Was die Mauer betrifft, so lassen wir uns nicht deren Schutzfunktion ausreden – ganz einfach, weil wir den Schutz spüren vor all dem, was hinter der Mauer an brauner Pest wuchert."
Die Beispiele, nicht gewählt, um selbstgerecht spezifische Positionen zu diskreditieren, sollen zeigen, wie überraschend der Fall der Mauer kam – und damit das Ende der DDR. Verbreitet war die Akzeptanz des geteilten Deutschlands im Osten wie im Westen. "Das Ende der DDR" es stand nicht auf der Tagesordnung von Politikern, Publizisten und Politikwissenschaftlern, auch wenn manche Neunmalkluge im Nachhinein den Eindruck erwecken, als sei es vorhersehbar gewesen.
Einer der Altmeister der deutschen Politikwissenschaft, Klaus von Beyme, sprach von einem "schwarzen Freitag" der Sozialwissenschaften. Der Hinweis auf deren Versagen lenkt aber vom eigentlichen Problem ab: Kritikwürdig ist weniger, das Ende der DDR nicht erkannt, sondern die Illegitimität ihres Herrschaftssystems, unabhängig von seiner Stabilität, verkannt zu haben. Die heftigste Schelte an der politikwissenschaftlichen DDR-Forschung kam dann aus den eigenen Reihen: Jens Hacker konzentrierte sich auf den Umstand, die (Politik-)Wissenschaft habe nicht an der Wiedervereinigung festgehalten.
Zäsur 1989
Im Laufe der 1970er und vor allem der 1980er Jahre kristallisierte sich eine Art "Selbstanerkennung" der Bundesrepublik Deutschland als "postnationale Demokratie unter Nationalstaaten"
Hinfällig und entkräftet zerbrach der sowjetische Kommunismus mehr an eigenen Schwächen als an Angriffen seiner Gegner. Der Versuch Michail Gorbatschows, das System von innen heraus zu reformieren, beschleunigte den Untergang des "Vaterlandes aller Vaterländer". Einerseits machten Verselbständigungstendenzen einstiger Satellitenstaaten der Sowjetunion zu schaffen, andererseits leistete sie ihnen durch eigene Liberalisierung indirekt Vorschub. Ein Domino-Effekt trat ein. Das Ende der diktatorischen DDR, das sich in das Ende einer weltgeschichtlichen Periode einfügte, ist nur vor dem Hintergrund der präzedenzlosen Vorgänge in der Sowjetunion zu verstehen.
1989 stellt ebenso ein Epochenjahr dar wie 1789. Die Wahrnehmung der Zeitgenossen kann aber von der retrospektiven Wahrnehmung abweichen. Martin Sabrow hat dafür das Begriffspaar "Erfahrungs- und Deutungszäsur"
Ich möchte 25 Jahre nach dem Ende der DDR zwei Fragen, die in einem engen Zusammenhang stehen, pointiert und ansatzweise zu beantworten versuchen. Erstens, vor allem: Welche Ursachen sind für das Ende der DDR verantwortlich, zum einen für das Ende der SED-Diktatur – sie führte zur Freiheit, zum anderen für das Ende der freiheitlichen DDR – sie führte zur Einheit. Zweitens, etwas kürzer: Welche Folgen zeitigte dieses Ende, zum einen bezogen auf die Freiheit, zum anderen auf die Einheit, wobei keine trennscharfe Unterscheidung zwischen freiheits- und einheitsbedingten Folgen möglich ist.
