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Deutschland im dritten Jahrzehnt der Einheit
Everhard Holtmann Tobias Jaeck
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Kennzeichnend für die deutsche Einheit ist ein bis heute reichendes Nebeneinander von Angleichung und fortbestehenden Unterschieden auf der Einstellungsebene. Es lässt sich in Gestalt von Metatrendlinien auf der Zeitachse von 1990 bis 014 abbilden.
Die Realität der Lebens- und Arbeitsbedingungen in der DDR wird mit den Begriffen "ökonomische Rückständigkeit" und "diktaturförmige Versteinerung" zutreffend beschrieben. Solange die DDR existierte, hat darüber auch das Gros der ostdeutschen Bevölkerung nicht anders gedacht. Wie jüngst wiederentdeckte Umfragedaten bestätigen, schnitt die DDR, wenn Ostdeutsche beide Systeme miteinander verglichen, hinsichtlich des Konsumangebots sowie der persönlichen Freiräume und künftigen Lebensaussichten gegenüber der Bundesrepublik stets eindeutig schlechter ab. Überzeugte Anhänger des SED-Regimes blieben immer eine Minderheit, zwischen 1973 und 1988 zum Beispiel lag ihre Zahl fast durchgängig unter 25 Prozent. Etwa ebenso viele lehnten das System entschieden ab. Die große Mehrheit verhielt sich all die Jahre hindurch politisch angepasst beziehungsweise desinteressiert. Seit den 1960er Jahren blieb die Wiedervereinigung als ein Wunschbild präsent, dem der größte Teil der DDR-Bürger beharrlich anhing.
Nicht überraschend wünschte sich daher in der Umbruchsphase von 1989/90 die überwältigende Mehrheit der Ostdeutschen einen Systemwechsel hin zu einer demokratischen, rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlich basierten Ordnung, die in ihren Grundzügen dem Modell der Bundesrepublik entsprach. Die deutsche Einheit ist diesen Weg gegangen, ohne dass es zu einer von manchen Auguren prophezeiten "Kolonisierung" ostdeutscher Lebenswelten gekommen wäre. Der vielbeschriebene "Transfer" westdeutscher Institutionen, Normen und Personen von West nach Ost in Vorbereitung und Vollzug der Einheit hatte nicht zur Folge, dass der "Modernisierungsvorsprung", welcher der DDR seitens westdeutscher Sozialwissenschaftler vor allem bezüglich der Gleichstellung der Frauen in Familie und Arbeit attestiert wurde, gänzlich dahin schmolz. Im nachholenden Ausbau gesetzlich garantierter Angebote einer öffentlichen Kinderbetreuung in Westdeutschland und in der nach wie vor hohen (Voll-)Erwerbstätigkeit ostdeutscher Frauen und Mütter, aber auch in der fortschreitenden Annäherung westdeutscher Mütter an den ostdeutschen Modus der Erwerbsbeteiligung wird beispielhaft deutlich, dass der Osten innerhalb des geeinten Deutschlands in manchem gesellschaftspolitisch ein Vorreiter war und ist. Diese gesamtdeutsche Vorreiterrolle Ostdeutschlands ist ebenso Teil der Erfolgsgeschichte der Einheit.
Dass ein Vorsprung gehalten wird, verweist auf Unterschiede, die trotz kontinuierlich voranschreitender Annäherung nicht völlig eingeebnet werden. Dieses dynamische Nebeneinander von – keineswegs linear verlaufener, sondern auch Auf und Ab abbildender – Angleichung und fortdauernder Differenz, das den Entwicklungsprozess im geeinten Deutschland generell kennzeichnet, wird auch auf der Einstellungsebene erkennbar. Im Folgenden stellen wir die Gleichzeitigkeit von Konvergenz und Differenz als typische Ausprägung des bisherigen Entwicklungsgangs und aktuellen Entwicklungsstands der gesamtdeutschen politischen und sozialen Kultur anhand von vier Indikatoren exemplarisch dar: Systemidentifikation und generalisiertes Vertrauen, politische Partizipation, Frauen- und Familienbild sowie subjektive Bewertung der Erträge der Einigung. Hierfür greifen wir auf ausgewählte Ergebnisse des Forschungsprojekts "Deutschland 2014" zurück, das für die Zeitspanne von 1990 bis 2012 eine Längsschnittanalyse gebündelter empirischer Einstellungsdaten erstellt hat und außerdem mit einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage vom Herbst 2014 den zeitlichen Bogen an die Gegenwart heranführt.
