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Anders Wirtschaften – genossenschaftliche Selbsthilfe | Kapitalismus und Alternativen | bpb.de

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Anders Wirtschaften – genossenschaftliche Selbsthilfe

Holger Martens

/ 14 Minuten zu lesen

Die Genossenschaft stellt nicht das Profitstreben in den Mittelpunkt, sondern die Förderung der Mitglieder. Für eine Reihe von aktuellen Fragen der Wirtschaftspolitik hat das Modell Lösungspotenzial, das derzeit unzureichend genutzt wird.

Die genossenschaftliche Organisationsform dient als Zusammenschluss von Menschen, die sich in gleichen oder ähnlichen Problemlagen befinden und gemeinsam wirtschaftliche Lösungen suchen. Als im 19. Jahrhundert das kapitalistische Wirtschaftssystem mit der Industriellen Revolution seinen Siegeszug antrat, begann zugleich die Suche nach alternativen Formen des Wirtschaftens. Die Idee der Selbsthilfe war nicht neu. Schon im Mittelalter gab es genossenschaftsähnliche Organisationen. Im schottischen New Lanark setzte sich der Sozialreformer Robert Owen ab 1799 in seinen Textilfabriken für menschenwürdige Arbeitsbedingungen ein. Er beeinflusste die Gründung englischer Konsumgenossenschaften. Durch gemeinsamen Einkauf suchten die Arbeiter, die Kosten des täglichen Bedarfs zu senken und sich mit Produkten von einwandfreier Qualität zu versorgen. Die Gründung der Rochdale Society of Equitable Pioneers am 24. Oktober 1844 in der englischen Textilstadt Rochdale nahe Manchester gilt heute als Geburtsstunde der weltweiten Genossenschaftsbewegung. Nicht die Gründung als solche war das entscheidende – Konsumvereine gab es schon vorher –, sondern die Prinzipien, nach denen gewirtschaftet wurde. Sie bilden heute die sieben Grundsätze der International Co-operative Alliance (Infokasten).

InfokastenDie sieben Grundsätze der International Co-operative Alliance

  1. freiwillige und offene Mitgliedschaft

  2. demokratische Kontrolle (eine Person, eine Stimme)

  3. gleichwertige ökonomische Partizipation der Mitglieder

  4. Autonomie und Unabhängigkeit

  5. Bildung, Fortbildung und Information

  6. Kooperation innerhalb der Genossenschaftsbewegung

  7. Gemeinwohlorientierung

Quelle: International Co-operative Alliance, What is a co-operative, o. D., Externer Link: http://ica.coop/en/what-co-operative (28. 7. 2015).

Unterschieden wird zwischen Fördergenossenschaften und Produktivgenossenschaften. Bei den Fördergenossenschaften dient das Gemeinschaftsunternehmen der Erfüllung bestimmter Funktionen. Bei privaten Haushalten kann das der gemeinschaftliche Einkauf über die Konsumgenossenschaft sein, die Bereitstellung von Wohnraum durch die Baugenossenschaften oder von Finanzdienstleistungen durch die Kreditgenossenschaft. Im gewerblichen Bereich schließen sich Unternehmen zu Einkaufsgenossenschaften zusammen, um günstige Konditionen zu erzielen. Bekannte Beispiele sind die Genossenschaften der EDEKA-Einzelhändler sowie die Zusammenschlüsse im Maler-, Bäcker- und Dachdeckerhandwerk.

In den Produktivgenossenschaften sind die Mitglieder als Arbeitende organisiert, um Produkte und Dienstleistungen am Markt anzubieten. In Deutschland dominiert die Fördergenossenschaft, anders als in anderen europäischen Ländern hat die Produktivgenossenschaft nur wenig Verbreitung gefunden.

Die wirtschaftlichen Synergieeffekte ergeben sich aus der organisatorischen Bündelung, aus der Möglichkeit des Großeinkaufs und aus der Senkung von Verwaltungskosten. Die Genossenschaftsidee bietet mit ihrem Selbsthilfepotenzial gerade für innovative und alternative Bereiche sowie in krisenhaften Situationen Lösungen. Der Einzelne ist oft überfordert. Schließen sich aber Menschen, die die gleichen Werte und Ziele verfolgen, zusammen, können gemeinschaftliche Anstrengungen zum Erfolg führen.

