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Mode, Hype, Megatrend? Vom Nutzen wissenschaftlicher Zukunftsforschung - Essay

Horst W. Opaschowski

/ 14 Minuten zu lesen

Wirtschaftsforschung als Prognoseforschung ist seit Jahren überfordert. Wissenschaftliche Zukunftsforschung hingegen versteht sich als Sozialforschung: Im Mittelpunkt stehen Mensch und Gesellschaft, nicht nur Verbraucher und Wirtschaft.

Wünsche und Visionen von einer besseren Zukunft gibt es in der gesamten Menschheitsgeschichte. Dahinter verbirgt sich die uralte Sehnsucht nach dem "guten Leben", aber auch der Wunsch, dem eigenen Dasein einen tieferen Sinn zu geben und nicht nur blindlings in den Tag hineinzuleben. Das Problem vieler Voraussagen und Prognosen der vergangenen Jahrzehnte: Technologiemöglichkeiten wurden zu oft als Zukunftswirklichkeiten beschrieben. Wie selbstverständlich gingen Technologiegläubige von dem Immer-schneller-Prinzip aus. Fast alles, was vorstellbar war, sollte auch machbar sein. Entsprechend sahen die Prognosen für die weitere Zukunft aus – von der Wetterlenkung auf der Erde über die intergalaktische Nachrichtenverbindung bis zum lang anhaltenden Koma, das Reisen in die Zeit erlaubt. Das war purer Futurismus zwischen Fantasterei und Science-Fiction. Wer so einseitig technologisch-technokratisch dachte, musste einfach an der sozialen Wirklichkeit scheitern – an dem, was der Mensch braucht oder wirklich will.

Andererseits gibt es seit einem halben Jahrhundert eine Zukunftsforschung auf wissenschaftlicher Basis, die treffsichere Prognosen erstellt. In den 1960er Jahren wurde beispielsweise prognostiziert, dass Menschen länger leben werden, dass die Kinderzahl sinken wird, dass immer mehr Menschen in Städten leben werden, dass die Möglichkeiten zur Datenverarbeitung das Stöbern in Büchern zunehmend ablösen wird und dass Maschinen dem Menschen immer öfter Arbeit ab- oder auch wegnehmen werden. Seinerzeit gab es noch kein Microsoft und kein Google, weder Facebook noch Amazon. Doch die wissenschaftlichen Prognosen sind inzwischen Wirklichkeit geworden.

Wie zu(ver)lässig sind Konjunkturprognosen?

Der ehemalige tschechische Präsident Václav Havel fragte sich einmal, was passieren würde, wenn man Ökonomen die Aufgabe übertrüge, die Arbeit eines Sinfonieorchesters zu optimieren. Seine Antwort: Wahrscheinlich würden sie in Beethovens Konzerten alle Pausen streichen. Denn man könne doch die Musiker nicht dafür bezahlen, dass sie nicht spielen. Ökonomen, so Havel, verhielten sich nicht selten wie bloße Buchhalter, die "aus einem engen materialistischen Blickwinkel heraus" nicht in der Lage seien, die Welt des 21. Jahrhundert wirklich zu verstehen.

In gleicher Weise argumentiert Havels früherer Berater Tomáš Sedláček als Mitglied des Nationalen Wirtschaftsrates in Prag. Er kritisiert die modernen Mainstream-Ökonomen, die vom Leitbild des homo oeconomicus besessen und für das Verstehen menschlicher Handlungen geradezu blind seien. Das Mathematische zähle ihnen mehr als das Menschliche, die Methode sei ihnen wichtiger als die Substanz. Und auf nicht exakte Wissenschaften – von der Philosophie bis zur Ethik – blickten sie "mit Verachtung hinunter, die auf positivistischer Arroganz beruht". Die Folgen dieses Denkens bleiben nicht aus: Die Gier nach immer mehr (und nicht nach immer besser) beherrscht die Diskussion der modernen Ökonomie. Über Maßlosigkeit und Übermaß braucht sich daher niemand zu wundern. Bescheidenheit und Genügsamkeit bleiben auf der Strecke.