Systemidentifikation I: Einstellungen zur Demokratie
Eine wesentliche Voraussetzung für die stabile Verankerung einer politischen Ordnung in der Bevölkerung ist, dass sich die Bürgerinnen und Bürger mit der Idee dieser Ordnung identifizieren und ihr eine hinreichende Leistungsfähigkeit zusprechen. In der Systemtheorie wird demgemäß zwischen genereller Unterstützung für das System als solches sowie spezieller Unterstützung für die konkreten Leistungen des Systems unterschieden. Übertragen auf die hier aufgenommene Frage nach dem Grad der Identifikation der Deutschen mit der Demokratie lassen sich drei Dimensionen von Demokratiezustimmung ausloten: einmal die Unterstützung für das demokratische Ordnungsmodell an sich, zweitens die Unterstützung für die in der Bundesrepublik verfassungsförmig institutionalisierte Form der Demokratie und drittens die leistungsbezogene Zufriedenheit mit dem konkreten Funktionieren dieser Demokratie.
In Westdeutschland war die Akzeptanz der Demokratie seit den 1970er Jahren stetig gewachsen. Sie blieb im westlichen Landesteil auch seit der deutschen Einheit, trotz eines gewissen Abschwungs zwischen 2000 und 2005, auf einem durchgehend hohen Niveau und sie unterschritt, wie der für die Studie "Deutschland 2014" von Oscar Gabriel vorgenommene Vergleich unserer Bevölkerungsumfrage von 2014 mit früheren Erhebungen zeigt, während der letzten fast zweieinhalb Jahrzehnte niemals die Zustimmungsschwelle von 80 Prozent (Abbildung 1). Anders in Ostdeutschland: Zwar hielt auch hier stets eine Mehrheit die Demokratie für die wünschenswerte Form politischer Ordnung. Doch lag die Zustimmung im Jahr 1991 mit 70 Prozent deutlich unter dem westdeutschen Vergleichswert und sank bis 2007 vorübergehend auf 56 Prozent ab.
Prekärer entwickelte sich im Osten Deutschlands nach 1990 zunächst die Grundeinstellung zu der Demokratie, wie sie in Deutschland real existiert (Abbildung 1). Auch in Westdeutschland fiel dieser Zustimmungswert geringer aus als die Akzeptanz der Demokratie generell, und der Wert unterlag dort zudem vergleichsweise größeren Schwankungen. Hingegen fand das bundesdeutsche Demokratiemodell bei Ostdeutschen überhaupt erst gegen Ende der 2000er Jahre eine stabile Mehrheit, und dies, nachdem das Systemeinverständnis zwischenzeitlich auf nur mehr gut ein Drittel (2007) abgesackt war.
Die Längsschnittanalyse der Einstellungsdaten macht für beide Demokratie-Dimensionen die Parallelität von Konvergenz und Differenz als das kennzeichnende Merkmal eines Ost-West-Trendverlaufs deutlich, das auch bei anderen Indikatoren der gesamtdeutschen politischen Kultur zutage tritt: Zum einen folgen das ostdeutsche und das westdeutsche Meinungsbild in seinen Pendelausschlägen demselben wellenförmigen Bewegungsmuster. Zum anderen bleibt dabei zwischen beiden Landesteilen stets ein Abstand im Grad der Zustimmung, der jedoch – schließlich ist auch das typisch –, im Jahr 2014 überwiegend erheblich kleiner ausfällt als im ersten Nacheinheitsjahr 1991.
Heute ist die Demokratie eine bei Ost- wie Westdeutschen grundsätzlich sehr breit unterstützte Form politischer Ordnung. Dass die Demokratie "die beste Staatsform" sei, bejahten im Herbst 2014 insgesamt 82 Prozent im Osten und 90 Prozent im Westen der Republik. Und "die Demokratie, wie wir sie in der Bundesrepublik haben", fand nun bei 72 Prozent der Ostdeutschen und bei 90 Prozent ihrer westdeutschen Landsleute Zustimmung. Lediglich 17 Prozent (Ost) und 13 Prozent (West) sagten, es gebe "eine andere Staatsform, die besser ist".
