bleibt die lange Zeit gängige Gleichsetzung von hohem Alter und Gebrechlichkeit zunehmend aus. Vielmehr finden körperlich oder geistig unbeeinträchtigte Hochbetagte verstärkt Beachtung. Das trifft unter anderem im Fall des Inders Fauja Singh zu, denn als erster 100-jähriger Marathonläufer der Welt ist er "hochbetagt, und doch fit im Turnschuh": "Von Altersmüdigkeit keine Spur."
Medial stark präsent sind überdies Hochbetagte, die sich durch besondere geistige Leistungen beziehungsweise ein spezifisches Wissen auszeichnen. Vielfach handelt es sich hier um Größen aus Kunst, Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. "Alter Meister", so wird etwa Leonard Cohen anlässlich seines 80. Geburtstags bezeichnet und folgender Vergleich zu seinen jüngeren Jahren gezogen: "Der alte Cohen (…) ist ein in jeder Hinsicht attraktiver, gelassener gewordener Avatar des einstmals schwarzzornigen, resignativen jungen Mannes." Attraktivitätssteigerung statt Resignation, künstlerischer Zugewinn statt Verfall. Menschen im hohen Alter, überwiegend männlichen Geschlechts, stehen in derartigen Darstellungen als äußerst kreativ-schöpferische Personen im Fokus. Darüber hinaus werden Hochbetagte, und zwar ebenfalls vornehmlich Männer, vor dem Hintergrund ihrer beruflichen Vergangenheit als reife und weise Ratgeber gekennzeichnet. Exemplarisch dafür ist die Schlagzeile zu einer Begegnung von Helmut Schmidt und Richard von Weizsäcker: "Hier treffen sich fast 200 Jahre politische Weisheit!"
Die Zusammenschau von Darstellungen dieser Art zeigt, dass hier ganz spezifische Aktivitätsformen im Zentrum stehen und als Erfolgsmaßstab dienen. Zum einen handelt es sich dabei um körperliche Aktivitäten wie turnerische und akrobatische Übungen oder präventiv-rehabilitative Maßnahmen. Zum anderen geht es um spezifische Betätigungen, für die geistige Potenziale entscheidend sind. Dazu gehört besonders die künstlerische Arbeit, die Weitergabe von Erfahrungen und Wissen oder die eigene Weiterbildung. Diese spezifischen Aktivitäten finden nicht zuletzt deshalb besondere Beachtung, weil sie zeigen, dass der Wunsch nach einem mehr oder minder unbeeinträchtigten Alterungsprozess realisierbar ist. Fauja Singh, Johanna Quaas oder Ingrid Rabe gelingt es, die körperliche Verletzlichkeit des hohen Alters auf Distanz zu halten. Die intellektuelle Gruppe hingegen beweist, dass geistige Potenziale selbst im Angesicht etwaiger körperlicher Beeinträchtigungen relativ verletzungsfrei und vor allem wachstumsfähig bleiben können. Die enorme Anerkennung, die den erfolgreichen Hochbetagten und ihren Aktivitäten zuteil wird, lässt sich hingegen mit Bezug auf einflussreiche gesellschaftliche Wertvorstellungen erklären. Denn die betreffenden Personen erweisen sich in ihrem Tun als ebenso diszipliniert wie produktiv – Ruhestand oder Müdigkeit scheinen für sie keine Optionen zu sein, wie sie auch niemanden zur Last fallen, sondern Jüngere stattdessen inspirieren und unterstützen. Aus diesem Grund wird ihnen auch ein Vorbildcharakter und der Status einer gesellschaftlichen Bereicherung zugeschrieben.
In Hinblick auf mögliche Orientierungseffekte bleibt dreierlei festzuhalten. Erstens vermitteln diese Erfolgsgeschichten ein Gegenbild zu Belastungs- und Verfallsvorstellungen, indem sie die Vielfältigkeit des hohen Alters anhand positiver Erfahrungs- und Entwicklungsmöglichkeiten belegen.
Das hohe Alter und die Sorge um sich
Im Rahmen der eingangs erwähnten Studie konnte ich elf Frauen und drei Männer zwischen 80 und 101 Jahren zu der Möglichkeit eines guten Lebens im hohen Alter befragen. Einerseits haben meine Gesprächspartner(innen) hier in verallgemeinernder Weise die Themen Gesundheit, Selbstständigkeit, materielle Sicherheit sowie soziale Einbindung angesprochen. Mit Bezug auf den eigenen Alltag wurden andererseits ganz konkrete wertgeschätzte Tätigkeiten und Erfahrungen beschrieben. Darunter etwa die Beobachtung von sozialer Umwelt und Natur, die Begegnung mit anderen Menschen – und sei diese auch noch so flüchtig, die Kontemplation, die Verwirklichung von Entspannungs- und Ruhephasen, der Genuss von Speisen und Getränken oder die Rezeption von Unterhaltungs- und Informationsangeboten. Bezeichnenderweise handelt es sich dabei vielfach um Zusammenhänge, die im Aktivitätenkanon des erfolgreichen hohen Alters unbeachtet bleiben – oder problematisiert werden, wie zum Beispiel "unproduktives Ausruhen" und der "passive Konsum" von Fernsehsendungen.
