Der Kapitalismus ist ein Rätsel. Er hat längst alle Lebensbereiche durchdrungen, aber seine Deutung ist noch immer umstritten. Das beginnt schon beim Begriff: Das Wort "Kapitalismus" zu verwenden, gilt in Deutschland häufig als "links" oder gar "marxistisch". In den USA hingegen wird der Begriff – der im Übrigen nicht von Karl Marx stammt
Aber was ist dieses "Kapital"? Es ist nicht das Gleiche wie Geld, obwohl es im Alltag oft synonym verwendet wird. Geld ist mindestens 4000 Jahre alt: Die ersten Texte der Menschheit stammen aus Mesopotamien und wurden nicht etwa verfasst, um Literatur zu überliefern, sondern um Zahlungsverpflichtungen zu verzeichnen. Während das Geld uralt ist, ist das Kapital noch jung. Der moderne Kapitalismus ist um 1760 im Nordwesten Englands entstanden, als Textilfabrikanten auf die Idee kamen, Webstühle und Spinnereien zu mechanisieren. Heute wirken diese Maschinen sehr klein und zierlich, aber mit ihnen begann eine neue Epoche. Erstmals in der Geschichte wurde die menschliche Arbeitskraft systematisch durch Technik ersetzt, und damit kam der Reichtum in die Welt. Seit Jahrtausenden hatte die Wirtschaft weitgehend stagniert, aber nun wuchs sie exponentiell. Das "Kapital" im Kapitalismus ist also nicht das Geld, sondern es sind die effizienten Produktionsprozesse und der technische Fortschritt. Es war eine Revolution, kein schlichtes Mehr vom Gleichen. Der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter hat für diesen fundamentalen Wandel ein prägnantes Bild gefunden: "Man kann beliebig viele Postkutschen aneinanderreihen – und trotzdem wird daraus niemals eine Eisenbahn."
Doch warum hat die Industrialisierung ausgerechnet in England eingesetzt? Und warum ab 1760? "Obwohl Tausende von Büchern geschrieben wurden, bleibt es ein gewisses Rätsel", konstatiert die amerikanische Wirtschaftshistorikerin Joyce Appleby.
Kapitalismus = Marktwirtschaft?
Obwohl der Kapitalismus nun rund 250 Jahre alt ist, halten sich immer noch hartnäckige Missverständnisse. Dazu zählt der Glaube, dass der Kapitalismus das Gleiche wie eine "Marktwirtschaft" sei. Doch die Marktwirtschaft gibt es nicht, oder nur in kleinen Nischen. Bereits ein Blick in die Geschichte zeigt, dass der moderne Kapitalismus mehr sein muss als nur eine Ansammlung von Märkten. Denn Märkte existierten bereits in der griechischen Antike vor 2500 Jahren. Die Araber hatten ihre Souks, Türken und Perser ihre Basare. Inder und Chinesen tauschten ihre Waren ebenfalls auf Märkten aus, aber ein moderner Kapitalismus ist daraus nirgends entstanden.
Allerdings meint die Theorie von der Marktwirtschaft mehr, als dass nur Märkte vorhanden seien. Sie will vor allem beschreiben, wie faire Preise entstehen – nämlich durch umfassenden Wettbewerb. Viele Anbieter sollen auf viele Nachfrager treffen, sodass Konkurrenz sicherstellt, dass weder Firmen noch Kunden übervorteilt werden. Diese attraktive Theorie hat jedoch einen Nachteil: Den unterstellten Wettbewerb gibt es höchstens eingeschränkt. Stattdessen wird unsere Wirtschaft von Großkonzernen geprägt, die von den Rohstoffen bis zum Absatz die gesamte Wertschöpfungskette kontrollieren. Bereits eine trockene Zahl des Statistischen Bundesamts sagt alles: "Weniger als ein Prozent der größten Unternehmen erwirtschafteten 2011 gut 66 Prozent aller Umsätze."