Nun zur Entwicklung der Demokratiezufriedenheit im geeinten Deutschland: Diese lag zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung mit gut 60 Prozent in den ostdeutschen Ländern um mehr als 20 Prozentpunkte niedriger als der westdeutsche Vergleichswert (gut 85 Prozent). Dieses Gefälle in der Zufriedenheit mit dem Funktionieren der hiesigen Demokratie nimmt in Ost wie West danach denselben wellenförmigen Verlauf und bleibt bis 2012 dauerhaft deutlich ausgeprägt (Abbildung 2). 2014 fiel die Differenz indes so gering aus wie niemals zuvor: Nur 13 Prozent der Westdeutschen und 15 Prozent der Ostdeutschen zeigten sich mit der Leistungsfähigkeit der Demokratie erklärtermaßen unzufrieden. Die seit etwa 2008 in beiden Landesteilen deutlich gestiegene allgemeine Lebenszufriedenheit, die ihrerseits mit einer verbreitet optimistischen Einschätzung der wirtschaftlichen Lage korrespondiert, liefert einen erklärenden Hintergrundfaktor für die deutschlandweit gute Benotung des Funktionierens der Demokratie.
Systemidentifikation II: Vertrauen in politische Institutionen
Vertrauen als eine Mitmenschen generell entgegengebrachte positive Verhaltenserwartung ist eine wichtige Grundlage für gedeihliches gesellschaftliches Zusammenleben. Wer vertraut, erbringt gegenüber den Objekten seines Vertrauens eine Vorleistung, aus der Vermutung heraus, dass diese durch das Handeln der jeweiligen Personen gerechtfertigt wird. Auch demokratische Politik gründet auf einer solchen Vertrauensbeziehung. Vertrauen in politische Institutionen ist eine wesentliche Voraussetzung für die Legitimität, die dem politischen System und seinen Akteuren seitens der Bevölkerung gewährt wird.
Wie die empirische Demokratieforschung immer wieder belegt, bringen die Deutschen den rechtsstaatlichen Institutionen, das heißt Gerichten, Polizei und öffentlicher Verwaltung, traditionell mehr Vertrauen entgegen als parteienstaatlichen Institutionen, zu denen Parlament, Abgeordnete, Parteien und die Regierung gerechnet werden. Erstere haben deshalb einen höheren Vertrauensbonus, weil sie mit unparteiischem, sachkundigem und korrektem Handeln verbunden werden, also als im landläufigen Sinne nicht politisch gelten. Auch und insbesondere der Bundespräsident bezieht sein seit jeher sehr hohes Amtsvertrauen aus dem Attribut der Überparteilichkeit. Parteienstaatliche Institutionen hingegen werden gemeinhin mit Machtspielen, "eigensüchtigen" Interessenkämpfen und Parteilichkeit identifiziert, mithin solchen "unsachlichen" Ausstattungsmerkmalen, die generell eher Misstrauen wecken.
Diese Rangfolge wird während der zweieinhalb Jahrzehnte seit der Einheit bundesweit in Umfragen stabil erkennbar. Zwar lag das Vertrauensniveau in Ostdeutschland durchgehend niedriger, doch fielen die seinerzeit feststellbaren Ost-West-Unterschiede im Institutionenvertrauen insgesamt vergleichsweise gering aus. Allerdings existierten zunächst deutliche qualitative Unterschiede zwischen beiden Teilen des Landes. Diese Unterschiede bestanden darin, "dass die westdeutsche Bevölkerung den politischen Institutionen mehr Vertrauen als Misstrauen entgegenbrachte, während es sich im östlichen Landesteil umgekehrt verhielt".
Die Regierung sowie vor allem Parteien und Politiker schneiden im Reigen des Institutionenvertrauens durchwegs schlechter ab (Abbildung 3). Bei beiden Institutionen ergibt sich in der Längsschnittbetrachtung das vertraute Verteilungsbild: Die ost- und westdeutschen Linien "mäandern" entlang des gleichen Verlaufsmusters. Dabei erweist sich die Sichtweise der Ostdeutschen als ausdauernd skeptischer, kritischer und distanzierter. Der Ost-West-Abstand verkleinert sich im Laufe der Jahre, ohne gänzlich zu verschwinden.
