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Ost-West-Beziehungen und deutsche Außenpolitik seit der Wiedervereinigung - Essay | 25 Jahre deutsche Einheit | bpb.de

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Ost-West-Beziehungen und deutsche Außenpolitik seit der Wiedervereinigung - Essay

August Pradetto

/ 21 Minuten zu lesen

1990 waren normative und materielle Voraussetzungen für eine positive Neugestaltung der internationalen Beziehungen gegeben. Heute ist die deutsche Außenpolitik vor allem mit gravierenden Krisen konfrontiert. Welche Determinanten prägten diese Entwicklung?

"Ost-West-Beziehungen" ist eigentlich ein Begriff aus dem Kalten Krieg, der vor allem seit der Ukraine-Krise 2014 eine Renaissance erlebt. Gemeint sind die Beziehungen zwischen dem Ost- und dem Westblock nach dem Zweiten Weltkrieg bis Ende der 1980er Jahre beziehungsweise zwischen Russland und den USA, der NATO und der Europäischen Union heute. 1990 war eine "neue Weltordnung" verkündet worden, die sich vor allem durch ökonomische und sicherheitspolitische Kooperation zwischen den vormaligen Gegnern in Ost und West, die Beachtung internationaler Normen und durch eine "gerechte Entwicklung" als Grundlage für Frieden und Wohlstand in der Welt auszeichnen sollte. Auf Basis zuvor im transatlantischen Raum und in Europa etablierter Regelsysteme und Institutionen öffnete sich für den Alten Kontinent und für die deutsche Außenpolitik ein window of opportunity, das historisch präzedenzlos war. Die Voraussetzungen für eine gesamteuropäische und darüber hinausgreifende Ordnung von Vancouver bis Wladiwostok schienen gut wie nie.

Von dieser Aufbruchsstimmung ist 2015 wenig übrig. Die EU ist in der tiefsten Krise seit ihrem Bestehen, die NATO ist trotz aller Beschwörungen zur Eintracht in Koalitionen von Willigen und Unwilligen, von (in Anlehnung an John George Stoessingers gleichnamige Studie von 1979) crusaders und pragmatists gespalten, gegenwärtig notdürftig zusammengehalten durch den als geopolitische Auseinandersetzung inszenierten Konflikt im Südosten der Ukraine. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ist infolge divergierender Vorstellungen und Politiken weitgehend handlungsunfähig. Rechtsgrundsätze werden, wo es opportun erscheint, vielfach gebrochen. Der Rechtsbruch wird mit Begründungen vollzogen, die einen humanitären Ausnahmefall (Kosovo-Krieg, NATO), eine präventive Verteidigungsnotwendigkeit (Irak-Krieg, USA), einen unabdingbaren "Schutz von Landsleuten" (Krim-Annexion, Russland), eine "internationale Verantwortung" oder auch eine "Weiterentwicklung des Völkerrechts" (Libyen-Krieg, Frankreich und Großbritannien) konstruieren. De facto werden neue Doktrinen beschränkter Souveränität postuliert.

Für die deutsche Politik war nach der Wiedervereinigung 1990 die Herstellung der inneren Einheit so bedeutsam wie die Selbsteinordnung des nunmehr wieder zur "Zentralmacht Europas" (Hans-Peter Schwarz) aufgestiegenen Landes in sein ebenfalls neues Umfeld. Beides bewältigte die deutsche Politik in einem bemerkenswerten Maße. Die Beibehaltung des Status als NATO-Mitglied für das wiedervereinigte Deutschland, der Verzicht auf Nuklearwaffen und der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) trugen zur Friktionsarmut bei der Auflösung des Warschauer Pakts 1991 und damit zur Wiederherstellung der Souveränität Polens, der Tschechoslowakei, Ungarns, Bulgariens und Rumäniens bei. Die Selbsteinbindung Gesamtdeutschlands in Europa und in die transatlantischen Strukturen war zugleich Grundlage für die weitere vertrauensvolle Zusammenarbeit mit alten und neuen Partnern.

Berlin wurde der Hauptpromotor der postkommunistischen Nachbarn auf ihrem "Weg nach Europa". Eine insgesamt erfolgreiche Nachbarschaftspolitik entkrampfte das Verhältnis zwischen dem vergrößerten Deutschland und seiner Umgebung und mündete in einer "Zivilisierung" auch der sicherheitspolitischen und militärischen Lage in Europa. Das deutsche Bemühen um eine Vertiefung der Integration Europas, die das "europäische Projekt" irreversibel machen und als richtungsweisendes Gemeinschaftsprojekt etablieren sollte, manifestierte sich unter anderem in den schon 1992 getroffenen Beschlüssen über die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung und den Bemühungen um eine gemeinsame politische Verfasstheit.

Mit der insbesondere von Deutschland advokierten Erweiterung von NATO und EU wurde den mittel- und osteuropäischen Transformationsstaaten eine sicherheitspolitische, politische und ökonomische Perspektive gegeben, die den Umgestaltungsprozess stimulierte und erleichterte. Nach den Aufnahmewellen 2004 und 2007 umfasste die EU 28 Mitglieder, fast doppelt so viele wie 1995. Die NATO wuchs bis 2009 ebenfalls auf 28 Mitglieder an.