Echte Marktwirtschaft gibt es zwar, aber es sind nicht die großen Unternehmen, sondern die kleinen Selbstständigen, die sich im gnadenlosen Wettbewerb behaupten müssen. Ob Handwerker, Friseure, Gastwirte, Architekten, kleine Ladenbesitzer oder die Betreiber einer Reinigung – sie alle müssen sich der Konkurrenz stellen. Wenn das Essen nicht schmeckt, gehen die Kunden beim nächsten Mal in ein anderes Restaurant. Dieser Sektor der kleinen Firmen ist zahlenmäßig sogar sehr groß, aber dort findet nur ein Bruchteil der eigentlichen Wertschöpfung statt. Dominiert wird die Wirtschaft von wenigen Großkonzernen.
Diese Entwicklung ist keineswegs neu, sondern war schon im 19. Jahrhundert zu beobachten. Allein zwischen 1879 und 1886 dürften rund 90 Kartelle in Deutschland entstanden sein, die meisten davon waren Preiskartelle.
Exemplarisch ist die Geschichte der deutschen Elektroindustrie: 1882 begann der internationale Siegeszug der Glühbirne, die der US-Amerikaner Thomas Alva Edison erfunden hatte. In Deutschland gründete Emil Rathenau schon 1883 die Deutsche Edison-Gesellschaft für angewandte Elektrizität. Um jeden Ärger zu vermeiden, einigte er sich bereits vorab mit dem einzig denkbaren Konkurrenten – mit der Firma Siemens & Halske, die seit den 1860er Jahren Dynamomaschinen baute. Als Arrangement schlug Rathenau vor, dass Siemens auf eigene Elektrifizierungsbemühungen verzichten sollte, dafür würde er wiederum sämtliche Vorprodukte von Siemens beziehen. Nur die Glühbirnen wollte Rathenau selbst herstellen.
Technische Entwicklungen machten diesen Glühbirnen-Vertrag zwar bald überflüssig, die gedeihliche Zusammenarbeit aber blieb. Als Emil Rathenau 1887 seine Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft (AEG) gründete, stiegen Siemens und auch die Deutsche Bank als Kapitalgeber ein, sodass sie 1910 zusammen 75 Prozent der elektrotechnischen Produktion in Deutschland kontrollierten.
Den Großkonzernen ist es zudem gelungen, den Markt seit mehr als 100 Jahren zu zementieren. Erhellend ist ein Blick auf den Börsenindex DAX, der die dreißig größten deutschen Aktiengesellschaften versammelt. Die Mehrzahl dieser Unternehmen wurde bereits vor dem Ersten Weltkrieg gegründet, und sie konnten sich bis heute behaupten, weil gegen ihre schiere Größe niemand mehr ankommt. Ob Stahl, Autos, Chemie oder Pharma: Diese Märkte sind weitgehend geschlossen und für Neulinge nicht mehr zu knacken. Der Trend zur Konzentration erfasst auch neue Märkte, die durch technische Innovationen entstehen. Ein gutes Beispiel ist das Internet: Es dauerte jeweils weniger als zehn Jahre, bis Neugründungen wie Google, Facebook oder Amazon eine marktbeherrschende Stellung erreichten. Von echtem Wettbewerb ist auch im Internet nicht mehr viel zu sehen, das einst als eine Zone der Freiheit gepriesen wurde.
Die Herrschaft der Großkonzerne ist selbst dem "Vater der Sozialen Marktwirtschaft", Ludwig Erhard, nicht gänzlich entgangen. In seinem berühmten Buch "Wohlstand für alle" beklagte er: "Die Entwicklung der modernen Technik förderte ihrerseits noch einmal gewisse Monopolisierungstendenzen, so dass ohne Zweifel die Gleichheit der Wettbewerbsbedingungen allenthalben störend beeinträchtigt wurde."
Der moderne Kapitalismus ist eine Art Planwirtschaft – auch wenn sie der sozialistischen Planwirtschaft überhaupt nicht ähnelt. Natürlich ist es ein diametraler Unterschied, ob die Kalkulationen zentral in einem Ministerium oder dezentral bei privatwirtschaftlichen Firmen erfolgen. Aber geplant wird immer, weil geplant werden muss. Wenn das Risiko – und damit der Gewinn – nicht kalkulierbar wäre, würde überhaupt niemand investieren.