Besonders aufschlussreich waren die Gespräche zudem hinsichtlich solcher Vorgehens- und Anschauungsweisen, mit denen die Befragten subjektiv positive Situationen herzustellen versuchen und auf Verluste sowie Herausforderungen reagieren. In Anlehnung an den Philosophen Michel Foucault spreche ich hier von "Technologien des Selbst", die die Grundlage einer Selbstsorge sind.
Vieles von dem, was ich als Ausdruck einer Selbstsorge hochbetagter Menschen deute, erscheint zunächst unerheblich und dient auch weniger der Erlangung von Reinheit, Weisheit oder Vollkommenheit. Um einen "gewissen Zustand des Glücks" geht es hingegen sehr wohl, wie das Beispiel des 85-jährigen Herrn Boll zeigt. Er besucht täglich den nahegelegenen Supermarkt, um dort ein Stück Obst oder eine andere Kleinigkeit zu kaufen. Unbedingt notwendig sind diese Einkäufe kaum – auch deshalb nicht, weil der diabeteskranke Herr Boll und seine Ehefrau von einem ambulanten Pflegedienst mit Mahlzeiten versorgt werden. Da mich jedoch vorangegangene Gespräche für den Stellenwert derartiger "Shoppingtouren" sensibilisiert hatten, bemerkte ich dazu: "Und dann trifft man vielleicht mal jemanden beim Einkaufen." Worauf Herr Boll entgegnete: "Treffen sie immer jemand, da treffen sie immer jemanden. Der eine ist Schalker Fan, der eine ist von Dortmund Fan und da wird sich unterhalten, woll, und das, das ist schön, ne." Herr Boll legte damit den eigentlichen Grund für seine anhaltende Konsumfreude offen. Es ist die Aussicht auf ein Zusammentreffen mit anderen Menschen – bestenfalls solchen, die seine Fußballleidenschaft teilen. Was gemeinhin als Small Talk disqualifiziert wird, stellt also einen sehr guten Moment im Tagesverlauf von Herrn Boll dar, weshalb er solche Situationen beständig herzustellen versucht.
Auch für die 88-jährige Frau Uhl sind Small-Talk-Situationen wichtig. Diese erlebt sie vor allem im Austausch mit den Pflegefachkräften der Betreuungseinrichtung, in der sie seit einem Schlaganfall lebt. Frau Uhl erzählte mir von Urlaubsreisen nach Bad Vilbel, die sie mit ihrem mittlerweile verstorbenen Mann unternommen hatte: "Das sind so selige Erinnerungen dann (…)". Nach meiner Wiederholung der Formulierung "selige Erinnerungen" erläuterte Frau Uhl: "Ja, wenn ich irgendwelche Sorgen hab, (…) mit denen ich einschlafen würde, dann versuche ich mich an irgendwas von Bad Vilbel zu erinnern." Anlass zu quälenden Sorgen gibt Frau Uhl vor allem der Tod ihres Mannes, aber auch ihr schlechter gesundheitlicher Zustand, die Abnahme ihrer Beweglichkeit, ihre Inkontinenz oder die Situation einiger Angehöriger. Um zu verhindern, dass ihre Probleme sie gedanklich überwältigen, greift sie bewusst auf Erinnerungen an positive Lebenserfahrungen (Bad Vilbel) zurück. Das Mittel der Rückerinnerung ermöglicht es Frau Uhl wie auch einigen anderen Befragten, Verlust- und Verletzlichkeitssituationen zumindest zeitweise etwas zu entschärfen.
Die folgenden zwei Beispiele sollen abschließend zeigen, inwiefern bestimmte Selbstsorgepraktiken auf soziale Herausforderungen reagieren, denen sich Hochbetagte ausgesetzt sehen. Die 87-jährige Frau Menn lebte zum Zeitpunkt unseres Gesprächs allein und wurde bei der Körper- und Wohnungspflege von einem Pflegedienst unterstützt. Ein Bekannter war ihr bei den Lebensmitteleinkäufen behilflich, wobei es jedoch wiederholt zu Schwierigkeiten kam: "Wir gehen (…) jeden Mittwoch auf den Markt (…). Und wenn ich da nicht so schnell mein Geld aus dem Portemonnaie raus krieg, dann zahlt er schon oder nimmt es schon raus (…) Ich habe versucht ihm klar zu machen: Ich möchte doch wieder selbstständig werden." Frau Menn erfährt an dieser Stelle eine Behinderung, die nicht aus ihren körperlichen Beeinträchtigungen resultiert, sondern sozialer Natur ist. Sie kann und will trotz der damit verbundenen Mühen eigenständig bezahlen und somit Selbstsorge durch Selbstverteidigung betreiben – doch ihr Bekannter unterbindet das und beschränkt so ihre Handlungsmöglichkeiten. Es handelt sich hier um ein Verhalten, das nicht zuletzt eng mit der Vorstellung verbunden ist, körperlich beeinträchtigte Hochbetagte seien rundherum hilflos und fürsorgebedürftig.