Vorher werfe ich eine Frage auf, die rhetorischer Natur zu sein scheint: Wann endete die DDR? Es gibt zwei Extremantworten. Die erste ignoriert den Staat der DDR, die zweite dämonisiert seine Wirkung. Variante 1: Das Ende der DDR war schon besiegelt, als sie noch gar nicht existierte. Alle Alliierten gingen auf der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 von der Einheit Deutschlands aus. Insofern war dessen spätere Teilung weniger eine Folge des von Deutschland angezettelten Weltkrieges als vielmehr des Kalten Krieges. Sollte der Ost-West-Konflikt zu Ende gehen, könnte sich die deutsche Frage neu stellen. Variante 2: Die DDR ist nicht tot, sondern lebendiger denn je. Wer so argumentiert, zielt auf die Popularität der Jugendweihe, die Zunahme der Kirchenaustritte, auf die Verklärung der DDR, auf "Ostalgie". Im Westen – für Autoren wie Arnulf Baring ist die Bundesrepublik mittlerweile eine "DDR light"
Der 9. Oktober 1989 mit der Massendemonstration der 70000 in Leipzig war der Durchbruch zur Freiheit, der 9. November mit dem Mauerfall in Berlin der Durchbruch zur Einheit. Die Zeitgenossen nahmen dies so nicht wahr. Erfahrungs- und Deutungszäsur müssen sich, wie gezeigt, nicht decken. Zum Teil gingen die beiden Phasen ineinander über. So gab es bereits in der zweiten Novemberhälfte 1989 Demonstrationen für die Einheit Deutschlands, als noch das erst am 1. Dezember gestrichene Machtmonopol der SED in der Verfassung festgeschrieben war. Ist die Freiheits- und Einheitsrevolution im Gegensatz zum Umbruch in anderen Staaten Ostmitteleuropas durch eine "doppelte Demokratisierung"
Ursachen für das Ende der diktatorischen DDR
Die Sowjetunion spielte beim Aufbau der SED-Diktatur eine ebenso tragende Rolle wie bei deren Ende. Gorbatschow war nicht nur der Totengräber der Sowjetunion, sondern auch der DDR, wiewohl dies seiner Intention widersprach. Was er wollte: Reformen; was er bewirkte: das Ende des "real existierenden Sozialismus". Er ging in die Reformfalle. Und er akzeptierte mit seiner Absage an die Breschnew-Doktrin
Die kommunistische DDR war nicht reformierbar. Gerade weil die oppositionelle Bewegung als reformerisch galt, leistete sie ihren Beitrag zur Revolution. Der beständige Vorwurf an die beiden "Erichs" – Honecker und Mielke –, durch Starrheit den eigenen Untergang beschleunigt zu haben, stimmt so nicht. Außenpolitische und wirtschaftliche Umstände zwangen die DDR allerdings zu immer mehr Konzessionen. Der allmählichen Loslösung von der Sowjetunion folgte eine partielle Abhängigkeit von der Bundesrepublik. Die großzügigere Regelung der Reisepraxis ab Mitte der 1980er Jahre minderte keineswegs das Unruhepotenzial, sondern zog Ausreiseanträge nach sich. Nicht mangelnde, sondern zu große Flexibilität unterminierte die SED-Herrschaft.
Da die Bevölkerung wusste, Kritik werde weniger scharf geahndet als früher, riskierte sie mehr, entwickelte sie mit der Abnahme der Repressionen ein besonderes Gespür für Repression – eine Variante des Tocqueville-Effekts.
Da die SED ideologisch ermattet war, agierte die Staatssicherheit nicht. Sie, die alle oppositionellen Gruppierungen unschädlich machen sollte, blieb in der Krise eigentümlich passiv,
Wer die Kategorien der Systemwechselforschung zugrunde legt,
Ursachen für das Ende der demokratischen DDR
Mit der Freiheit war die Einheit noch nicht erreicht. Nach dem Fall der Mauer und bei nun vermindertem Repressionsrisiko änderte sich das Meinungsklima atemberaubend schnell: Wer an einer eigenständigen DDR festhielt, geriet rasch in die Defensive. Die ostdeutsche Bevölkerung, aller Propaganda von einer "sozialistischen Nation" zum Trotz, wollte das Leben im Westen, überdrüssig jeglicher Experimente. Zwar hatten Teile der "künstlerischen Intelligenz" 1976 nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns protestiert, aber die Masse der Bevölkerung ließ dies kalt. Eine Paradoxie: Der Liedermacher Biermann musste gehen und wollte bleiben, viele DDR-Bürger hingegen mussten bleiben und wollten gehen.