So ist nicht zuletzt der deutschen Außenpolitik zuzuschreiben, dass das Land wenige Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges nur noch von Freunden umgeben und mit ihnen in institutionalisierter Weise verflochten und damit gleichzeitig zu einem Stabilitäts- und Führungsfaktor in der schwierigen Phase der Neugestaltung des Kontinents und damit der Ost-West-Beziehungen geworden war. Auch Russland wurde im Zuge dieser Entwicklung zu einem "strategischen Partner". Die "deutsche Frage", die Europa und die Welt mehr als ein Jahrhundert lang umgetrieben hatte und die in dieser Zeit eine zentrale Determinante von Krisen und Kriegen gewesen war, war endlich gelöst.

Dieses Narrativ ist keineswegs falsch. Deutsche Außenpolitik hat im vergangenen Vierteljahrhundert einen substanziellen Beitrag zur Neugestaltung Europas und des transatlantischen Raums geleistet. Darüber hinaus hat Deutschland in besonderer Weise zum Abschluss internationaler Klimaabkommen und zur Verankerung internationaler Strafgerichtsbarkeit beigetragen. Dass dieses Narrativ unvollständig ist, ist indes auch evident.

Denn 25 Jahre nach den fundamentalen Umbrüchen in Europa – und diese Diskrepanz ist der Ausgangspunkt für die nachfolgenden Überlegungen – ist die deutsche Außenpolitik vor allem mit Krisen konfrontiert. Die 19 Länder umfassende Eurozone ist in einem so schlechten Zustand, dass der mögliche Ausstieg eines Mitglieds, Griechenlands, das nur etwa 1,3 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) der EU beiträgt, die Angst vor dem Zusammenbruch des Gesamtsystems evoziert. Das Umfeld südlich und östlich des Mittelmeers ist in einem solchen Zustand, dass Hunderttausende auf der Flucht nach Europa ihr Leben riskieren. Wirtschaftliche, soziale, administrative und politische Instabilität, die Proliferation riesiger Waffenarsenale, Radikalisierung, Bürgerkriege, Stellvertreterkriege und Terrorismus haben dort ein dramatisches Ausmaß angenommen. In Osteuropa bauen sich wieder militärische Spannungen und Konfrontationen auf. Die Ukraine ist zum geopolitischen Kampffeld zwischen Russland und dem Westen geworden. Das Verhältnis zu Russland ist so schlecht wie seit mehr als 30 Jahren nicht. NATO und EU sind gespalten in der Frage, wie mit den genannten Herausforderungen umzugehen ist.

Im Folgenden wird insbesondere nachzuvollziehen versucht, warum sich die Ost-West-Beziehungen vor allem in den vergangenen 15 Jahren so verschlechtert haben. Diese Entwicklung wird zur Krisenhaftigkeit in den anderen genannten Bereichen deutscher beziehungsweise westlicher Außenpolitik in Relation gesetzt. Ein Fazit der Analyse lautet, dass eine zunehmend voluntaristische Politik, das Missverhältnis von Superioritätsambition und realer Gestaltungsmacht sowie eine Überlagerung von Verantwortungs- durch Gesinnungspolitik zur Entfaltung negativer Entwicklungen in allen Bereichen beigetragen und sie wechselseitig verstärkt haben.

Die 1990er Jahre: das Jahrzehnt Europas?

Moskau befand sich nach dem Ende des Kalten Krieges in jeder Hinsicht auf dem Rückzug. Mit der Auflösung von Warschauer Pakt und Sowjetunion verlor es sein strategisches Vorfeld, die russischen Truppen zogen sich zurück, die Wirtschaft erlitt einen schwerwiegenden Einbruch.

Gleichzeitig war Russland noch immer eine militärische Supermacht mit einem Arsenal an Nuklearwaffen und einer gigantischen Armee. Angesichts der innenpolitischen Verfasstheit und außenpolitisch geschrumpfter Aktionsräume stellte dies eine Bürde dar, die in den Folgejahren reduziert wurde. Heute ist der Verteidigungshaushalt geringer als der Großbritanniens, Frankreichs oder Japans und etwas höher als der Saudi-Arabiens oder Deutschlands. Aber er beträgt nicht einmal ein Zehntel des Verteidigungsbudgets der USA – gemessen am BIP gleichwohl eine hohe Rate.

Versuche, diesen Rückzug aufzufangen und sich als Weltmacht zu reetablieren, gelangen kaum. Der Aufbau der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), der Organisation für Verteidigung und Kollektive Sicherheit (OVKS), Shanghai Five, aus der dann die Shanghai Cooperation Organization (SCO) wurde (zusammen mit China und zentralasiatischen Staaten), wirtschaftliche Kooperationsforen und dergleichen stellten nur bedingt und eher punktuell einen Ersatz für die vormalige Integration im regionalen Rahmen dar. In der Frage der postbipolaren Gestaltung Europas und seines Umfeldes, auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik wie in militärischer Hinsicht geriet Moskau also evident ins Hintertreffen.