Das Kapital der Genossenschaft besteht aus den eingezahlten Beiträgen und aus Rücklagen. Die Gewinnverteilung erfolgt über die Dividende auf die Geschäftsguthaben und über die Rückvergütung. Die steuerfreie Rückvergütung muss allerdings im Mitgliedergeschäft erwirtschaftet werden, das heißt, Gewinne aus dem Nichtmitgliedergeschäft dürfen nicht als Rückvergütung ausgezahlt werden. Im Gegensatz zur Aktiengesellschaft kann ein Genossenschaftsmitglied seine Mitgliedschaft kündigen und damit sein eingezahltes Geschäftsguthaben zurückverlangen. Ein Massenaustritt kann einen Kapitalabfluss verursachen, der die Genossenschaft in ihrer Existenz bedroht.

Genossenschaften werden typischerweise dort gegründet, wo der Markt nicht funktioniert oder gar nicht besteht. So kommt es zur Gründung von "Dorfläden", um die örtliche Versorgung sicherzustellen, oder Menschen schließen sich zusammen, um eine bestimmte Wohnform zu verwirklichen. Genossenschaften können unter Marktbedingungen auch dort noch arbeiten, wo das kapitalistische System versagt, weil sie in der Lage sind, vorübergehend oder dauerhaft ehrenamtliche Arbeitskraft zu mobilisieren. Insbesondere in Krisenzeiten gewinnt die genossenschaftliche Selbsthilfe damit Gestaltungsspielraum, die andere Rechtsformen nicht bieten.

Geschichte der Genossenschaften in Deutschland

Auch in Deutschland bildeten die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Ausgangspunkt für genossenschaftliche Einrichtungen. Schlechte Ernährung, unzureichende Wohnverhältnisse und unstete Beschäftigung führten zu einer Verelendung breiter Bevölkerungskreise. Das starke Bevölkerungswachstum verschärfte die Situation. Witterungsbedingte Ernteausfälle lösten in den 1840er Jahren Hungerkrisen aus. Bei der Suche nach einer Lösung der "Sozialen Frage" schauten Sozialreformer auch nach England. Einer von ihnen, Victor Aimé Huber, reiste 1844 nach Manchester, befasste sich mit den Ideen von Robert Owen und gilt heute als Wegbereiter des sozialen Wohnungsbaus. In Großstädten wie Hamburg kam es frühzeitig zur Gründung genossenschaftlicher Organisationen, für die zunächst die Bezeichnung "Assoziation" Verwendung fand. 1849 wurde die Assoziation "Vereinigte Zigarrenarbeiter" gegründet. Bald darauf engagierte sich der Hamburger Bürgerverein für eine Verbraucherorganisation zum Einkauf von Lebensmitteln. Vorreiter bei der Gründung von Konsumgenossenschaften war der nationalliberale Bankier Eduard Pfeiffer, dessen in den 1860er Jahren entwickelten Ideen in der Arbeiterbewegung zunächst keinen Anklang fanden. Der Arbeiterführer Ferdinand Lassalle erteilte der liberalen Idee der Selbsthilfe eine Absage und lehnte Konsumgenossenschaften ab. Nach dem "ehernen Lohngesetz" war er davon überzeugt, dass sich der Arbeitslohn an den notwendigen Kosten für den Lebensunterhalt orientieren würde. Der gemeinschaftliche Einkauf nützte in dieser Perspektive ausschließlich dem Arbeitgeber.

Zu den frühen Protagonisten der Genossenschaftsbewegung gehörten Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Beide gründeten Selbsthilfeorganisationen zur Linderung der Not und erkannten bald, dass in den Kleinstädten und auf dem Land Krediteinrichtungen fehlten. Raiffeisens Darlehenskassen und Warengenossenschaften waren auf die Bedürfnisse der ländlichen Bevölkerung zugeschnitten und fanden schnell Verbreitung. Ob Molkerei-, Wasser- oder Maschinengenossenschaft, die Idee der Selbsthilfe legte den Grundstein für eine Innovations- und Modernisierungsphase auf dem Land. Das Modell fand weltweite Verbreitung.