Otto Reinhold, Rektor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED, hatte im August 1989 in einem Rundfunkbeitrag Tacheles geredet: "Welche Existenzberechtigung sollte eine kapitalistische DDR neben einer kapitalistischen Bundesrepublik haben? Natürliche keine. Nur wenn wir diese Tatsache immer vor Augen haben, wird klar erkennbar, wie wichtig für uns eine Gesellschaftsstrategie ist, die kompromisslos auf die Festigung der sozialistischen Ordnung gerichtet ist."
Die DDR-Regierung trat nach dem Fall der Mauer, der dem gleichen Zweck dienen sollte wie ihr Bau – dem Erhalt der DDR –, die Flucht nach vorne an und suchte mit ihrem Vorschlag einer "Vertragsgemeinschaft" und einer Konföderation in die Offensive zu gelangen. Hingegen wurde die Bundesregierung erst aktiv, als der öffentlich bemerkbare Stimmungswandel in Richtung Einheit umschlug. Helmut Kohls vorsichtig formuliertes Zehn-Punkte-Programm von Ende November 1989 – gleichwohl ein Paukenschlag – verfehlte seine Wirkung weder im Ausland noch in Deutschland. Der letzte Punkt lautete: "Die Wiedervereinigung, das heißt die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands, bleibt das politische Ziel der Bundesregierung."
Wir wissen nicht, was Michail Gorbatschow, wahrlich kein Stratege, nach erbittertem Widerstand und Zögern bis Anfang 1990
Ein Gedankenexperiment: Was wäre gewesen, hätte der sowjetische Politiker zu Beginn der friedlichen Revolution die "deutsche Karte" gezogen und wie Stalin 1952 die Vereinigung Deutschlands unter neutralen Vorzeichen angeboten? Sicher, kontrafaktische Überlegungen sind müßig, zeigen jedoch die Offenheit des historischen Verlaufs. Es wäre zu einem massiven Konflikt zwischen der ostdeutschen Bevölkerung und der westdeutschen Politik gekommen. Ein solcher Vorschlag hätte einen Keil in das westliche Lager getrieben – mit unabsehbaren Folgen für die deutsche Einheit und für die fluide politische Stimmung in ganz Deutschland.
Folgen der Freiheit
Die stark extremistische NPD, die schwach ist, spielt schon seit langem ebenso wie die schwach extremistische Partei Die Linke, die stark ist, im Osten eine deutlich größere Rolle als im Westen. Aber die Freiheit ist in der gefestigten Demokratie Deutschlands nicht in Gefahr. Größere Unterschiede zwischen Ost und West bestehen bei der Frage nach dem Sozialismus-Verständnis: Im Osten gilt der Sozialismus einer großen Mehrheit ununterbrochen seit 1990 als gute, freilich schlecht ausgeführte Idee, im Westen halten sich Befürworter und Gegner die Waage, und – damit zusammenhängend – bei dem Gleichheits- beziehungsweise Freiheitsverständnis.
Nicht wenige in den neuen Bundesländern vermissen die "sozialen Errungenschaften" der DDR, rufen nach "Vater Staat" und "Mutter Betrieb", der eine Art "Heimat" bot. In der DDR habe größere Hilfsbereitschaft zwischen den Menschen bestanden, wobei, was zuweilen der Vergessenheit anheimfällt, der seinerzeitige Zusammenhalt oft aus der Not geboren war. Im Vergleich zum Westen dominiert Konsensbewusstsein und eine gewisse Konfliktscheu. Damit korreliert das geringere Maß an Lagermentalität. Die Konsequenz: Herkömmliche Links-Rechts-Orientierungen sind schwächer ausgeprägt.
Ostdeutsche sprechen der DDR mehr gute als schlechte Seiten zu – Ostalgie spielt eine Rolle,
Wer pauschal die weltoffene Bürgerkultur der alten Bundesländer gegen die Obrigkeitskultur des Ostens ausspielt, bedient Klischees, wiewohl Illiberalität im Osten – etwa gegenüber Minderheiten – stärker entfaltet ist als im Westen. Eine Demonstrationsbewegung wie Pegida ("Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes")
Gleichwohl: Die neuen Bundesländer sind überwiegend demokratisch konsolidiert. Deutschland ist weiterhin ein "Staat der Mitte" (Jörn Ipsen) mit seiner "Politik des mittleren Weges" (Manfred G. Schmidt). Allerdings fällt im Westen die System- und Demokratieakzeptanz größer als im Osten aus, das Institutionenvertrauen ebenso. Dies kann ein Vierteljahrhundert nach der deutschen Einheit kaum anders sein.