Dem gegenüber waren die 1990er Jahre für den Westen eine Phase intensiver Werteprojektion und Transformation vor allem im vormals kommunistischen Teil des Kontinents. Die westlichen Vorhaben wurden durch Unterstützungsleistungen, Aufbauhilfen und die Finanzierung von Reformprojekten sowie ein Geflecht an Institutionen, vom Europarat über die zur OSZE weiterentwickelte KSZE als Organisation der wirtschaftlichen, politischen und sicherheitspolitischen Kooperation von Vancouver bis Wladiwostok bis hin zu NATO und Europäischer Union abgesichert.

Des Problems möglicher neuer Grenzziehungen war man sich durchaus bewusst, zumal Moskau von Anfang an eine Ausdehnung der NATO ablehnte. Zu entschärfen versuchte die NATO-Allianz den entstehenden Konflikt durch institutionalisierte Kooperation auch mit Russland. Der beabsichtigte Ausgleich gelang schon deswegen nur bedingt, weil durch den Beitritt der neuen ostmitteleuropäischen Mitglieder und deren sicherheitspolitischer US-Orientierung, verbunden mit einer sich von Russland abgrenzenden Rhetorik und Politik, die NATO sich stärker an Washington orientierte, als sie es ohnehin schon tat. Fragen militärischer Sicherheit neuer Mitglieder, die die NATO-Grenze nach Osten verschoben, erfuhren wieder eine stärkere Betonung.

Damit wurde das von Deutschland und anderen gerade mit Blick auf eine Entmilitarisierung der europäischen Sicherheitspolitik und auf Vertrauensbildung zielende Projekt einer "Politisierung" der NATO (im Gegensatz zur Dominanz der militärischen Dimension) und einer "Europäisierung" (im Gegensatz zur Dominanz der USA in der Allianz) schnell relativiert. Das heißt, nach einem Trend hin zu einer Europäisierung der NATO gab es ab spätestens 1997, als der Beschluss über die Aufnahme Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik getroffen wurde, wieder einen Trend zu einer "Reamerikanisierung".

Der erste manifeste Bruch zwischen Russland und dem Westen kam durch den Krisenfall Kosovo. Ab Juni 1998 unterstützte Washington gegen Serbien die albanische Sezessionsorganisation UCK. Als Belgrad das Territorium des Kosovo nicht freiwillig abtrat, wo sich aufgrund der gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Separatisten und serbischen Sicherheitskräften eine humanitäre Katastrophe anbahnte, beschloss die NATO gegen den Willen Russlands und ohne Mandat des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (VN) einen Krieg gegen Serbien. Der faktischen Abtrennung nach einem 77 Tage währenden Bombardement folgte später die völkerrechtswidrige Anerkennung der Sezession des Kosovo durch die meisten NATO-Länder.

Insbesondere die deutsche Politik hatte nach Kriegsbeginn im März 1999 versucht, Moskau wieder "ins Boot zu holen" und in Verhandlungen mit Serbien einzubinden, erstens um möglichst schnell den Krieg zu beenden, und zweitens um das Zerwürfnis mit Moskau abzumildern. Der gleichwohl offenkundige Statusverlust Russlands auf internationaler Ebene wurde von einem Verfall im Inneren begleitet, der zu schwersten ökonomischen, politischen und ethnischen Krisen und sogar zu internen militärischen Auseinandersetzungen führte: dem Krieg gegen tschetschenische islamistische Separatisten zuerst 1994 bis 1996, später von 1999 bis 2009.

Auch hier traten Dissonanzen mit dem Westen auf, zumindest bis zu den Terroranschlägen auf New York und Washington im September 2001. Moskau nahm es als antirussische Haltung wahr, dass im Westen mehr Verständnis für tschetschenische Separatisten, die auch mit terroristischen Akten in Russland ihre Ziele durchzusetzen suchten, aufgebracht wurde als für die entsprechenden russischen Reaktionen.

Betrachtet man die europäische Entwicklung in den 1990er Jahren unter dem Aspekt der Veränderung der dominierenden Akteurskonstellation, so ist Folgendes festzuhalten. Diese Phase war nicht nur eine der Einflussminderung Moskaus, sondern partiell und in der ersten Hälfte der 1990er Jahre auch des Rückzugs der USA aus der europäischen Entwicklung. Mit der NATO-Osterweiterung und dem Kosovo-Krieg waren die USA dann allerdings zurück auf der europäischen Bühne und die Basis für eine Konfliktlage mit Moskau war gelegt.

Rückkehr der Großmächte und der Geopolitik in den 2000er Jahren

Im Vergleich können die 1990er Jahre dennoch als "Jahrzehnt Europas" bezeichnet werden, das ungeachtet der zunehmenden Involviertheit der USA in hohem Maße von einer ökonomischen, politischen und sicherheitspolitischen Selbstorganisation des Kontinents geprägt war und für die die deutsche Außenpolitik wesentliche Impulse setzen konnte.

Für die EU galt dies auch in den 2000er Jahren insofern, als die zuvor im Osten Europas auf den Weg gebrachten Transformationsprozesse 2004 in der Aufnahme acht postkommunistischer Länder – Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowenien, Slowakei und Ungarn – sowie von Malta und Zypern mündeten. 2007 folgten Rumänien und Bulgarien und schließlich 2013 Kroatien.