Das Beispiel der 84-jährigen Frau Laar zeigt hingegen, inwiefern gesellschaftliche Demenzbilder zu einer manifesten Bedrohung für die Selbstbestimmung hochbetagter Menschen werden können. Eines Abends hatte Frau Laar eine irritierende optische Wahrnehmung: Auf dem Sofa ihrer Wohnung sah sie die einige hundert Kilometer entfernt lebende Enkeltochter sitzen. Wie sich im Gespräch mit ihrer Tochter herausstellte, handelte es sich um eine Halluzination, denn das Kind war bei den Eltern zu Hause. Die Tochter begann daraufhin den geistigen Zustand von Frau Laar zu hinterfragen und versuchte, sowohl eine psychiatrische Untersuchung ihrer Mutter herbeizuführen, als auch deren Konto sperren zu lassen. Zum einen hat das Frau Laar enttäuscht und wütend gemacht: "Ich war ja doch ein bisschen sauer da drüber, dass die so flink an mir zweifelt, denn die hat mich doch besser gekannt wie alle andere(n)." Zum anderen hat sie aus dieser Erfahrung praktische Konsequenzen gezogen: "Seit dieser Zeit traue ich (mich) überhaupt nicht mehr, irgendwas zu erzählen. Auch bei meiner Tochter nicht. Zum Beispiel irgendwelche irren Träume, ja." Um zu verhindern, dass ihre geistige Leistungsfähigkeit noch einmal in Zweifel gezogen werden kann, verschweigt Frau Laar Erfahrungen und Wahrnehmungen wie Halluzinationen oder "irre Träume". Es handelt sich dabei um eine Selbstverteidigungsstrategie, die nicht zuletzt auf den Erhalt der eigenen Geschäftsfähigkeit zielt, und zwar indem das Aufkommen eines Verdachts verhindert wird, dem sich Hochbetagte bei etwaigen Fehlleistungen schnell ausgesetzt sehen: Ist es Demenz? Zwar reicht "die Verdachtsdiagnose ‚Demenz‘ für einen Verlust der Geschäftsfähigkeit"
Über die aufgeführten Beispiele hinaus manifestiert sich die Selbstsorge Hochbetagter etwa auch in bestimmten Formen der Beschäftigung mit der eigenen Sterblichkeit, in der Lebensbilanzierung und der Hervorbringung einer erneuerten Selbstinterpretation, in der Annahme der Unerfüllbarkeit bestimmter Lebensziele oder in der Aneignung einer besonderen Gelassenheit ("Alters-Coolness").
Hochbetagte als Vertreter ihrer selbst
Genauso wie eine Gleichsetzung des hohen Alters mit Krankheit und Gebrechlichkeit fehl läuft, ist auch die Einschätzung irrig, dass es im hohen Alter im Allgemeinen und vor allem beim Eintreten gesundheitlicher und funktionaler Probleme zum Verlust von Handlungsmächtigkeit und Selbstbestimmung (loss of agency) kommen muss.
Eine erhöhte Sensibilität gegenüber der Selbstsorge von hochbetagten Menschen würde hingegen die Einsicht geradezu aufdrängen, dass sie grundsätzlich als Vertreter ihrer Selbst anzuerkennen sind. Allgemeinverbindliche Erfolgsmodelle, die auf einem reduktionistischen Aktivitäts- und Produktivitätsbegriff beruhen und die zu einer biopolitischen Kontrolle des hohen Alters beitragen, vermitteln eine solche Einsicht nicht. Genauso wenig tun das "Verletzlichkeitserzählungen", die das Zustandekommen von Situationen dysfunktionaler Abhängigkeit begünstigen – einer Abhängigkeitsform, "durch die der Mensch daran gehindert wird, jene Handlungen selbstständig auszuführen, die er (…) relativ autonom ausführen könnte".
Hieraus leitet sich eine entscheidende gesellschaftliche Herausforderung ab: Wenn das hohe Alter nicht tatsächlich zu einem Autonomieverlust führen soll, kommt es auf Lebensumstände an, in denen subjektive Selbstsorge anerkannt und erforderlichenfalls von einer "nicht-paternalistischen Fürsorge" unterstützt wird.