Folgen der Einheit
In den neuen Bundesländern ist in einigen gesellschaftlichen Bereichen ein Elitenwechsel weithin ausgeblieben, beispielsweise in der Verwaltung. Wer früher "oben" stand, wurde nicht zwangsläufig abgehalftert, und wer heute bestimmte Qualifikationen nicht besitzt (etwa, weil er zu DDR-Zeiten keine politischen Konzessionen machte), ist erneut "der Dumme". In anderen Bereichen dominiert West-Personal, vor allem politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Spitzenposten sind entsprechend besetzt. Ostdeutsche sehen vielfach ihre Biographie als entwertet an, ihre Lebensleistung nicht angemessen gewürdigt: "Im Osten ist das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, über alle Parteiorientierungen hin weit verbreitet."
Ist es nicht ein schönes Indiz für "Normalität", die Tatsache einer ostdeutschen Kanzlerin und eines ostdeutschen Bundespräsidenten weder zu bekritteln noch zu loben? Das Wort von der "Vereinigungskrise" (Jürgen Kocka), das in den 1990er Jahren grassierte, ist mittlerweile ein Anachronismus. Von 1949 bis zum Mauerbau 1961 sind etwa 2,5 Millionen Menschen aus der DDR in den Westen abgewandert. In der Zeit bis Ende 1989 folgte eine weitere Million. Allein in den 1990er Jahren sind über zwei Millionen Ostdeutsche in den Westen und über eine Million Westdeutsche in den Osten gezogen. Zudem fördert eine Vielzahl an Migranten die demographische Durchmischung.
Einige ostdeutsche Gegenden, etwa in Mecklenburg-Vorpommern, leiden unter Verödung. Der FAZ-Redakteur Peter Carstens hat 2014 ein trostloses Bild des Ostens gezeichnet. "Eine Bahnfahrt von Berlin nach Dresden: gute Gelegenheit, über die deutsche Einheit nachzudenken. Der Zug schleicht über krumme Schienen. Es geht vorbei an Feldern und Birkenwäldchen. Alles wirkt malerisch und menschenleer. (…) Zwei Diktaturen, zwei Kriege und ein beispielloser Bevölkerungsrückgang haben die Gesellschaft erschüttert und ausgezehrt. In manchen Gegenden der Altmark, der Prignitz oder der Uckermark sieht es heute aus wie im neunzehnten Jahrhundert: weite Felder, arme Dörfer. (…) Vielleicht sollte die Kanzlerin mal wieder mit dem Zug nach Dresden fahren."
Das Verhältnis zu den nationalen Symbolen ist nicht mehr so verkrampft (man denke an die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 im eigenen Land), dies nicht zuletzt dank der deutschen Einheit. Patriotismus ist heute weithin geachtet, Nationalismus hingegen geächtet. Westdeutsche fühlen sich im Vergleich zu den Ostdeutschen eher als Deutsche (und nicht als Westdeutsche), wobei Ostdeutsche bei der Frage nach dem Gelingen des Zusammenwachsens von Ost und West deutlich reservierter sind.