Hermann Schulze-Delitzsch konzentrierte sich vor allem auf die gewerblichen Genossenschaften des Handwerks und die Vorschussvereine, aus denen später die Volksbanken hervorgingen. Um 1853 führte er für seine Selbsthilfeeinrichtungen das Wort "Genossenschaft" ein. Der Jurist und Politiker entwarf einen gesetzlichen Rahmen für die eingetragene Genossenschaft und schuf damit eine neue Unternehmensform. Preußen verabschiedete am 27. März 1867 das erste Genossenschaftsgesetz. Mit der gesetzlichen Anerkennung wurde die Genossenschaft auf eine Stufe mit der Aktiengesellschaft gestellt. Mehr noch, die Werteorientierung der Genossenschaft stellte einen Gegenentwurf zur Aktiengesellschaft dar. Nicht das Kapital stand im Mittelpunkt, sondern das Mitglied. Dabei wurden auch demokratische Prinzipien verwirklicht. Jedes Mitglied hatte unabhängig von seinen Kapitalanteilen eine Stimme.

Die Erfahrungen der ersten Jahre gingen in das überarbeitete Genossenschaftsgesetz vom 1. Mai 1889 ein. Die wichtigsten Änderungen waren die Einführung der beschränkten Haftung und die Revisionspflicht. Der in Paragraf 1 definierte Kern der Genossenschaftsidee blieb unverändert: Die Genossenschaft diente dem Zweck "der Förderung des Erwerbs oder der Wirtschaft ihrer Mitglieder mittelst gemeinschaftlichen Geschäftsbetriebes". Die Einführung der beschränkten Haftung bewirkte einen Gründungsboom. Die Zahl der eingetragenen Genossenschaften stieg von 6800 im Jahr 1890 auf 18000 im Jahr 1900 und auf über 40000 im Jahr 1920. Die meisten entstanden im Zusammenhang mit der landwirtschaftlichen Produktion. Die beschränkte Haftung erlaubte Beamten, Arbeitern und Angestellten mit kleinen und mittleren Einkommen, sich mit begrenztem Risiko in den städtischen Industrie- und Verwaltungszentren zu organisieren und Baugenossenschaften ins Leben zu rufen.

Auch die Arbeiterbewegung entdeckte die Genossenschaft für sich. Besonders erfolgreich waren die als Verbraucherorganisationen gegründeten Konsumgenossenschaften. In der Weimarer Republik rückte der Wohnungsbau stärker in den Mittelpunkt. In den ersten Nachkriegsjahren kam es zu einer erneuten Gründungswelle. So stieg die Zahl der Baugenossenschaften von 764 im Jahr 1908 auf 4054 im Jahr 1933. Ein Großteil der Baugenossenschaften, aber auch andere waren gemeinnützig orientiert. 1929 existierten über 52000 Genossenschaften, knapp 11000 Aktiengesellschaften und rund 46000 GmbHs. Die Genossenschaften waren damit eine weitverbreitete Unternehmensform, die das Wirtschaftsleben prägte und die Möglichkeit, anders zu wirtschaften, nicht nur unter Beweis gestellt hatte, sondern deren Lösungspotenzial im Rahmen der Selbsthilfe in wirtschaftlich schwierigen Zeiten auch genutzt wurde.

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 führte zu tief greifenden Veränderungen im Genossenschaftswesen. Die Mitglieder in den ländlichen Genossenschaften standen den neuen Machthabern noch am ehesten nahe. Die Konsumgenossenschaften als Machtbasis der Arbeiterbewegung wurden aufgelöst und in die Deutsche Arbeitsfront eingegliedert. Bei den Wohnungsbaugenossenschaften eliminierten die Nationalsozialisten regimekritische Führungskräfte mit dem Gesetz zur Sicherung der Gemeinnützigkeit im Wohnungswesen vom 14. Juli 1933. Als gemeinnützig anerkannte Wohnungsbaugenossenschaften waren bereits seit dem 1. Dezember 1930 verpflichtet, einem genossenschaftlichen Prüfungsverband anzugehören. Die Nationalsozialisten beseitigten die bunte Verbandslandschaft und schalteten insbesondere die der Arbeiterbewegung nahestehenden Verbände aus. Gesetzlich geregelt wurde die Aufteilung Deutschlands in regionale Verbandsbezirke. Die Wohnungsbaugenossenschaften hatten dem für ihr Gebiet zuständigen Verband anzugehören. Damit wurde eine zentral ausgerichtete Struktur geschaffen, die ganz im Sinne des "Führerprinzips" eine Einflussnahme der Nationalsozialisten über die Regionalverbände auf die Genossenschaften ermöglichte. Mit der Novelle des Genossenschaftsgesetzes vom 30. Oktober 1934 wurde die Pflichtmitgliedschaft in einem Prüfungsverband für alle Genossenschaften verbindlich.