Kapitalismus versus Staat?
Unternehmen und Staat sind sich also viel ähnlicher, als gemeinhin gedacht wird. Dies räumt mit einem zweiten häufigen Missverständnis auf: Oft wird geglaubt, privates Unternehmertum und Staatsaktivitäten würden sich ausschließen. Doch Kapitalismus und Staat sind kein Gegensatz – sondern gemeinsam gewachsen.
Der Kapitalismus wäre ohne den Staat nicht weit gekommen, denn damit sich die Wirtschaft entfalten konnte, war es notwendig, die Bevölkerung besser auszubilden, Universitäten zu gründen und Forschung zu finanzieren. Die explodierenden Städte mussten geplant und verwaltet, Straßen und Eisenbahnen gebaut werden. Potenziell gefährliche Medikamente mussten überwacht, die Sicherheit der Fabriken kontrolliert und Umweltschäden vermieden werden. Auch mussten Rentner abgesichert und Arbeitslose versorgt werden. Der Staat war plötzlich überall gefragt. Zumal zentrale technische Entwicklungen gar nicht hätten stattfinden können, wenn der Staat nicht mitgezogen hätte. Um noch einmal auf die Geschichte der AEG zurückzukommen: Für Emil Rathenau lohnte es sich nur, ins Elektrizitätsgeschäft einzusteigen, weil die Stadt Berlin als sicherer Kunde zur Verfügung stand und 1884 einen Konzessionsvertrag mit seiner Firma abschloss.
Die wachsende Bedeutung des Staates spiegelt sich in der sogenannten Staatsquote wieder, die den Anteil öffentlicher Ausgaben an der jährlichen Wirtschaftsleistung misst, und diese Staatsquote ist rasch gestiegen. Lag sie im Kaiserreich noch bei 5 bis 7 Prozent, hatte sie in der Weimarer Republik schon 15 bis 20 Prozent erreicht – und 2013 betrug sie in Deutschland 44,3 Prozent. Auf den ersten Blick könnte dies nahelegen, dass die Staatsausgaben ständig steil nach oben klettern würden. Tatsächlich jedoch verharren sie seit 40 Jahren auf einem fast unveränderten Niveau. In Deutschland belief sich die Staatsquote 1975 auch schon auf 48,8 Prozent – und seither musste sogar noch eine Wiedervereinigung finanziert werden. Die Sorge ist also gänzlich unbegründet, dass ein Moloch namens Staat das angeblich zarte Pflänzchen namens Kapitalismus restlos zermalmen könnte.
Die hohe Staatsquote ist zudem keine Belastung für die Wirtschaft – sondern ihr Sicherheitsnetz. Es sind genau diese öffentlichen Ausgaben, die den Kapitalismus in Krisenzeiten stabilisieren. Renten laufen weiter, Arbeitslose werden unterstützt, und auch die Krankenkassen schränken ihre Leistungen nicht ein, wenn es zu einer Rezession kommt. Diese "automatischen Stabilisatoren" garantieren einen Basissockel an Einkommen, was wiederum für Konsum, Umsatz und Arbeitsplätze sorgt, während die Firmen ihre Investitionen und Kapazitäten nach unten fahren. Würde die deutsche Wirtschaft nur aus privaten Unternehmen bestehen – sie würde in jeder Krise weitgehend kollabieren. Das 19. Jahrhundert, als es noch keine Sozialversicherungen gab und der Staat nicht intervenierte, ist dafür ein abschreckendes Beispiel: Nach dem Gründerkrach 1873 wurden in der deutschen Eisenindustrie 40 Prozent aller Arbeiter entlassen. Die Löhne halbierten sich, die Preise fielen um 38 Prozent.
Kapitalismus = Ausbeutung?