International, sicherheitspolitisch wie militärisch, veränderten sich allerdings Anfang der 2000er Jahre die strukturellen und Akteurskonstellationen erheblich, und dies hatte massive Rückwirkungen auf Europa und die deutsche Außenpolitik. Wladimir Putin wurde acht Wochen nach Beendigung der NATO-Luftangriffe auf die Bundesrepublik Jugoslawien und dem Waffenstillstandsabkommen mit Belgrad, also im August 1999, russischer Ministerpräsident und im März 2000 Präsident. Ein halbes Jahr später wiederum setzte sich in den USA der Republikaner George W. Bush gegen den amtierenden demokratischen Vizepräsidenten Al Gore durch.

Damit kamen zwei Politiker an die Spitze zweier sich nach wie vor als Weltmächte begreifender Nationen, die dieser Eigenwahrnehmung in nachdrücklicherer Weise gerecht werden wollten, als dies bei ihren Vorgängern der Fall gewesen war. Eine Dimension dieses Anspruchs bestand in der Stärkung des militärischen Sektors. Putin erhöhte die Verteidigungsausgaben in den folgenden Jahren, unter Bush explodierte der US-Rüstungsetat.

Auch wenn nach den Zerwürfnissen im Kosovo-Krieg die beiden neuen Präsidenten den Personalwechsel für einen reset zu nutzen versuchten und sich offenbar persönlich gut verstanden, setzten schnell neue Spannungen ein. Zwar wurden die Differenzen nach "9/11" durch die von beiden Seiten gewollte Kooperation bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus relativiert. Aber in der Frage des Wie gab es wenig Einigkeit. Schon die Reaktion auf den Krieg gegen die Taliban in Afghanistan und Pakistan zeigte das Aufleben geopolitischer Wahrnehmungen. Moskau äußerte Befürchtungen, die USA könnten sich in Zentralasien festzusetzen versuchen. Konsequenz war eine ambivalente Politik, die USA bei der Intervention einerseits logistisch zu unterstützen und andererseits schon bald zu fordern, sie möge sich aus Zentral- und Südasien zurückziehen.

Kurz nach der Afghanistan-Intervention kamen zwei Paukenschläge, die die Differenzen zwischen dem Westen und Russland vergrößerten und simultan die Spielräume für europäische und deutsche Außenpolitik einschränkten: erstens die ab Sommer 2002 laufenden Vorbereitungen für einen Krieg gegen den Irak, und dann im Herbst 2002 die Forderung Washingtons, in einem big bang eine ganze Reihe postkommunistischer Länder in die NATO aufzunehmen. Von beidem ließ sich Washington weder von engen europäischen Verbündeten und schon gar nicht von Moskau abbringen.

Die Ära George W. Bush beendete das integrative "europäische Jahrzehnt". Die Europäer wurden von Washington vor die Entscheidung gestellt, für oder gegen dessen Entscheidungen zu sein, oder, wie es der damalige Verteidigungsminister Donald Rumsfeld formulierte, dem "alten" oder dem "neuen Europa" anzugehören.

Im Falle Afghanistans entschied sich die Regierung Gerhard Schröder/Joschka Fischer im November 2001 noch für die USA, beim anderthalb Jahre später folgenden Irak-Feldzug zusammen mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac und anderen dagegen. Der britische Premier Tony Blair, der spanische Ministerpräsident José Maria Aznar und andere sowie die neuen Allianzmitglieder im Osten standen an der Seite der Bush-Administration. Damit ging ein Riss durch die NATO und durch Europa.

Zwar blieben die USA schon nach kurzer Zeit im Wüstensand des Afghanistan- und Irak-Krieges stecken. Das änderte nichts an der geopolitischen Wahrnehmung in Moskau, dass sich die USA in Asien, im Nahen Osten und auch in Europa neue Stützpunkte und Einflusszonen verschafften. Im März 2004 wurden die ehemaligen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen sowie Bulgarien, Rumänien, die Slowakei und Slowenien in die NATO aufgenommen. 2008 setzte die US-amerikanische Seite eine Erklärung durch, wonach die Ukraine und Georgien – ohne Datumsnennung – Mitglieder werden sollten.

Den Georgien-Krieg im August 2008 werteten sowohl Russland als auch die USA als Bestätigung ihrer jeweiligen Auffassung. Der Krieg um die seit Anfang der 1990er Jahre abgespalteten Provinzen Abchasien und Südossetien wurde zwar vom georgischen Präsidenten Micheil Saakashvili in der irrigen Auffassung angefangen, die NATO oder zumindest die USA würden wenn notwendig den georgischen Streitkräften beistehen. Im Westen wurde gleichwohl zuerst vor allem Moskau die Schuld an der militärischen Auseinandersetzung und der nun wohl auf längere Zeit nicht mehr revidierbaren Abspaltung Südossetiens und Abchasiens angelastet. Moskau war zufrieden gezeigt zu haben, dass es sehr wohl zu schnellen militärischen Reaktionen gegen den in seiner Sicht von Washington inspirierten "Aggressor" und – anders als im Fall des Kosovo-Krieges – zum Schutz von Bevölkerungsgruppen und Gebieten auch außerhalb seiner Grenzen in der Lage ist.