Während sich beim Vertrauen in die Bundesregierung über den gesamten betrachteten Zeitraum hinweg eine leicht steigende, zuletzt die Wendemarke zum positiven Wertungsbereich streifende Tendenz abzeichnet, hat sich die Vertrauenskurve für Politiker und Parteien, die nach der Jahrtausendwende stark nach unten abknickte, bis heute nur mäßig erholt.
In der Gesamtschau des Institutionenvertrauens treten gegenwärtig, gemessen an den Daten der Bevölkerungsbefragung vom Herbst 2014, zwischen Ost- und Westdeutschland fast keine Unterschiede mehr auf. Mehr noch: "Für keine Institution findet sich die aus früheren Untersuchungen bekannte Konstellation, dass im Westen Vertrauen, im Osten aber Misstrauen überwiegt."
Partizipation
Betrachtet man anhand der von der Parteienforschung kontinuierlich erhobenen Daten zur Parteimitgliedschaft "den gesamten Zeitraum seit 1990, so haben alle Parteien außer den Grünen Mitglieder verloren", und dies in teilweise drastischem Ausmaß. Die für die Zeit von 1990 bis 2012 ermittelten Daten über Mitgliedschaft beziehungsweise Mitarbeit in einer politischen Partei (Abbildung 4) widersprechen dem stetigen Abwärtstrend der Mitgliederzahlen nur scheinbar. Tatsächlich sind die abgebildeten Umfragedaten, die Gesamtjahresbilanzen der Parteien ergänzend, insofern von zusätzlicher Aussagekraft, als sie über die Fluktuation von Eintritts- und Austrittsbewegungen beziehungsweise Schwankungen der zeitlichen Befristung individuellen Engagements in einer politischen Partei Aufschluss geben.
An einer (genehmigten) Demonstration teilzunehmen, ist eine typische Ausdrucksform demokratischen bürgerschaftlichen Engagements. Dass Ostdeutsche im Einigungsjahr 1990 angeben, sehr viel häufiger als Westdeutsche für ihre Rechte auf die Straße gegangen zu sein beziehungsweise innerhalb der letzten zwölf Monate demonstriert zu haben, spiegelt die Massenproteste in der DDR während der Umbruchsphase wider. Nachdem diese außeralltägliche Situation verklungen war, glichen sich die Demonstrationsraten für West und Ost bald einander an, wenngleich die ostdeutsche Kurve punktuell "unruhiger" verlaufen ist. Über die Zeit seit 1990 betrachtet ist die Demonstrationskurve landesweit moderat zurückgegangen, wobei zwischen Ost- und Westdeutschland 2012 kein Unterschied mehr besteht.
Frauen- und Familienbild: Ostdeutschland als gesamtdeutscher Vorreiter
In der Familien- und Berufsforschung wird zwischen einem "traditionellen" und einem "modernen" Verständnis der Geschlechterrollen unterschieden. Während das althergebrachte männliche Ernährermodell der Frau die außerberuflichen Aufgaben der Haushaltsführung und Kindererziehung zuweist, geht das Doppelverdienermodell mit der Vorstellung einer egalitären, das heißt nicht geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in Beruf und Familie einher.
Die Meta-Analyse der Einstellungsdaten zeigt, dass sich die deutsche Gesellschaft vom früheren Lebensideal der Frau als Hausfrau und Mutter mehr und mehr verabschiedet. Vor allem in Ostdeutschland wird, von Frauen wie Männern, einem emanzipativen Rollenbild der Vorzug gegeben (Abbildung 5). Die Metatrendlinie Ost liegt seit Anfang der 1990er Jahre entsprechend konstant unter der Metatrendlinie West. Drei Befunde sind bemerkenswert: Zum einen sind ost- wie westdeutsche Frauen kontinuierlich fortschrittlicher eingestellt als Männer in beiden Landesteilen. Zum anderen hat sich der Westen Deutschlands insgesamt einem egalitären Familien- und Frauenbild erkennbar angenähert. Wir deuten diese Entwicklung als nachholende Modernisierung. Da sich, drittens, aber auch Ostdeutschland weiter in dieselbe Richtung bewegt, hat kein Aufholen stattgefunden, sondern es bleibt in den Einstellungslinien eine Differenz.