Nach 1945 konnte das Genossenschaftswesen nicht mehr an die Gründungseuphorie der Weimarer Zeit anknüpfen. Das NS-Wirtschaftssystem insgesamt und die Restriktionen gegen die Genossenschaften hatten die Genossenschaftsidee ins Abseits gedrängt. Da die Pflichtmitgliedschaft nach 1945 nicht aufgehoben wurde, waren Neugründungen von der Zustimmung eines Prüfungsverbandes abhängig. Von 1960 bis 1990 ging die Zahl der Genossenschaften in Westdeutschland von 27140 auf 8769 zurück. Durch die deutsche Wiedervereinigung 1990 wurde die öffentliche Wahrnehmung der Genossenschaften gestärkt. In der DDR gab es eine große Anzahl von Genossenschaften mit erheblichen "Marktanteilen". Die Konsumgenossenschaften besorgten rund 40 Prozent des Lebensmittelumsatzes, die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) bewirtschafteten 95 Prozent des Ackerlandes. In der DDR fand allerdings das Genossenschaftsgesetz von 1889 keine Anwendung mehr. Stattdessen waren verbindliche Mustersatzungen bestimmend.

Die ostdeutschen Genossenschaften hatten die Möglichkeit, im Wege der Umwandlung in die bundesdeutsche Rechtsform eG – eingetragene Genossenschaft – zu wechseln. Vor allem die rund 750 Wohnungsbaugenossenschaften mit etwa 1,2 Millionen Wohnungen und die aus den LPGs hervorgegangenen gut 1000 Agrargenossenschaften, die in Ostdeutschland etwa ein Viertel der landwirtschaftlichen Nutzfläche bewirtschaften, sind bedeutende Wirtschaftsfaktoren.

Genossenschaften heute

Bis heute ist die Gründung einer Genossenschaft im Vergleich zu anderen Unternehmensformen kompliziert, aufwendig und teuer. Jede Genossenschaft – egal welche Größe angestrebt wird – muss einem genossenschaftlichen Prüfungsverband angehören, der für die Gründungsprüfung und die regelmäßig wiederkehrende genossenschaftliche Prüfung zuständig ist. Nur mit der positiven Einschätzung des Geschäftsmodells durch den Prüfungsverband können potenzielle Genossenschaftsgründer die Eintragung ihres Unternehmens in das Genossenschaftsregister erreichen. Unabhängig von dem Betätigungsfeld ist die Genossenschaft wie auch die GmbH als "Formkaufmann" dem Handelsgesetzbuch unterworfen und damit von Anbeginn zur doppelten Buchführung mit Jahresabschluss und Bilanzveröffentlichung verpflichtet. Die reinen Organisationskosten belaufen sich damit auch für kleine Genossenschaften auf etwa 2500 Euro pro Jahr.

Neben dieser Hürde fehlt auch der wirtschaftliche Anreiz für Unternehmens- und Steuerberater. Ihnen gehen die genossenschaftlichen Mandate durch die Pflichtmitgliedschaft in einem Genossenschaftsverband schnell verloren. Das Spezialwissen über Genossenschaften, das zusätzlich noch erworben werden müsste, bringt keine Erlöse. Der Mangel an Sachverstand macht sich insbesondere bei der Beratung von Neu- und Existenzgründungen bemerkbar.

Die Reform des Genossenschaftsgesetzes von 2006 hat die Gründung erleichtert, nur noch drei statt bisher sieben Mitglieder sind erforderlich. Durch Vereinfachungen bei der Prüfung konnten die Kosten für kleine Genossenschaften gesenkt werden. Zudem wurde die Möglichkeit befördert, gemeinnützige Genossenschaften in sozialen und kulturellen Bereichen zu gründen. Seither ist die Zahl der Neugründungen gestiegen. Lag diese 2003 noch bei 60, erreichte sie 2011 einen vorläufigen Höhepunkt mit 353 Genossenschaftsgründungen, seither sind die Zahlen wieder leicht rückläufig.