Jetzt wird auch verständlich, warum sich die Vorhersagen der Ökonomen oft als Fehlprognosen erweisen: weil sie die wirklich wichtigen Dinge im Leben nicht im Blick haben. Viele Ökonomen verstehen sich primär als Apostel eines ständigen Wirtschaftswachstums, konzentrieren sich auf das Hier und Jetzt und wollen vom Blick nach vorn und von Zukunftsfragen zur Sinnorientierung des Lebens wenig wissen. Sedláček bringt es auf den Punkt: Ein radikales Umdenken sei nötig, "weil eine Wirtschaftspolitik, die nur materielle Ziele verfolgt, immer zu Schulden führen wird". Unerwartete Rezessionen und anhaltende Krisenzeiten machen Ökonomen ratlos. Ihre mathematischen Standardmodelle greifen plötzlich nicht mehr. So erweist sich am Ende fast jede Theorie als Biografie, die viel über die persönlichen Ansichten der Ökonomen, aber wenig über die offenen Lebenswünsche der Menschen sagt. Auf diese Weise droht die Ökonomie, ihre Seele zu verlieren.

Die Wirtschaftsforschung als Prognoseforschung ist seit Jahren überfordert; würden die Konjunkturforscher, die weiterhin alle paar Monate neue "Prognosen" aufstellen, nach ihrer Treffsicherheit bezahlt, wären sie allesamt Sozialfälle. Denn Ihre Projektionen erwecken nur den Anschein punktgenauer Vorhersagen; in Wirklichkeit agiert das moderne Vorhersagegeschäft mit unvorstellbaren Fehlerquoten. So rechneten die führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrem Frühjahrsgutachten 2015 mit einem Wirtschaftswachstum von 2,1 Prozent, im Herbst 2014 hatten sie dagegen nur einem Anstieg von 1,2 Prozent prognostiziert. Dies entspricht einer Fehlerquote von 75 Prozent in nur sechs Monaten. Das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle an der Saale prognostizierte im Dezember 2011 für das Jahr 2012 ein Wachstum der deutschen Wirtschaft von 0,3 Prozent. Drei Monate später korrigierte das Institut seine Wachstumsprognose auf 1,3 Prozent, was einer Fehlerquote von über 400 Prozent in drei Monaten entspricht. Welchen Wert hat eine solche Forschung? Die Folgen der andauernden Überforderung sind fatal: Kaum ein Forschungsinstitut sieht (und sah) globale Finanz- und Wirtschaftskrisen voraus.

Zudem widersprechen sich die wirtschaftspolitischen Einschätzungen der Experten vielfach. Nach dem Erfolgsprinzip "Erzählen ist mehr als Zählen" entwirft jeder eine andere Geschichte, die auch zu anderen Vorhersagen führt. Der damalige Leiter der Abteilung Konjunktur des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung gab vor einigen Jahren unumwunden zu: "Neben der Genauigkeit der Prognosen spielt vor allem die Story eine Rolle, die zu einer Vorhersage führt (…). Für die wirtschaftspolitische Beratung ist im Zweifel die Story wichtiger als die Genauigkeit." Die Politik bleibt gegenüber dieser Art von Prognoseforschung jedoch relativ beratungsresistent: "Expertise wird in der Politik zwar als Argumentationshilfe gebraucht, aber nie umgesetzt, schon gar nicht eins zu eins. (…) Ökonomische Erkenntnis ist vor allem ein Mittel zum Zweck, eine Argumentationshilfe, aber kein Navigationssystem." Denn, so Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble 2013: "Sie können politische Entscheidungen nicht an die Wissenschaft abtreten."

Ursachen für Fehlprognosen

Auf einem internationalen Kongress einer Fondsgesellschaft im November 2008 in Venedig machten sich Wirtschaftsforscher Gedanken über die Ursachen und Auswirkungen ihrer Fehlprognosen. Selbstkritisch gestand der Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Solow ein, dass Ökonomen im Grunde auch nur Klempner seien: Er erwarte von seinem Klempner keine Vorhersage, sondern eine Reparatur. Ökonomen seien dazu da, um nach der Krise zu reparieren.