Am Ende des Jahrzehnts hatten sich in großen Teilen des Westens wie in Moskau geopolitische Wahrnehmungsmuster und entsprechende außenpolitische Reflexe durchgesetzt. In der globalen Ordnungspolitik bestimmten wieder die USA die Agenda, in den sicherheitspolitischen Beziehungen zwischen West und Ost trat wieder das Verhältnis zwischen den USA und Russland in den Vordergrund. In den internationalen Beziehungen, insbesondere in der Sicherheitspolitik, spielten Europa und die deutsche Politik eine zunehmend marginale Rolle. Der Spagat, den die deutsche Außenpolitik in ihrer auf einen Kompromiss zwischen enger Verbundenheit mit den USA, europäischer Eigenständigkeit und Inklusion Russlands gerichteten Politik vollziehen wollte, wurde immer größer.

Postbipolare Ordnung 2008 bis 2015: Vom "Reset" zum "Failing System"?

2008 kam es wieder zu einem doppelten Personalwechsel bei den Großmächten. Dmitri Medwedew wurde im März 2008 zum russischen Präsidenten gewählt, und Wladimir Putin wechselte vom Präsidenten- ins Ministerpräsidentenamt. Barack Obama schlug im Herbst 2008 bei der Wahl zum 44. Präsidenten der USA den von republikanischer Seite nominierten John McCain. Wie schon Anfang der 2000er Jahre wollten beide Seiten die Chance eines personellen Neubeginns nutzen, um von der in den vorangegangenen Jahren aufgebauten Konfrontation wegzukommen und die Kooperation wiederzubeleben.

Am 20. Januar 2009 trat Barack Obama sein Amt an, und schon sechs Monate später gab es Vereinbarungen über nukleare Abrüstung und eine Wiederaufnahme der (nach dem Georgien-Krieg eingefrorenen) militärischen Zusammenarbeit. Nach jahrelangen Protesten aus Moskau stoppte Washington im September 2009 den geplanten Aufbau eines Raketenschutzschirms in Polen und Tschechien. Ein neuer Abrüstungsvertrag begrenzte die Zahl der strategischen Atomwaffen auf beiden Seiten um ein Drittel auf 1500. Aus Moskauer Sicht entspannte sich die Lage gleichzeitig insofern, als Georgien und die Ukraine von der NATO als Beitrittskandidaten auf Eis gelegt wurden. Umso mehr galt dies nach der Wahl von Wiktor Janukowitsch 2010 zum ukrainischen Präsidenten, der im Gegensatz zu seinem Vorgänger eine gleichgewichtige Politik zwischen dem Westen und Russland und eine Brückenfunktion seines Landes zwischen West und Ost proklamierte.

Dieser mit vielen Hoffnungen verbundene Neubeginn schien auch die Chance für eine wieder eigenständigere Rolle Europas zu bieten. Derartige Erwartungen wurde praktisch simultan konterkariert: durch die 2008 von den USA ausgehende Finanzsystemkrise, die schnell auf Europa und andere Teile der Weltökonomie übergriff; die politischen Eruptionen in Nordafrika sowie durch die Folgen der US-Interventionspolitik der 2000er Jahre im Nahen Osten unter anderem im Zusammenhang mit dem Rückzug der USA aus Irak; und der gleichzeitig einsetzenden neuen Welle von Interventionen in Nordafrika und im Nahen Osten.

Im Gefolge der Finanz- und Wirtschaftskrise verlor die EU an ökonomischer, sozialer und politischer Kohärenz. Die deutsche Politik spielte in dieser Krise eine problematische Rolle. Zuerst waren von der Einführung des Euro bis zur Aufnahme diverser postkommunistischer Länder in die Union die rechtlichen und Kontrollmechanismen, die unabdingbare Voraussetzungen für den Erfolg dieser Projekte darstellen, teils unzureichend fixiert und verbindlich gemacht, teils nicht eingehalten worden. Als die Strukturdefekte in akute Krisen umschlugen, verfolgte Berlin eine Strategie, die die Probleme in den betroffenen Ländern eher verschärfte als abmilderte, was soziale Proteste sowie antieuropäische politische Bewegungen noch beförderte und den politischen Zusammenhalt unter den Mitgliedern minderte. Schließlich wurde das Dilemma zwischen dem Versuch, die Spielregeln zu wahren, und dem Gebot, Gläubiger- und Schuldnerländer beisammen zu halten, immer größer. Das griechische Drama über Austritt aus oder Verbleib in der Währungsunion 2015 war der vorläufige Höhepunkt dieser Negativentwicklung.

Die zweite große Herausforderung, der man nicht adäquat begegnete, sondern die man noch verschlimmerte, waren die Umbrüche in der arabischen Welt. Die Machteliten in den Ländern südlich und östlich des Mittelmeers haben es verabsäumt, ihre Länder so zu modernisieren, dass sie den veränderten demografischen und globalisierten Gegebenheiten gerecht werden können. Aber Konsens ist heute weitgehend auch, dass die westliche Interventionspolitik ein Faktor der Destabilisierung von Nordwestafrika bis in den Mittleren Osten war. Massive Eingriffe, bis hin zu Kriegen, Besetzungen und regime changes von Afghanistan über Irak, Syrien bis Libyen, hatten katastrophale Folgen für die betroffenen Länder und hierüber für die gesamte Region.