Von den fast 2000 Genossenschaften, die seit 2006 gegründet wurden, entstanden rund 850 im Bereich erneuerbare Energien: Anlagen für Photovoltaik, Biogas, Windkraft sowie Nahwärmenetze und Bioenergiedörfer. Die Gründung von Energiegenossenschaften ist von den Genossenschaftsverbänden durch die Entwicklung von Blaupausen massiv unterstützt worden. Umwelt, Energie und Wasser standen 2013 bei fast 60 Prozent der Neugründungen im Mittelpunkt. Allerdings muss man feststellen, dass viele dieser "Genossenschaften" keinen Förderauftrag für ihre Mitglieder erfüllen, sondern eher Kapitalanlagefonds darstellen. Deutlich abgeebbt ist die Gründungswelle in diesem Segment 2014 als Folge der sinkenden Förderung im Zusammenhang mit der Reform des Erneuerbare Energien Gesetzes. An zweiter Stelle standen 2013 bei den Neugründungen mit 12 Prozent Dienstleistungsgenossenschaften. Auch Sozialgenossenschaften liegen im Trend, von Januar bis Juni 2014 gab es hier 19 Neugründungen.

Die positive Entwicklung hat dazu geführt, dass die Zahl der genossenschaftlichen Unternehmen seit 2009 wieder angestiegen ist und Ende 2013 bei 8007 mit fast 22 Millionen Mitgliedern und über 930000 Mitarbeitern lag. Begünstigt wurde die Entwicklung seit der Jahrtausendwende durch die Finanzmisere der öffentlichen Haushalte, die ab Ende der 1990er Jahren zu einer Reihe von Privatisierungen geführt hatte, sowie durch die Immobilienkrise von 2007, die sich zur Wirtschaftskrise ausweitete. Zugleich haben auch die Genossenschaften durch das UN-Jahr der Genossenschaften 2012, die Dekadenstrategie des Internationalen Genossenschaftsbundes (IGB) für 2012 bis 2020 und die Nominierung der Genossenschaftsidee als immaterielles Weltkulturerbe bei der UNESCO auf sich aufmerksam gemacht.

Angesichts leerer Kassen in den Kommunen stellt das Genossenschaftsmodell wieder, wie nach dem Ersten Weltkrieg, als viele Städte und Gemeinden der Wohnungsnot mit der Gründung kommunaler Wohnungsunternehmen oder der Unterstützung von Genossenschaftsinitiativen begegneten, eine Alternative dar. Ob "Bürgerschwimmbäder", "Dorfladengenossenschaft" oder "Abfallgenossenschaft": Eine Reihe von Beispielen zeigt, dass Genossenschaften in den Bereichen der kommunalen Infrastruktur und Daseinsvorsorge erfolgreich arbeiten. Hier bringen Genossenschaftsmitglieder ohne Gewinnorientierung bürgerschaftliches Engagement ein, um dem Gemeinwohl dienende Angebote aufrechtzuerhalten.

Genossenschaftliches Wirtschaften – eine Alternative nach der Finanzkrise?

Seit dem Bankencrash von 2008, der in eine weltweite Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise mündete, steht die kapitalistische Wachstumspolitik, die auf gesamtwirtschaftliche, soziale und ökologische Folgen kaum Rücksicht nimmt, wieder verstärkt in der Kritik. Das Bedürfnis nach Vertrauen, Verlässlichkeit und Sicherheit hat die öffentliche Wahrnehmung der Genossenschaften verändert. Kreditgenossenschaften mit ihrer regionalen Ausrichtung haben sich als Stabilitätsfaktor in der Krise erwiesen. Sie verzeichnen steigenden Einlagenzufluss und eine wachsende Mitgliederzahl.