Die Hauptursache für Fehlerquoten bei Wirtschaftsprognosen ist schnell gefunden: mangelnde Berücksichtigung von Kenntnissen der Verbraucherpsychologie. Es ist kein Zufall, dass der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung erstmals während der Golfkrise in seinem Gutachten 1990/91 einräumen musste, seine Prognosen seien "kaum in der Lage, Verhaltensänderungen zu erfassen, die sich aus einer möglichen Verunsicherung ergeben könnten". In Krisenzeiten, die Verbraucher verunsichern, sind Wirtschaftsforscher selbst verunsichert: Vor der Psychologie der Verbraucher kapitulieren sie. Sie unterstellen in ihren Berechnungen bei den Verbrauchern ein grundsätzlich rationales Verhalten und schätzen infolgedessen Stimmungen, Hoffnungen oder Ängste falsch ein.

In der Wirtschaftsforschung sollte daher – statt von Konjunkturprognosen – eher von Einschätzungen die Rede sein. Genaugenommen verkünden Wirtschaftsforschungsinstitute keine Prognosen, sondern vage Wenn-dann-Aussagen: Wenn zum Beispiel die Weltwirtschaft weiter wächst und der Rohölpreis stabil bleibt und der Aktienkurs steigt unddann wirkt sich das konjunkturell auf die weitere Wirtschaftsentwicklung so oder so aus. Solche Aussagen sind eine Art Wirtschaftsklimaindex. Sie spiegeln eher die Stimmungen von Unternehmen wider (und weniger die von Verbrauchern). Der Erkenntnisstand, den die Wirtschaftswissenschaft von der Motivation der Konsumenten hat, ist durchaus vergleichbar mit demjenigen, den die Finanzwissenschaft vom Börsengeschehen hat. Beide wissen viel zu wenig von den individuellen Verhaltensweisen. Antworten auf die Frage, wer wann wie in welchen Situationen oder Krisen reagiert, sind aber fundamental für die Abgabe von verlässlichen Prognosen.

Trendforschung versus Zukunftsforschung

Anfang der 1980er Jahre entdeckte der US-amerikanische Politikwissenschaftler John Naisbitt eine "Marktnische", die helfen sollte, sich nicht in der "beängstigenden Welt der Masseninformationen" zu verlieren. Sein Such- und Findungssystem brachte er auf den Punkt: "Megatrends" sollten die Wirtschaft auf Bestzeiten einstimmen: "Mein Gott, in welch einer phantastischen Zeit wir doch leben!" Naisbitt generalisierte gnadenlos und konzentrierte sich in seinen Trendanalysen auf das, was die Wirtschaft hören wollte, nach dem Erfolgsprinzip: "Das Geschäft ersetzt die Politik als Weltstimmungsbarometer."

Dies trifft in gleicher Weise für die Trendforschung in Deutschland zu: Für Trendforscher fängt der Mensch beim Konsumenten an, soziale Konflikte und Probleme werden weitgehend ausgeblendet. Trendforscher geben zu, "keine Ahnung von den Trends von morgen" zu haben, sie sind primär an Gegenwartsentwicklungen interessiert und nicht an der Welt in zwanzig Jahren. Und: Trendforscher arbeiten vorwiegend journalistisch, nicht wissenschaftlich. Ihr Instrumentarium heißt Recherche durch Zeitunglesen. Sie analysieren die Gegenwart und fragen dann: Wie sieht der nächste (Mega-)Trend aus?

Die wissenschaftliche Zukunftsforschung hingegen versteht sich wesentlich als Sozial- und Verhaltensforschung. Im Unterschied zur bloßen Konjunktur- und Wirtschaftsforschung sind ihre Prognosen mikrofundierter: Sie analysieren das Verbraucherverhalten, liefern Daten zur Verhaltenspsychologie und Verhaltensökonomie. Zukunftsforschung kann Erdbeben oder Vulkanausbrüche nicht vorhersagen, aber Erkenntnisse liefern, wie Verbraucher auf kritische Ereignisse reagieren (zum Beispiel auf Naturkatastrophen oder terroristische Anschläge). Doch ist auch klar: Die Zukunft schließt immer auch "Zukünfte" ein. Spätestens seit der Atomkatastrophe von Fukushima im März 2011 ist klar geworden, dass auch ein "Restrisiko" Realität werden kann: Über Sicherheitsannahmen, -vorkehrungen und -anforderungen muss neu nachgedacht und entschieden werden. Nicht jede Katastrophe ist vorhersehbar, wohl aber vorstellbar. Zukunftsforschung als Risikoforschung heißt: das Undenkbare denken, mit dem Unberechenbaren rechnen und das Unwahrscheinliche für wahrscheinlich halten.