Das Ergebnis des Libyen-Krieges 2011 war ein Desaster, das nicht nur Libyen betraf, sondern auf die ganze Region negative Auswirkungen zeitigte. Die Folgen bestanden in über die Grenzen des Landes hinausreichende Bürgerkriegsauseinandersetzungen und einem Chaos, das aus Libyen einen failed state machte, die Proliferation großer Waffenmengen und die Destabilisierung der angrenzenden Länder vorantrieb. Eine weitere Folge war ein Anschwellen der Flüchtlingsströme aus Nordafrika in die Länder nördlich des Mittelmeers. Die EU zeigte sich dann völlig überfordert von der Fluchtwelle, die mittlerweile auf Hunderttausende angewachsen ist.

Ab Herbst 2013 versetzte die Ukraine-Krise der europäischen Politik und den Beziehungen zwischen Russland und westlichen Ländern einen weiteren schweren Schlag. Unter Putin ist Russland autoritärer und imperialer geworden. Aber auch hier hat die europäische und westliche Politik zur Krisenentwicklung beigetragen, wobei Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier ab 2014 große – und zum Teil erfolgreiche – Anstrengungen unternahmen, um die Eskalation einzudämmen.

Faktoren des Versagens europäischer und deutscher Politik

Als Fazit aus der Entwicklung seit dem Ende des Kalten Krieges und der deutschen Wiedervereinigung kann bilanziert werden, dass alle drei zentralen Bezugspunkte deutscher Außenpolitik – die Beziehungen zu Europa, den USA und Russland – wie auch die regionalen Schwerpunkte – außerhalb der EU liegendes Osteuropa, der Nahe Osten und Nordafrika – nach einer positiven Entwicklung in den 1990er Jahren, die partiell in den 2000er Jahren weiterwirkte, gleichzeitig in eine negative Dynamik rutschten. Viele Spannungen sind durch Verbündete Deutschlands und eine unzulängliche Politik der EU-Institutionen ausgelöst worden. Die deutsche Politik hat es nicht geschafft, diesen Defiziten ausreichend entgegen zu wirken. Teilweise hat sie sie selbst befördert.

Überlagerung von Recht durch Voluntarismus

Die NATO unterlag im Verlauf ihrer postbipolaren Entwicklung einem Prozess der Geopolitisierung, der dann auch auf die EU abfärbte; die meisten NATO- sind ja auch EU-Mitglieder. Europäischen Emanzipationsbestrebungen in außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen hatte Washington von Beginn an das Bestreben entgegengestellt, die Union eng mit der NATO verbunden und damit dem Einfluss Washingtons unterstellt zu halten.

Tendenziell wurde die Allianz infolge der Geopolitisierung (verstanden als Schaffung von Optionen, die über die konsentierte Rechtsgrundlage "Selbstverteidigung" hinausgehen) und im Zuge der Erweiterung um neue Mitglieder zu einer "Baukasten-Organisation": Unterschiedliche Gruppen bedienen sich für unterschiedliche Zwecke je nach Bedarf des Potenzials, das die Organisation zur Verfügung stellt. Die Bildung von "Koalitionen der Willigen" im Irak-Krieg oder anfangs in Libyen sind dafür Beispiele. Die Geopolitisierung der Gesamtorganisation wurde aber auch in der Übernahme der Führung beispielsweise der International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan 2003 oder in Libyen drei Wochen nach Beginn des zuerst vor allem von den Luftstreitkräften Frankreichs, der USA und Großbritanniens geführten Krieges sichtbar.

Der deutsche Diskurs ist im Vergleich zu dem anderer maßgebender Akteure in der NATO wohl am stärksten von Rechts- und Legitimitätsdebatten geprägt. Berlin ist zwar seit der Ablehnung des Irak-Kriegs zum wichtigsten Gegenspieler derer geworden, die die NATO für geopolitische (oder/und persönliche) Ambitionen instrumentalisieren wollen. Gleichzeitig wird die von Rechtsgrundsätzen und politischer Rationalität motivierte Haltung vielfach durch die Faktoren Loyalität und Opportunität überlagert und konterkariert. Versicherungen, dass man das politische Ziel des Sturzes von Diktatoren wie Saddam Hussein, Muhammad Gaddafi oder Baschar al-Assad teile, und die Vermeidung der Betonung von Rechtsgrundsätzen gegenüber Verbündeten trugen bei zur Erosion von Rechtsgrundlagen, auf denen die gemeinsamen Organisationen beruhen.

Die desaströsen Konsequenzen und Erfahrungen der Einmischung in Afghanistan und im Irak führten nicht zu einem Umdenken bei tonangebenden westlichen Akteuren, sondern zu einer Fortsetzung dieser Politik unter Vermeidung des Einsatzes eigener Bodentruppen. Die Unterstützung auch gewaltsamer Proteste gegen den ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak 2010, der Libyen-Krieg 2011, die Bewaffnung von Aufständischen in Syrien ab 2012, der Fast-Krieg gegen Iran 2013, die Ausdehnung militärischen Engagements bis nach Jemen und Subsahara-Afrika trugen wesentlich zur Destabilisierung der Lage bei. Zu den wenigen positiven Entwicklungen in der Region zählte der Abschluss eines Abkommens über das iranische Nuklearprogramm im Juli 2015, an dessen Zustandekommen auf westlicher Seite die deutsche Politik maßgeblich beteiligt war.