Bei der Suche nach Alternativen erweist sich die Genossenschaft als modernes, innovatives und nachhaltiges Modell. Die demokratische Struktur – jedes Mitglied eine Stimme – ermöglicht die gleichberechtigte Mitwirkung. Das Genossenschaftsmitglied wird selbst zum Akteur. Es bestimmt die Werte und die Ziele der unternehmerischen Tätigkeit mit. Zwar muss auch die Genossenschaft ertragsorientiert arbeiten, um sich in der Marktwirtschaft zu behaupten, der Verzicht auf eine Gewinnmaximierung eröffnet jedoch Handlungsspielräume, die je nach Ausrichtung der Genossenschaft ausgestaltet werden können. Die Wohnungsbaugenossenschaft bietet hochwertigen Wohnraum bei vergleichsweise niedriger Miete. Die Kreditgenossenschaft sorgt mit ihrer regionalen Verankerung für Kundennähe und Vertrauen. Die Energiegenossenschaft erzeugt umweltfreundlichen Strom und leistet damit einen Beitrag zur Energiewende. Die Kaffeegenossenschaft organisiert einen fairen Handel mit den Kaffeebauern. Die Sozialgenossenschaft ermöglicht, dass Menschen eigene Lösungen für ihre sozialen Bedürfnisse finden. Da sich der Zweck der Genossenschaft auf die Bedürfnisse der Mitglieder richtet, ist Nachhaltigkeit fester Bestandteil genossenschaftlichen Wirtschaftens.

Außerdem wird das Genossenschaftsmodell für geeignet gehalten, einen Beitrag zur Lösung der Nachfolgefrage in Unternehmen zu leisten. Ein Problem, das sich durch oft fehlende Familienangehörige als Nachfolger zuspitzt. Genossenschaften könnten zudem den Kooperationsbedarf im Handwerk lösen und werden für die Kultur- und Kreativwirtschaft empfohlen. Gerade für die besonders innovative und als Zukunftsbranche identifizierte Kultur- und Kreativwirtschaft scheint die Genossenschaft eine vielversprechende Alternative zu sein. Bereits heute liegt die Branche nach der Zahl der Beschäftigten nahezu gleichauf mit dem Spitzenreiter Maschinenbau. Zugleich ist in keiner Branche der Anteil der Selbstständigen und Freiberufler so hoch. Bei der Unternehmensgröße dominieren die Kleinstunternehmen – Umsatz bis 2 Million Euro – mit 97 Prozent; bei rund 80 Prozent handelt es sich um Solo-Gründungen. Synergieeffekte, die genossenschaftliche Zusammenschlüsse bei dieser Struktur erzielen könnten, ergeben sich aus einem gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb, einer arbeitsteiligen Auftragsabwicklung und einer Kompetenzerweiterung. Hier existieren die Voraussetzungen für eine nachhaltige Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Genossenschaftsmitglieder und damit ein Potenzial für eine Gründungswelle mit gesamtgesellschaftlicher Strahlkraft.

Fazit

Während in anderen europäischen Ländern, etwa in Skandinavien oder Italien, die Genossenschaftslandschaft sehr viel bunter und aktiver ist, bleibt Deutschland hinter den Möglichkeiten zurück. Die Gründungshemmnisse sind bekannt; Verbesserungsvorschläge für Gründungsberatung und Förderung von Genossenschaften liegen auf dem Tisch. Der Vorschlag zur Einführung einer Kooperationsgesellschaft für kleine Genossenschaften mit dem Ziel, einen "Bürokratieabbau bei Genossenschaften" einzuführen, ist zwar für viele potenzielle Genossenschaftsgründer interessant, trifft allerdings bei den um ihr Prüfungsmonopol fürchtenden Genossenschaftsverbänden auf wenig Zustimmung.

Obwohl dem Genossenschaftsmodell Lösungspotenzial für eine Reihe von aktuellen Themen zugeschrieben wird, fehlt der Gründungsschub, der es als Alternative erkennbar macht. Veränderungen muss es in drei Bereichen geben:

Erstens, die genossenschaftliche Rechtsform muss soweit entschlackt, entbürokratisiert und von unnötigen Kosten befreit werden, dass sie wieder mit der GmbH und dem eingetragenen Verein konkurrieren kann.