Im Rahmen meiner eigenen Zukunftsforschung spielten Bilder und Szenarien eine Rolle, die teilweise so "wild" waren (in der Zukunftsforschung spricht man von wild cards, die unwahrscheinlich, aber dennoch realistisch sind), dass sie seinerzeit kaum auszumalen waren: so etwa 2002 über die drohende Zahlungsunfähigkeit einzelner Länder, 2004 über den möglichen Zusammenbruch der Finanzmärkte oder 2006 über neue Bürgerbewegungen als All-Parteien-Koalitionen und außerparlamentarische Allianzen. Noch nicht ganz Wirklichkeit geworden ist bisher das Szenario von 1999 über das Internet als elektronisches Schlachtfeld, das den Cyberspace außer Kontrolle geraten lassen kann. Doch die Affären um NSA und BND sowie vermehrte Hackerangriffe auf Staaten und Institutionen deuten inzwischen in diese Richtung.

Wie geht es weiter, was kann die Zukunftswissenschaft wirklich leisten? Die Schlüsselfragen einer auch psychologisch orientierten Zukunftsforschung als Prognoseforschung lauten: Wie haben die Menschen bisher in ähnlichen Situationen reagiert? Sind Regelmäßigkeiten oder Widersprüche in ihren Verhaltensweisen feststellbar? Lassen sich daraus psychologisch begründbare Grundsätze über das menschliche Verhalten ableiten? Erst aus der Beobachtung von Lebensgewohnheiten lassen sich – über sogenannte Zeitreihen als Repräsentativbefragungen im Zeitvergleich – langfristige Entwicklungen ("Zukunftstrends") ableiten. Zukunftstrends beschreiben Tendenzen, die für die gesellschaftliche Entwicklung der nächsten ein bis zwei Jahrzehnte richtungsweisend sind und so gesehen auch als "Megatrends" bezeichnet werden könnten.

Im 21. Jahrhundert müssen wir mit dem Zukunftsparadox leben: Je mehr und je präzisere Prognosen wir abgeben können (etwa über Wahlergebnisse oder das Wetter), desto mehr stellt sich bei uns ein Gefühl von Ungenauigkeit und Unsicherheit ein. So entsteht der "Zukunftsgewissheitsschwund". Weil die Menge der Ereignisse pro Zeiteinheit mit der Menge des verfügbaren Wissens wächst, entsteht der subjektive Eindruck, dass die Zukunft immer weniger vorhersehbar sei. Dabei gibt es in der Sozialwissenschaft durchaus voraussagbare Elemente, die verlässliche Aussagen und Prognosen zulassen. Dazu gehören Alltagsrituale, wonach die meisten Menschen zu bestimmten Zeiten immer wieder das Gleiche tun, was Voraussagen mit großer Wahrscheinlichkeit ermöglicht. Auch die Kenntnis statistischer Regelmäßigkeiten spielt bei Prognosen eine wichtige Rolle. So lassen sich durchaus rational begründete Voraussagen machen und werteorientierte Fragen stellen: Welche Gesellschaft wollen wir in Zukunft haben? Was hält die Gesellschaft dann zusammen? Wie wollen wir wirklich leben? Dies alles ist unter Berücksichtigung globaler Probleme wie Bevölkerungsexplosion, Nord-Süd-Gefälle und Ausbeutung der natürlichen Ressourcen zu erörtern.

Eine wissenschaftsbasierte Zukunftsforschung ermittelt erstens auf der Grundlage von Zeitvergleichen ("Zeitreihen") statistisch nachweisbare Entwicklungstendenzen der Gesellschaft und geht den Ursachen und möglichen Folgewirkungen (Chancen, Risiken) für die Zukunft nach. Und sie versteht sich zweitens als wissenschaftliche Orientierungs- und Entscheidungshilfe für Gesellschaft, Wirtschaft und Politik, was das Antizipieren von Zukunftsalternativen ("Futuriblen", "Futures", "Zukünfte") notwendigerweise einschließt. Aus möglichen und wünschbaren Zukünften lassen sich Handlungsoptionen ableiten und Strategien aufzeigen. Und schließlich lässt sich fragen: Wenn wir in Zukunft so leben wollen – welche Wege müssen wir dann heute gehen? Eine nachhaltige wissenschaftliche Zukunftsforschung ist Wegweiserin und Weichenstellerin zugleich.