Weitere Indikatoren bestätigen den gesamtdeutschen Einstellungswandel hin zu einem egalitären Verständnis der Geschlechterrollen wie auch den Befund, dass Ostdeutsche in diesem Punkt von Anfang an einen Vorsprung halten. Heute sind Männer wie Frauen in Ost- und Westdeutschland überzeugt, dass sich Mutterschaft und Erwerbstätigkeit der Frau gut miteinander vereinbaren lassen (Abbildung 6). Auch hier sprechen sich in beiden Teilen des Landes Frauen häufiger als Männer für eine solche Vereinbarkeit aus, aber im Westen Deutschlands ist der Vorsprung der Frauen vor den Männern größer. Westdeutsche Frauen sehen sich ersichtlich häufiger in der Funktion von "Pionieren" eines für sie vorteilhaften Rollenwandels.
Die deutsche Einheit: mehr Vorteile oder mehr Nachteile?
Wie anfangs angemerkt hat sich die Bevölkerung der DDR vor 1990 stets mehrheitlich die Wiedervereinigung gewünscht. In der Verlängerung dieses "immerwährenden Wunschbildes" blickten im Frühjahr 1990 über 90 Prozent aller Ostdeutschen der sich anbahnenden Einheit mit Freude oder sehr großer Freude entgegen. Auch in Westdeutschland überwogen damals zwar eindeutig die zustimmenden Gefühle (knapp 75 Prozent), fast ein Viertel äußerte sich indes kritisch (rund 12 Prozent) oder gleichgültig (rund 14 Prozent).
Fast zweieinhalb Jahrzehnte später ist die Ost-West-Differenz bei dieser Frage eingeebnet. Jeweils vier von fünf Ost- wie Westdeutschen geben 2014 an, dass für das Land "alles in allem eher die Vorteile der Einigung überwiegen". Erkennbar ist dabei ein Zusammenhang mit dem formalen Bildungsgrad: Befragte mit Hauptschulabschluss äußern sich kritischer als Abiturienten und Studierte.
Dass die Einigung sich "für sie persönlich" vorteilhaft ausgewirkt habe, bejahen mehr Ostdeutsche (77 Prozent) als Westdeutsche (62 Prozent). Aufgefordert, ein jeweils eigenes Einigungsfazit sowohl für den eigenen als auch den anderen Landesteil zu ziehen, sehen einesteils Ost- wie Westdeutsche unisono einen größeren Gewinn für den Osten des Landes (Abbildung 7). Andererseits fällt auf, dass fast jede(r) dritte Westdeutsche (29 Prozent) für den westlichen Teil des Landes eher nachteilige Auswirkungen der Wiedervereinigung annimmt. Der ostdeutsche Vergleichswert liegt niedriger, nämlich bei 19 Prozent.
Westdeutsche beklagen demzufolge häufiger einigungsbedingte Nachteile für ihren Landesteil als Ostdeutsche. Folgende Erklärung bietet sich hierfür an: Während im Osten Deutschlands die dort in den 1990er Jahren massenhaft erlebten Folgen der ökonomischen und sozialen Transformationskrise inzwischen weitgehend abgeklungen sind beziehungsweise von wirtschaftlicher Konsolidierung überlagert werden, ist in Westdeutschland die öffentliche Debatte um eine regional "gerechtere" Verteilung finanzieller Ressourcen, nach gemeinsamem Schultern der Teilungslasten, erst unlängst eröffnet worden.
DDR und Bundesrepublik im persönlichen Systemvergleich
Fast 25 Jahre nach dem Vollzug der deutschen Einheit hat die Beantwortung der Frage, ob sich seit der Wiedervereinigung für die Deutschen die Lebensbedingungen in ihrem jeweiligen Landesteil verändert, das heißt konkret verbessert oder verschlechtert haben, eine erfahrungsgesättigte Aussagekraft. Die Ausgangslage für einen solchen individuellen "Systemtest" ist für Westdeutsche und Ostdeutsche indes unterschiedlich. Während Ostdeutsche, zumal ältere, die heutigen Bedingungen mit den damaligen der DDR in Beziehung setzen und insofern einen tatsächlichen Systemvergleich vornehmen, vergleichen Westdeutsche vergangene und aktuelle Leistungsangebote und -mängel innerhalb ihres unverändert fortbestehenden politischen und wirtschaftlichen Systems.