Zweitens, die öffentlichen Förderstrukturen sind an die Besonderheiten der Genossenschaften anzupassen, und Gründungshemmnisse sind abzubauen. Das Genossenschaftsmodell muss so attraktiv sein, dass Unternehmens- und Steuerberater es nicht länger bei der Gründungsberatung ignorieren können. Hier wie bei der Gestaltung der Rechtsform ist der Gesetzgeber gefordert, bessere Rahmenbedingungen herzustellen – eine Aufgabe, die eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, da die Förderung der genossenschaftlichen Selbsthilfe in mehreren Bundesländern Verfassungsrang genießt.

Drittens fehlt es an Menschen, die bereit sind, das Wagnis einer Genossenschaftsgründung auf sich zu nehmen. Gefragt ist praxisorientiertes Coaching, das sich auch an Nicht-Ökonomen wendet und denen eine Chance bietet, die ihre Ideen über das Profitstreben stellen. Stéphane Hessel hat in seiner Schrift "Empört Euch" angesichts der Finanzkrise gefordert, dass "Ethik, Gerechtigkeit, nachhaltiges Gleichgewicht" unser Handeln bestimmen müssen. Der Genossenschaftswissenschaftler Hans-H. Münkner erinnert an die Kraft der organisierten Selbsthilfe mit dem Aufruf: "Organisiert Euch in Genossenschaften". Dem bleibt nur hinzuzufügen: Gründet Genossenschaften!

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Helmut Faust, Geschichte der Genossenschaftsbewegung, Frankfurt/M. 19773, S. 103–114.

  2. Vgl. ebd., S. 167–192.

  3. Vgl. ebd., S. 235–254.

  4. Vgl. ebd., S. 323–386.

  5. Vgl. ebd., S. 193–233.

  6. Vgl. Holger Martens, Die Diskussion des Genossenschaftsgesetzes im Spiegel der Reichstagsparteien, in: Heinrich-Kaufmann-Stiftung (Hrsg.), Hermann Schulze-Delitzsch und die Konsum-, Produktiv- und Wohnungsgenossenschaften. Beiträge zur 3. Tagung zur Genossenschaftsgeschichte, Norderstedt 2011, S. 44–55.

  7. Zahlen nach den Jahresberichten des Deutschen Genossenschaftsverbandes.

  8. Vgl. H. Faust (Anm. 1), S. 520f.

  9. Vgl. Wilhelm Kaltenborn, Verdrängte Vergangenheit. Die historischen Wurzeln des Anschlusszwanges der Genossenschaften an Prüfungsverbände, Norderstedt 2015, S. 26–29.

  10. Vgl. Jan-Frederic Korf, Von der Konsumgenossenschaftsbewegung zum Gemeinschaftswerk der Deutschen Arbeitsfront, Norderstedt o.J. (2008).

  11. Vgl. Ulrike Haerendel, Wohnungspolitik im Nationalsozialismus, in: Zeitschrift für Sozialreform, 45 (1999) 10, S. 862–865.

  12. Vgl. W. Kaltenborn (Anm. 9), S. 20–22.

  13. Zu den Zahlen: Deutsche Genossenschaftskasse (Hrsg.), Die Genossenschaften in der Bundesrepublik Deutschland 1974/75, Neuwied 1975, S. 76; Michael Stappel, Die deutschen Genossenschaften 2008. Entwicklung – Meinungen – Zahlen, Wiesbaden 2008, S. 39.

  14. Vgl. Hans-Joachim Herzog, Genossenschaftliche Organisationsformen in der DDR, Tübingen 1982, S. 27.

  15. Vgl. Barbara Crome, Entwicklung und Situation der Wohnungsgenossenschaften in Deutschland, in: Informationen zur Raumentwicklung, (2007) 4, S. 211–221, hier: S. 214; Deutscher Raiffeisen Verband, Agrargenossenschaften. Von LPG’en zu Genossenschaften, o.D., Externer Link: http://www.raiffeisen.de/uebersicht-der-genossenschaftssparten/agrargenossenschaften/ (28.7.2015)

  16. Vgl. Herbert Klemisch/Walter Voigt, Genossenschaften und ihre Potenziale für eine sozial gerechte und nachhaltige Wirtschaftsweise, Bonn 2012, S. 59; Hans-H. Münkner, Organisiert Euch in Genossenschaften! Anders Wirtschaften für eine bessere Welt, Berlin 2014, S. 57.