Zukunft der Zukunftsforschung

Das menschliche Wissen und die allgemeine Beschleunigung werden weiter zunehmen. Macht und Verantwortung, Wissen und Vorauswissen gehören daher zusammen. Infolgedessen können Wirtschaft und Politik auf die Erkenntnisse der Zukunftsforschung nicht verzichten. Mit der Globalisierung hat die Reichweite menschlicher Macht zugenommen; in gleichem Maße sollte die Reichweite menschlicher Voraussicht wachsen. Ein durchaus angebrachter Zukunftsoptimismus im Sinne des Philosophen Karl Popper ("Optimismus ist Pflicht") ist dabei allerdings nicht zu verwechseln mit blindem Fortschrittsglauben.

Zur systematischen Erforschung von Zukunftsfragen trugen insbesondere die Studien des Club of Rome bei, die einerseits frühzeitige Warnungen aussprachen ("Grenzen des Wachstums", 1972), andererseits auch wünschbare Zukünfte beschrieben ("Der Weg ins 21. Jahrhundert", 1983). Als eine der Hauptursachen dafür, warum die wissenschaftliche Zukunftsforschung so lange ein weißer Fleck in der Forschungslandschaft blieb, muss wohl das "Fehlen konsensueller und identitätsstiftender Visionen" angesehen werden. Die öffentliche Diskussion in Deutschland bewegt sich nicht selten zwischen Visionsängsten und Innovationsmüdigkeit. Gefragt sind mehr Gegenwartsanalysen und Problemstudien zu Frieden, Umwelt, Entwicklungsländern und anderem mehr. Erst wenn es gelingt, Aspekte der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit in das öffentliche Bewusstsein zu rücken, wird erkannt werden, dass Zukunftsforschung auch ein Frühwarnsystem sein kann und eine Alarmfunktion hat.

Wie nie zuvor in unserer schnelllebigen Zeit sind Orientierungs- und Handlungswissen gefordert, um Konflikt- oder Krisenmanagement erfolgreich meistern zu können. Zukunftsforschung zwingt zur Entwicklung von Eventualstrategien. Empfehlungen für das Handeln lassen sich aber nur formulieren, "wenn auch die Ziele des Handelns transparent gemacht werden". Andernfalls agiert man wie die Protagonistin im Kinderbuch "Alice im Wunderland": "Würdest Du mir bitte sagen, wie ich von hier aus am besten weitergehe?", fragt darin Alice. "Das hängt sehr davon ab, wo Du hin willst", antwortet die Katze. Wissenschaftliche Zukunftsforschung will – negativ formuliert – verhindern, dass Menschen und Gesellschaften von Veränderungen überrumpelt werden und – positiv formuliert – helfen, dass Menschen und Gesellschaften selbst zum Motor von Veränderungen werden. Wer die Zukunft gestalten will, muss wissen oder zumindest ahnen, wohin die Reise geht oder gehen kann. Dabei ist es nicht wichtig, ob das Zukunftsszenario in allen Punkten genau gezeichnet wird: Die Richtung muss präzise und verlässlich sein.

Welt im Wandel: Mensch im Mittelpunkt

Nicht modische Zeitgeistströmungen wie wellness, homing oder cocooning sind Megatrends, sondern große, grundlegende Entwicklungen, die mindestens zehn bis zwanzig Jahre richtungs- und zukunftsweisend sind. Zurzeit werden Mega- beziehungsweise Zukunftstrends durch einen dreifachen Wandel ausgelöst ("Mega-Megatrends" sozusagen):

Globaler Wandel.

Der Prozess der Globalisierung hat die Welt unvergleichlich wohlhabender gemacht, aber gleichzeitig viele weniger entwickelte Länder in noch größere Armut gestürzt. Es sind der Gegensatz von Wohlstand und Elend sowie die wachsende Ungleichheit in der Welt, die immer öfter globale Proteste auslösen.

Sozialer Wandel.

Das Interesse der Bürger verlagert sich: Weg von staatlichen Institutionen – hin zu Bürgerinitiativen und Nichtregierungsorganisationen für Umweltschutz und Menschenrechte, Entwicklungsländer und soziale Anliegen, Selbsthilfegruppen und Nachbarschaftsnetzwerke. Diese informellen Netzwerke ermöglichen einerseits neue Formen der Solidarität, sind aber andererseits weniger stabil und nicht auf Dauer angelegt.