Superioritätsambition und Gestaltungsmacht

Der beschriebene Voluntarismus steht in Verbindung mit einem weiteren Charakteristikum postbipolarer Ordnungspolitik, die sich auf eine Weise bei der europäischen Integration, auf andere Weise bei der Politik in außereuropäischen Regionen zeigte: eine zum Teil groteske Überschätzung der eigenen Möglichkeiten. In der deutschen Debatte hat es seit den 1990er Jahren warnende Stimmen wie etwa die von Helmut Schmidt gegeben, statt weltpolitischer Ambitionen eine Politik der Konzentration auf die eigenen (deutschen und europäischen) Angelegenheiten zu verfolgen. Die Diskurshoheit erlangten indes diejenigen, die für die Übernahme "internationaler Verantwortung" auf globaler Ebene nicht zuletzt in militärischer Hinsicht plädierten und – prestigeorientiert – "auf Augenhöhe" mit anderen großen Mächten Weltordnungspolitik betreiben wollten.

Bereits die Politik der Regierung Helmut Kohl/Hans-Dietrich Genscher gegenüber Jugoslawien 1991 war von diesem Missverhältnis zwischen Ambition und Kapazität geprägt. Die vorschnelle Anerkennung der Teilrepubliken Slowenien und Kroatien im Herbst 1991 – gegen Absprachen in der Europäischen Union – war nicht die Ursache für die Kriegsentwicklung, verschärfte aber die Krise und die gewaltsamen Auseinandersetzungen. Die gleiche Diskrepanz wurde in einer Wunschzettelpolitik gegenüber vor allem afrikanischen Ländern deutlich, die gute Regierungsführung, demokratische Wahlen, Eindämmung der Korruption und dergleichen zur Bedingung von Kooperation erklärte. Die eigenen außenpolitischen Spielräume wurden so oft nicht erweitert, sondern eingeengt. Versuche, die europäische Integration und die Aufnahme weiterer europäischer Länder in die NATO voranzutreiben, hatten durchaus ihre Rationalität. Das Problem bestand in einer aus dem "Sieg im Kalten Krieg" abgeleiteten Verabsolutierung eigener Systemmerkmale, einer fehlerhaften Analogiebildung und Projektion sowie einer Fehleinschätzung eigener Gestaltungskapazitäten.

Verantwortungs- und Gesinnungspolitik

Im Sinne Max Webers kann auch von einer progressiven Überlagerung von Verantwortungs- durch Gesinnungspolitik gesprochen werden. Gesinnungsethik beurteilt das politische Tun nach der Handlungsabsicht und mit Blick auf die Realisierung eigener Werte, Verantwortungsethik bezieht in die politische Entscheidung ihre (eingetretenen oder möglichen) Konsequenzen und Folgen ein. Teile der Erweiterungspolitik der EU, die Afghanistanpolitik, die Interventionspolitik der vergangenen 15 Jahre in Nordafrika und im Nahen Osten bis zur Ukrainestrategie der EU lassen sich der Kategorie Gesinnungspolitik zuordnen.

Die aus der Perzeption eines "Endes der Geschichte" abgeleitete Superioritätsattitüde und die Überzeugung, dass aus der angenommenen Richtigkeit der eigenen Position auch das Recht zu ihrer unmittelbaren Umsetzung folge, ist eine Determinante gesinnungspolitischer Hybris. Eine zweite besteht in überwältigenden ökonomischen und militärischen Kapazitäten, mit denen dieser Überzeugung Nachdruck verliehen werden kann. Der postbipolare Weltordnungsinterventionismus beansprucht Legitimität, weil er auf Menschenrechte und Demokratie ziele; die "Wertegemeinschaft des Westens" müsse hierfür "internationale Verantwortung" wahrnehmen. Die Berufung auf Zugehörigkeit zu dieser Wertegemeinschaft ist vor allem seit dem Kosovo-Krieg ein wesentlicher Bestandteil gesinnungspolitischer Legitimitätsproduktion.

Auch die deutsche Außenpolitik hat im Verlauf der vergangenen 25 Jahre immer stärker den Aspekt der "Wertegemeinschaft" in der Begründung eigener außenpolitischer Aktivitäten oder in Begründung der Unterstützung beziehungsweise der Nichtkritik rechtswidriger Aktivitäten von NATO- oder G7-Partnern betont. Zu dieser "Nahbereichsmoral" gehört, ebenso komplementär wie scheinbar paradox, dass diejenigen, die nicht dieser Wertegemeinschaft angehören, auf jene Rechts-, prozeduralen, Verfassungs- oder Verantwortungsgrundsätze verpflichtet werden sollen, die man für sich selbst mit dem Hinweis auf die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft unter einen Opportunitätsvorbehalt stellt.