Ursachen und Folgen im Vergleich
Die Initiative für das Ende der DDR – der langjährigen diktatorischen wie der kurzzeitigen demokratischen – ging von den bei ihrer Flucht- wie ihrer Demonstrationsbewegung durch westliche Medien
Wer die Folgen des Endes der DDR mit Blick auf Freiheit und Einheit in den Blick nimmt, erkennt eine gewisse Diskrepanz zwischen der Einschätzung im Osten und im Westen Deutschlands einerseits, der im Ausland andererseits. Der Blick von außen nimmt die deutsche Einheit weithin als "Erfolgsgeschichte" wahr und empfindet manche Klage als "Luxusproblem". In Deutschland hingegen wird mehr über die materiellen Kosten der Einheit geredet als über die immateriellen Lasten der Teilung. Richard Schröder, neben Jens Reich und Friedrich Schorlemmer einer der führenden Intellektuellen aus dem Osten, wendet sich gegen die Miesmacher, welche die deutsche Einheit vor allem unter der Rubrik "Pleiten, Pech und Pannen"
Machen wir ein weiteres Gedankenexperiment: Bei den Menschen in der DDR wäre, kurz vor dem Fall der Mauer, als Zukunftsszenario die heutige Situation in Deutschland beschrieben, wohl eitel Freude gewesen; die ökonomische Lage nahm desolate Ausmaße an, die Demonstrationsbewegung höchst riskante Formen. Hätten dieselben Personen elf Monate später, kurz vor der deutschen Einheit, in höchster Euphorie, erfahren, die Lage werde in 25 Jahren so sein wie derzeit, wäre der Missmut groß gewesen. Das Urteil hängt stark vom jeweiligen Ausgangspunkt ab.
Ist durch die deutsche Einheit auch die "alte" Bundesrepublik Deutschland untergegangen? Wer diese Position teilt, benennt neben dem größeren außenpolitischen Spielraum, der militärische Verantwortung einschließt, Tendenzen im Westen, die jenen in den neuen Bundesländern ähneln: den Rückgang der Wahlbeteiligung etwa, die sinkende Zahl der Parteimitglieder, die nachlassende Partizipation in Bürgerinitiativen. Dies sind jedoch gesellschaftliche Prozesse in der gesamten westlichen Welt. Insofern ist der Osten keineswegs ein Vorreiter für den Westen. Es ist weithin zu einer Verwestlichung des Ostens gekommen, nicht zu einer "Verostung" (Arnulf Baring) des Westens. Je weiter wir uns von 1989/90 entfernen, umso klarer zeigt sich: Die DDR, ein künstliches Gebilde, schuf wenig Dauerhaftes.
Aufgaben der hiesigen Politikwissenschaft
Mit Blick auf die Rezeption der friedlichen Revolution 1989 und der deutschen Einheit 1990 fällt das Urteil über die Politikwissenschaft nicht sonderlich positiv aus. Die Geschichtswissenschaft hat ihr vielerorts den Rang abgelaufen. Ich nenne beispielhaft nur je ein (Meister-)Werk: Ilko-Sascha Kowalczuks "Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR" und Andreas Rödders "Deutschland einig Vaterland". Historische Umbrüche derartigen und unerwarteten Ausmaßes rufen naturgemäß zunächst Zeithistoriker auf den Plan, die den Verlauf samt Ursachen und Folgen detailliert nachzeichnen und Mythen korrigieren.
Ein Vierteljahrhundert nach 1989/90 ist es jedoch Zeit für größere politikwissenschaftliche Perspektiven. Ein Titel wie "Die Auflösung der Deutschen Demokratischen Republik", der an ein bahnbrechendes Werk Karl Dietrich Brachers von 1955 zur Weimarer Republik erinnert, ist ebenso ein Desiderat wie ein kategorial überzeugendes Werk zum Systemwechsel 1989/90 in der DDR, auch unter Einbeziehung der internationalen Konstellationen. Die innen- und außenpolitischen Folgen der deutschen Einheit sind politikwissenschaftlich ebenfalls unzureichend analysiert.
Beherzigte die deutsche Politikwissenschaft stärker Maximen ihrer Gründungsväter, gewönne das Fach mehr Ausstrahlung und Bodenständigkeit zugleich. Wie die mit dem Namen von Karl Dietrich Bracher und seinem Nachfolger Hans-Peter Schwarz verbundene "Bonner Schule" gelehrt hat, muss der Unterschied zwischen der Politik- und der Geschichtswissenschaft ohnehin nicht prinzipieller Natur sein. Die Politikwissenschaft hat bei aller Notwendigkeit der Strukturanalyse die Rolle von Persönlichkeiten (wieder) stärker zu erfassen.
Der Beitrag ist eine gekürzte Fassung der Abschiedsvorlesung des Autors am 3. Juli 2014 an der TU Chemnitz.