  17. Bei der Historiker-Genossenschaft eG beispielsweise betragen die Organisationskosten 2443 Euro, darin enthalten: Prüfungskosten anteilig für ein Jahr, Erstellung des Jahresabschlusses und der Steuererklärungen, Steuerberatung, Bilanzveröffentlichung im Bundesanzeiger, Mitgliedsbeitrag Genossenschaftsverband, Beitrag Handelskammer.

  18. Vgl. H. Klemisch/W. Voigt (Anm. 16), S. 57.

  19. Symptomatisch für die Situation ist ein Artikel über Unternehmensrechtsformen in der Zeitschrift der Hamburger Handelskammer "Hamburger Wirtschaft" vom April 2014, S. 60f. Der Beitrag, der vermittelt, dass hier alle für Unternehmensgründungen in Frage kommenden Rechtsformen aufgeführt sind, verschweigt die Existenz von Genossenschaften. Auf Nachfrage wurde mitgeteilt, dass sich die Darstellung aus Platzgründen "auf die am häufigsten vorkommenden Rechtsformen beschränken" musste. Ferner wurde argumentiert, dass bei Neugründungen die Genossenschaft kaum vorkomme. E-Mail von Hennig Raddatz von der Handelskammer Hamburg an den Verfasser vom 31.3.2014.

  20. 2012: 333; 2013: 332; 2014: nach Schätzungen etwa 250. Vgl. Michael Stappel, Die deutschen Genossenschaften 2014. Entwicklung – Meinungen – Zahlen, Wiesbaden 2014, S. 6f.

  21. Vgl. H. Klemisch/W. Voigt (Anm. 16), S. 50f.

  22. Vgl. M. Stappel (Anm. 13), S. 6.

  23. Vgl. ebd., S. 7.

  24. Vgl. ebd., S. 8.

  25. Vgl. H.-H. Münkner (Anm. 16), S. 53–56; Deutsche UNESCO-Kommission, Genossenschaften als Immaterielles Kulturerbe der Menschheit nominiert, März 2015, Externer Link: http://www.unesco.de/kultur/2015/nominierung-genossenschaften.html (28.7.2015).

  26. Vgl. H. Klemisch/W. Voigt (Anm. 16), S. 36–41.

  27. Vgl. Michael Stappel, Genossenschaften in Deutschland. Eine Studie aus Anlass des Internationalen Jahres der Genossenschaften, Frankfurt/M. 2011, S. 4; ders. (Anm. 13), S. 8.

  28. Vgl. Marleen Thürling, Genossenschaftliche Neugründungen: Lösungspotential in Zeiten der Krise?, in: Frank Schulz-Nieswandt/Ingrid Schmale (Hrsg.), Entstehung, Entwicklung und Wandel von Genossenschaften, Berlin 2013, S. 85–109, hier: S. 90.

  29. Vgl. H. Klemisch/W. Voigt (Anm. 16), S. 53; H.-H. Münkner (Anm. 16), S. 43–52.

  30. Vgl. Monitoring zu ausgewählten wirtschaftlichen Eckdaten der Kultur- und Kreativwirtschaft 2013. Bericht im Rahmen des Projekts "Stand und Perspektiven der deutschen Kultur- und Kreativwirtschaft 2013–2015" im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi), Dezember 2014, S. 20–26.

  31. Zur aktuellen Diskussion: BMWi, Potenziale und Hemmnisse von unternehmerischen Aktivitäten in der Rechtsform der Genossenschaft, Sitzung des AWK-AK 1.6 "Bürokratieentlastung des Dritten Sektors und des bürgerlichen Engagements", Köln, 27.1.2015.

  32. Bayern, Art. 153; Hessen, Art. 43, 44; Nordrhein-Westfalen, Art. 28; Rheinland-Pfalz, Art. 65; Hamburg, Präambel.

  33. Vgl. Stéphane Hessel, Empört Euch!, Berlin 2011, S. 20.

  34. Vgl. H.-H. Münkner (Anm. 16), S. 58f.

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Dr. phil., geb. 1962; Gründer und Vorstand der Historiker-Genossenschaft eG; Lehrbeauftragter am Historischen Seminar der Universität Hamburg. E-Mail Link: h.martens@historikergenossenschaft.de Externer Link: http://www.historikergenossenschaft.de