Das gilt selbst dann, wenn Berlin implizit seine Missbilligung von Interventionen zum Ausdruck bringt, wie beispielsweise seine Enthaltung bei der Libyen-Resolution 1973 des Sicherheitsrats der VN 2011 zeigte, von der man wusste, dass sie bloß der Rechtfertigung eines (illegalen) militärisch herbeigeführten Machtwechsels dienen sollte. Aus Loyalitätsgründen wurde diese Positionierung aber im gleichen Augenblick auch schon wieder relativiert, indem die Regierung Angela Merkel/Guido Westerwelle den Initiatoren des Libyen-Krieges, Nicolas Sarkozy, David Cameron und Barack Obama, die deutsche Ja-Stimme im Sicherheitsrat anbot, sollte es bei den Quoten für Resolution 1973 knapp werden.

Aufbau einer europäischen Rechts- und Verantwortungsgemeinschaft

In zwischenstaatlichen Beziehungen wie in einem Gemeinwesen ist eine auf den jeweiligen Sachbereich bezogene kollektive "Basisidentität" die Voraussetzung für Kooperation. Sie resultiert aus dem gemeinsamen Verständnis und der Einhaltung bestimmter Normen. In Europa sind das die Verträge, auf denen unter anderem das prekäre Verhältnis von Eigenverantwortung und Solidarität ruht. Im Verhältnis zu Dritten sind es die grundlegenden völkerrechtlichen Prinzipien der Souveränität, der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates und der Verzicht auf Anwendung oder Androhung von Gewalt. Genau darin besteht die kollektive, weil konsensfähige Identität der "internationalen Gemeinschaft".

Zu dieser Identität gehört das Genozid-Verbot ebenso wie die prozedurale Korrektheit des diesbezüglichen Feststellungs-, Mandatierungs- und Durchführungsverfahrens. Der generelle Anspruch auf eine moralische Höherwertigkeit eigener Werte und Rechte bedeutet indes die Außerkraftsetzung allgemein verbindlicher Normen und damit die Auflösung einer solchen Identität. Dieser Anspruch und die mit ihm verbundene Gesinnungsethik hat innerhalb von zwei Jahrzehnten von einer in diesem Ausmaß in Europa nie zuvor dagewesenen Akzeptanz allgemeiner Rechtsprinzipien (die jahrzehntelang gegen den sowjetischen Anspruch moralischer Höherwertigkeit verteidigt worden sind) und von einem nie dagewesenen Prestigegewinn des Westens Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre zu einer tiefen Glaubwürdigkeitskrise und in die internationale Isolation geführt. Die deutsche Außenpolitik hat sich diesem Trend – zum Teil widerwillig – angepasst.

Die Kluft, die in der deutschen Außenpolitik zwischen der deklaratorischen Betonung der Stärkung internationalen Rechts und der "Nahbereichsmoral" liegt, die gegenüber Partnern in EU und NATO geübt wird, die das Gegenteil praktizieren, mag Berlin kurzfristig Konflikte ersparen. Aber es schwächt jenes Fundament, auf dem mittel- und langfristig die Stabilität und die Sicherheit Deutschlands beruhen, und es erschwert seine Weiterentwicklung.

Der Schlüssel besteht in einer emanzipatorischen Korrektur europäischer Innen- und Außenpolitik: vom Vorrang einer gesinnungspolitisch determinierten westlichen Wertegemeinschaft zurück zu einer europäischen Rechts- und Verantwortungsgemeinschaft, ihrem Anspruch nach mit den USA wie auch mit Russland. Denn beide Akteure werden von Deutschland und der EU für die Bewältigung akuter Krisen und zukünftiger Aufgaben (auch gegenüber Dritten) dringend benötigt. Gelingen kann dies nur dort, wo anstelle von Gesinnungspolitik akzeptiert wird, dass die Basis für Kooperation die Anerkennung widerstreitender ideologischer Positionen ist. Prinzipiell ist die EU dazu aufgrund des beschränkten Potenzials ihrer Mitglieder, das globale Machtprojektionen kaum zulässt, ihrer Konstruktion und prozeduralen Verfasstheit sowie ihrer politischen Kultur am ehesten geeignet.

Analoges gilt für die deutsche und europäische Politik gegenüber dem Mittleren Osten, dem Nahen Osten und Nordafrika. Positive Transformationsprozesse sind am ehesten dort möglich, wo Stabilität herrscht. Alle empirische Erfahrung zeigt, dass Gesellschaften mit gewaltsamen Auseinandersetzungen und Kriegen jene Gesellschaften sind, die das höchste Risiko für abermalige Rückfälle in Gewalt und Krieg bergen.

40 Jahre lang hat die Bundesrepublik Deutschland erfolgreich eine außenpolitische "Kultur der Zurückhaltung" entwickelt und praktiziert. Der Korrekturbedarf gegenüber den Fehlentwicklungen in den vergangenen zwei Jahrzehnten lässt sich auf die Formel bringen: Recht, Verantwortung und Zurückhaltung. Eine solche Ausrichtung lässt auf globaler Ebene auch Spielräume entstehen, die der real vor sich gehenden Multipolarisierung entsprechen und die aus dem antiquiert-kontraproduktiven und gesinnungsethisch-selbstisolationistischen Denk- und Handlungsmuster Der Westen gegen den Rest der Welt herausführt.

Dr. phil., geb. 1949; Universitätsprofessor em. für Politikwissenschaft, Institut für Internationale Politik der Helmut-Schmidt-Universität, Holstenhofweg 85, 22043 Hamburg. E-Mail Link: pradetto@hsu-hh.de