Der Kapitalismus benötigt einen starken Staat – aber wer regiert diesen Staat? Seit Beginn der Industrialisierung hält sich hartnäckig der Verdacht, dass die Massen ausgebeutet werden und nur eine kleine Oberschicht vom Wachstum profitiert. Kapitalismus und Kapitalismuskritik sind gemeinsam entstanden. Die klassische Kapitalismuskritik unterteilt sich in drei Hauptvarianten: Der Kapitalismus hätte im 18. Jahrhundert ohne die Sklaverei in Nord- und Südamerika gar nicht entstehen können; der Kapitalismus funktioniert nur, weil die Arbeitnehmer zu niedrige Löhne erhalten; die reichen Industriestaaten leben auf Kosten der ärmeren Entwicklungs- und Schwellenländer.
Bei all diesen Einwänden ist ein grundsätzliches Missverständnis zu vermeiden: Man darf von der Realität nicht umstandslos auf einen systemischen Zwang schließen. Empirisch ist nicht zu bezweifeln, dass es Ausbeutung gab und gibt. Aber die eigentliche Frage ist: Ist ökonomische Unterdrückung notwendig für den Kapitalismus – oder ist sie Folge von politischen Entscheidungen, die auch anders hätten ausfallen können? Bereits im 18. Jahrhundert haben sich die Zeitgenossen gefragt, ob Sklaverei zwingend zum Kapitalismus gehört. Für den Gründungsvater der Volkswirtschaftslehre, Adam Smith, war eindeutig, dass Zwangsarbeit überflüssig und ein sehr kostenintensives Modell ist. Er forderte 1776, die Sklaverei abzuschaffen, weil sie sich nicht rentiere. In seinem Klassiker "Der Wohlstand der Nationen" schrieb er: "Die Erfahrung aller Zeiten und Generationen zeigt, so glaube ich, dass die Arbeit von Sklaven, obwohl diese scheinbar nur ihren Unterhalt kosten, am Ende die teuerste von allen ist. Eine Person, die kein Eigentum erwerben kann, kann kein anderes Interesse haben, also so viel zu essen und so wenig zu arbeiten wie nur möglich." Smith leugnete nicht, dass die Plantagen profitabel waren, die mit Sklaven betrieben wurden. Aber er drehte dieses Argument um: Nur weil mit Baumwolle oder Tabak sowieso viel Geld zu verdienen sei, könnten sich die amerikanischen Südstaaten die Sklavenarbeit leisten. In den amerikanischen Nordstaaten hingegen hätte es von Anfang an fast nur freie Bürger gegeben, weil "der Anbau von Mais, so scheint es, die Kosten von Sklaven nicht tragen kann".
Die Rolle der Sklaverei beschäftigt die Geschichtsforschung bis heute – und die Ergebnisse sind bis heute kontrovers. So hat der Historiker Sven Beckert jüngst versucht zu zeigen, dass die Sklaverei kein teurer Irrtum der Plantagenbesitzer war, wie Smith meinte. Stattdessen geht Beckert so weit zu behaupten, dass der Kapitalismus ohne die Sklaverei gar nicht hätte entstehen können.
Der entwickelte Kapitalismus setzt gänzlich auf Lohnarbeit. Doch ist die Abwesenheit von Sklaverei wirklich besser? Auch diese Frage stellte sich von Anfang an. Denn im England des 19. Jahrhunderts war nicht zu übersehen, dass das Proletariat verelendete. Hohe Löhne hatten die Industrialisierung in Großbritannien zwar ausgelöst, aber anschließend sank der Lebensstandard der Massen wieder, weil Menschen durch Maschinen ersetzt wurden. Die Volkswirtschaft als Ganzes wurde reicher, aber die Mehrheit der Bürger ärmer. Dieses Phänomen ist als early growth paradox in die Geschichtswissenschaft eingegangen.