Demografischer Wandel.

Langsam und leise breitet sich weltweit ein Prozess der Überalterung aus. Die Revolution auf leisen Sohlen bewirkt, dass sich etwa der Anteil der über 60-Jährigen in Bangladesch in den nächsten fünfzig Jahren fast versechsfacht. Immer mehr geburtenstarke Jahrgänge erreichen dann das Seniorenalter. Eine problematische Paradoxie zeichnet sich ab: Während die Industrieländer zuerst wohlhabend wurden und dann alterten, altern die Entwicklungsländer, bevor sie wohlhabend werden. Die tendenzielle Geriatrisierung der Welt kann in Zukunft zu globalen Verteilungskämpfen zwischen Jung und Alt, Arm und Reich führen.

Was bedeutet dies für das Zusammenleben und den Zusammenhalt der Menschen in naher Zukunft? Neben nachweisbaren Zukunftssorgen wie Armut, Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung sowie Zukunftshoffnungen wie Geld, Gesundheit und Geborgenheit zeichnen sich folgende Zukunftstrends ab:

  • Total digital – völlig normal: die folgenreiche Digitalisierung des Lebens;

  • Familie als Lebensversicherung: das Sozialkapital der Zukunft;

  • Leben ist die Lust zu schaffen: die junge Generation im Gleichgewicht zwischen Leistung und Lebensfreude;

  • Menschen wandern zum Wohlstand: Die Zukunft ist urban;

  • Frauen kommen mit Macht: Die Arbeitswelt wird weiblicher;

  • Re-Start mit 50: Die Wirtschaft braucht wieder ältere Arbeitnehmer;

  • Comeback mit 65: Zuverdienst statt Altersarmut;

  • Wahlverwandtschaften als soziale Konvois: Lebensbegleiter bis ins hohe Alter;

  • Gesundheitsorientierung als neue Religion: der Megamarkt der Zukunft;

  • Gut leben statt viel haben: Perspektivenwechsel in Zeiten globaler Krisen.

Das Wohlstandsdenken verändert sich. Die Menschen legen wieder mehr Wert auf nachhaltigen Wohlstand, der nicht nur von Konjunkturzyklen und Börsenkursen abhängig ist. Bis 2030 ändern sich die Lebensprioritäten der Bevölkerung. Dann wird Sicherheit wichtiger als Freiheit, Gesundheit wichtiger als Geld, Fortschritt wichtiger als Wachstum, Arbeitsplatzgarantie wichtiger als Einkommenserhöhung, Nachbarschaftshilfe wichtiger als Sozialamtshilfe, Generationenbeziehung wichtiger als Partnerbeziehung und Beständigkeit wichtiger als Beliebigkeit. Zugleich verstärkt sich die Suche nach Sinn, Halt und Heimat. Die Menschen interessieren sich wieder mehr für eine bessere Gesellschaft und wollen auch mithelfen, eine bessere Gesellschaft zu schaffen.

Im Unterschied zu Analysten und Trendforschern, die sich mit Stimmungsbildern begnügen, zeichnet sich die wissenschaftliche Zukunftsforschung vor allem durch das Qualitätsmerkmal der Überprüfbarkeit aus. Ihre Ergebnisse basieren auf sozialwissenschaftlichen Methoden wie Interview- und Umfragetechniken, Delphi- und Expertenumfragen. Das können Aussagen über Technikfolgenabschätzungen, über Ressourcenverbrauch und Umweltbelastungen, Forschungen zur Zukunft von Arbeit, Medien und Konsum oder Hinweise auf Einstellungs- und Verhaltensänderungen sein, die richtungweisend für künftige Lebensstile sind.