Der persönliche Vergleich der Systeme fällt aus Sicht der ostdeutschen Bevölkerung im Gesamtbild zwiespältig aus: Bei den Faktoren Anerkennung persönlicher Leistungen, soziales Wohlbefinden, Gesundheitsversorgung und insbesondere Chancen für persönlichen Aufstieg sowie bemerkenswerterweise auch Gleichberechtigung der Geschlechter neigt sich die Waagschale zugunsten der alten Bundesrepublik. Mit der DDR werden aus ostdeutscher Sicht rückblickend mehrheitlich Systemvorteile in den Bereichen soziale Gerechtigkeit, soziale Absicherung, Schutz vor Verbrechen, Kinderbetreuung, Bildung und sozialer Zusammenhalt verbunden (ohne Abbildung). Wird jedoch beim 35. Lebensjahr eine Trennlinie gezogen, so erweist sich, dass es vor allem ältere Ostdeutsche sind, die für die DDR obigen Bonus vergeben. Demgegenüber hat sich für jüngere Ostdeutsche bis auf die Bereiche Bildung, sozialer Zusammenhalt und Kinderbetreuung die Lebenssituation im geeinten Deutschland verbessert (Abbildungen 8 und 9).
In Westdeutschland ist diese Scheidelinie in der Bilanz der Generationen noch stärker ausgeprägt: Hier hat sich für unter 35-Jährige mehrheitlich die Lebenslage in sämtlichen abgefragten Bereichen, ausgenommen menschlicher Zusammenhalt, seit 1990 verbessert. Ältere Westdeutsche hingegen schätzen, ähnlich wie ihre ostdeutschen Landsleute, die Entwicklung, die Deutschland nach 1990 genommen hat, überwiegend kritisch ein (Abbildung 10). Allerdings sind es nicht durchgehend dieselben Lebensbereiche, denen eine Verschlechterung attestiert wird. Ein besseres gesellschaftliches Klima, persönliche Aufstiegschancen sowie insbesondere Gleichberechtigung und Kinderbetreuung werden aus westdeutscher Sicht auf der Habenseite verbucht. Umgekehrt werden in punkto sozialer Sicherheit, Verbrechensbekämpfung sowie Bildung und Gesundheit Fehlentwicklungen festgestellt. Diese Bilanz darf nicht mit einer Bewertung der Einheit im engeren Sinne verwechselt werden. Vielmehr kommt hier zum Ausdruck, dass die politische Gesamtleistung der (wechselnden) Regierungen im Zeitverlauf in manchem negativ und in manchem als vorteilhaft eingeschätzt wird.
Ausblick
Alles in allem zeichnen die von uns herangezogenen Einstellungsdaten weithin das Bild einer gesamtdeutsch gefestigten Demokratie. Die erreichten Zuwächse an demokratischer Stabilität sind eingebettet in eine weitverbreitet zuversichtliche Sicht auf die allgemeinen wie persönlichen Lebensbedingungen. Bedient wird dadurch ein elementares Grundbedürfnis nach Sicherheit, welches in beiden Teilen Deutschlands seit jeher vorherrscht, das jedoch in Ostdeutschland infolge der dort in den 1990er Jahren erfahrenen Lebensrisiken besonders dominiert. Aktuell ist zu beobachten, dass wachsende Zahlen zuwandernder Flüchtlinge von Teilen einer Gesellschaft, die die Erfahrungen der Transformationskrise der 1990er Jahre noch im Gedächtnis hat, als Bedrohung der wieder erlangten Zustände sicheren Lebens wahrgenommen werden. Vereinzelte Hinweise darauf enthält auch unsere Meta-Analyse der Umfragedaten: So ist beispielsweise für die Zeitspanne von 2010 auf 2012 ein Anstieg fremdenfeindlicher Einstellungen feststellbar. Eine Umkehr des langfristigen Trends lässt sich daraus freilich nicht ablesen.
Dr. phil, geb. 1946; Professor für Politikwissenschaft, Forschungsdirektor am Zentrum für Sozialforschung Halle e.V. (ZSH) an der Universität Halle-Wittenberg, Großer Berlin 14, 06108 Halle/S. E-Mail Link: everhard.holtmann@zsh.uni-halle.de
Dipl.-Soz., geb 1977; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Sozialforschung Halle e.V. (ZSH) an der Universität Halle-Wittenberg (s.o.). E-Mail Link: tobias.jaeck@zsh.uni-halle.de
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