Marx versuchte als Erster, theoretisch zu erklären, wie es bei wachsendem Wohlstand zu grassierender Armut kommen kann. In seinem "Kapital" von 1867 entwickelte er die Mehrwerttheorie, die darauf basierte, den Tauschwert eines Gutes durch die in ihm repräsentierte Arbeitszeit zu definieren. Da ein Mensch länger arbeiten kann, als er an Gütern für sein Überleben (Reproduktion) benötigt, würde dieser Mehrwert vom Kapitalisten abgeschöpft. Marx wurde sowohl empirisch wie theoretisch widerlegt. Schon zu seinen Lebzeiten begannen die Reallöhne zu steigen, weil sich die Arbeiter zu schlagkräftigen Gewerkschaften zusammenschlossen. Aber auch theoretisch zeigte sich, dass die Arbeitswertlehre nicht mit der faktischen Preisbildung in Einklang zu bringen war.
Doch obwohl sich Marx’ Theorie als falsch erwies, hat er auf ein zentrales Phänomen des Kapitalismus aufmerksam gemacht: Bis heute sind Einkommen und Vermögen extrem ungleich verteilt. Vor Kurzem hat daher der französische Ökonom Thomas Piketty an Marx angeknüpft und einen mittlerweile internationalen Bestseller mit dem Titel "Das Kapital im 21. Jahrhundert" veröffentlicht. Anhand von internationalen und historischen Steuerstatistiken konnte er zeigen, wie stabil die Ungleichheit in den vergangenen drei Jahrhunderten war: In allen westlichen Ländern konzentriert sich der Reichtum bei wenigen Familien. Nur die beiden Weltkriege und die Wirtschaftskrise ab 1929 haben diesen Trend für kurze Zeit umgekehrt. Doch seit 1980 ist erneut zu beobachten, dass sich das Volksvermögen bei einer kleinen privilegierten Schicht sammelt.
Piketty hat einen einzigartigen Datensatz zusammengetragen. Wie aber sind diese Statistiken zu deuten? Er selbst formuliert als "Gesetz des Kapitalismus", dass die Rendite des Vermögens stets über dem Wachstum liege (r > g). Reiche werden also reicher, während die Arbeitnehmer verlieren. Dieses "Gesetz" wurde vielfach kritisiert. So macht Piketty den methodischen Fehler, dass er nur die Nettovermögen betrachtet – von denen die Schulden also schon abgezogen sind. Damit aber entgeht ihm, dass Staaten, private Haushalte und Unternehmen ihre Verschuldung seit 1980 mehr als verdoppelt haben, wenn man die Kredite in Bezug zur Wirtschaftsleistung setzt. Ohne diese Schuldenblase wäre aber gar nicht denkbar gewesen, dass die Vermögen so schnell wachsen. Denn Kredite haben einen Hebeleffekt und vergrößern den Reichtum scheinbar, weil sie die Preise von Aktien und Immobilien nach oben treiben.
Kapitalismus ohne Wachstum?
Der Kapitalismus ist also immer noch nicht vollständig erklärt und bleibt bis heute ein gewisses Rätsel. Inzwischen ist aber eine neue Form der Kapitalismuskritik hinzugekommen: Das Wachstum als solches wird hinterfragt, während die früheren Varianten der Kritik monierten, dass das Wachstum nicht gerecht verteilt werde und auf Ausbeutung beruhe. Das einflussreichste Buch dieser neuen Kapitalismuskritik war zweifellos der Bericht des Club of Rome "Die Grenzen des Wachstums" von 1972. Die konkreten Prognosen haben sich zwar als falsch erwiesen, aber die zentrale Botschaft hat sich durchgesetzt: Der Kapitalismus ist zum Untergang verdammt. Er benötigt Wachstum, aber in einer endlichen Welt kann es unendliches Wachstum nicht geben. Die Rohstoffe werden knapp, und zudem zerstört der Mensch seine eigenen Lebensgrundlagen, indem er die Umwelt verseucht.
Der Kapitalismus wird chaotisch und brutal zusammenbrechen – nach allem, was man bisher weiß. Dieser Pessimismus mag zunächst übertrieben wirken. Schließlich fehlt es nicht an Konzepten, wie eine ökologische Kreislaufwirtschaft aussehen könnte, die den Kapitalismus überwinden soll. Einige Stichworte lauten: erneuerbare Energien, Recycling, langlebige Waren, öffentlicher Verkehr, weniger Fleisch essen, biologische Landwirtschaft und regionale Produkte.