Zukunftstrends müssen mindestens ein bis zwei Jahrzehnte stabil sein, was sie grundsätzlich von Moden und Zeitgeistströmungen unterscheidet, die heute in und morgen schon wieder out sein können. Zukunftstrends auf der Basis von Zeitreihen zeichnen sich durch die Stetigkeit ihrer Entwicklung aus, was futurologische Aussagen verlässlich macht. Zukunftswissenschaft heißt: Zukunft durch Wissenschaft (future science). Über kritische Gegenwartsanalysen hinaus macht sie – wie jede Wissenschaft – Zukunftspotenziale sichtbar und leistet Zukunftsorientierungen, ohne deswegen gleich in Prognosewahn oder modischen Skeptizismus zu verfallen. So gesehen könnte jede Wissenschaft fast unbegrenzt innovativ und zukunftsorientiert sein – in ihren Ergebnissen, offenen Fragen und Lösungsansätzen. Eigentlich gibt es für die Wissenschaft nur eine Utopie: Das Bild einer Zukunft, in der es "allen besser und niemandem schlechter geht". Realistisch aber ist eine Zukunftsperspektive, in der die Gewinner ein bisschen weniger und die Verlierer ein bisschen mehr bekommen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Ernst Gehmacher, Report 1998. So leben wir in 30 Jahren, Stuttgart 1968.

  2. Václav Havel, Vorwort, in: Tomáš Sedláček, Die Ökonomie von Gut und Böse, München 2012, S. 9ff., hier: S. 10.

  3. T. Sedláček (Anm. 2), S. 14.

  4. Ebd., S. 400.

  5. Zit. nach: Ralf Grötker, Plus/minus ein Prozent, in: brand eins 11/2008, S. 40–46, hier: S. 42.

  6. Ullrich Fichtner/Alexaner Smoltczyk, Mein Gott, liegen wir richtig?, in: Der Spiegel vom 21.9.2013, S. 64–68, hier: S. 68.

  7. Zit. nach: ebd.

  8. Vgl. Robert M. Solow, Ökonomen sind auch nur Klempner, in: Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 27.11.2008, S. 27.

  9. Bundestagsdrucksache 11/8472, S. 38

  10. John Naisbitt, Megatrends. 10 Perspektiven, die unser Leben verändern werden, Bayreuth 1984, S. 353, S. 101. Siehe auch das Interview mit John Naisbitt in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  11. Matthias Horx, Future Fitness, Frankfurt/M. 2003, S. 9.

  12. Vgl. Horst W. Opaschowski, Wie leben wir nach dem Jahr 2000?, Hamburg 1987; ders., Generation @, Hamburg 1999; ders., Deutschland 2030. Wie wir in Zukunft leben, Gütersloh 20132.

  13. Hermann Lübbe, Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, Berlin–Heidelberg–New York 1990, S. 68.

  14. Vgl. Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt/M. 19972, S. 141.

  15. Hinzu kamen unter anderem auch Zukunftsstudien des Autors: Vgl. Horst W. Opaschowski, Arbeit. Freizeit. Lebenssinn. Orientierungen für eine Zukunft, die längst begonnen hat, Opladen 1983; ders., Wie leben wir nach dem Jahr 2000?, Hamburg 1987.

  16. Karlheinz Steinmüller, Zukunftsforschung in Europa. Ein Abriss der Geschichte, in: ders./Rolf Kreibich/Christoph Zöpel (Hrsg.), Zukunftsforschung in Europa, Baden-Baden 2000, S. 37–67, hier: S. 51.

  17. Eckard Minx, Heute über die Chancen von morgen entscheiden oder: Vom Navigieren in unbekannten Gewässern, in: ebd., S. 115–122, hier: S. 121.

  18. Vgl. Horst W. Opaschowski/Irina Pilawa, So wollen wir leben!, Gütersloh 2014.

  19. Vgl. Ipsos/Horst W. Opaschowski, Nationaler WohlstandsIndex für Deutschland (NAWI-D), Hamburg 2015.

  20. Vgl. Norbert Jegelka, Einleitung, in: Jörn Rüsen/Hanna Leitgeb/ders. (Hrsg.), Zukunftsentwürfe, Frankfurt/M.–New York 2000, S. 204–207, hier: S. 205.

  21. Peter Marcuse, Für eine Repolitisierung des städtischen Lebens, in: ebd., S. 241–246, hier: S. 246.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Horst W. Opaschowski für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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Dr. phil., geb. 1941; Sozial- und Zukunftswissenschaftler; bis 2006 Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg; bis 2010 Leiter der Stiftung für Zukunftsfragen; 2014 Mitbegünder des Opaschowski Instituts für Zukunftsforschung, Dreieichenweg 19, 21029 Hamburg. E-Mail Link: horst@opaschowski.de