Die Vorschläge für eine Postwachstumsgesellschaft basieren immer auf der Idee, Arbeit und Einkommen zu reduzieren. Doch der Kapitalismus ist keine Badewanne, bei der man den Stöpsel ziehen und einfach die Hälfte des Wassers ablassen kann. Er ist kein stabiles System, das zum Gleichgewicht neigt und verlässliche Einkommen produziert, die man ruhig senken kann.
Wie dieser Strudel funktioniert, hat der Schweizer Ökonom Hans Christoph Binswanger beschrieben, der unter anderem die Ökosteuer erfunden hat. Binswanger trieb die Frage um, ob der Kapitalismus auf das zerstörerische Wachstum verzichten könne. Seine Antwort lautete: Nein. Denn die "Investitionsketten" würden reißen, wie er es technisch ausdrückte. Übersetzt: Firmen investieren nur, wenn sie Gewinne erwarten. Gesamtwirtschaftlich sind diese Gewinne aber identisch mit Wachstum. Ohne Wachstum müssen die Unternehmen also Verluste fürchten. Sobald aber Profite ausbleiben, investieren die Unternehmen nicht mehr, und ohne Investitionen bricht die Wirtschaft zusammen.
Nicht wenigen Wachstumskritikern ist diese systemische Sicht suspekt, die die Wirtschaft von "oben" betrachtet. Sie würden lieber von "unten" beginnen, indem jeder Einzelne seinen Konsum, aber auch seine Arbeitszusammenhänge verändert. Sie stellen sich die Wirtschaft als eine Summe vor, bei der viele kleine Nischen am Ende ein neues Ganzes ergeben.
Da sich das Wachstum nicht einfach abschaffen lässt, machen neuerdings Konzepte wie "Green New Deal" oder "nachhaltiges Wachstum" Karriere. Sie wollen Wachstum und Rohstoffverbrauch "entkoppeln", indem die Effizienz gesteigert wird. Diese "Entkoppelung" ist nicht völlig abwegig, denn seit 1970 hat sich der Energieverbrauch pro Wareneinheit halbiert. Die Umwelt wurde allerdings nicht entlastet, weil prompt der "Bumerang-Effekt" zuschlug: Die Kostenersparnis wurde genutzt, um die Warenproduktion auszudehnen, sodass der gesamte Energieverbrauch nicht etwa fiel, sondern sogar zunahm.
Als Ausweg reicht es auch nicht, auf regenerative Energien umzustellen. Denn weite Bereiche der Wirtschaft lassen sich nicht mit Ökostrom betreiben. Das Elektroauto befindet sich noch immer im Versuchsstadium, und auch Passagierflugzeuge heben (bislang) nur mit Kerosin ab. Allein der Flugverkehr zerstört aber jede Hoffnung, die Klimaziele zu erreichen, wie eine einfache Rechnung zeigt: Wenn die Erderwärmung begrenzt bleiben soll, darf jeder Mensch nur noch 2,7 Tonnen CO2 pro Jahr verursachen. Ein Flug von Frankfurt am Main nach New York schlägt aber bereits mit 4,2 Tonnen zu Buche, und nach Sydney sind es gar 14,5 Tonnen.
Es ist ein Dilemma: Ohne Wachstum geht es nicht, komplett grünes Wachstum gibt es nicht, und normales Wachstum führt unausweichlich in die ökologische Katastrophe. Es bleibt nur ein pragmatisches Trotzdem: trotzdem wenig fliegen, trotzdem Abfall vermeiden, trotzdem auf Wind und Sonne setzen, trotzdem biologische Landwirtschaft betreiben. Aber man sollte sich nicht einbilden, dass dies "grünes" Wachstum sei. Wie man den Kapitalismus transformieren kann, ohne dass er chaotisch zusammenbricht – das muss noch erforscht werden.