Die letzten vergleichenden Überblicke über die Föderalismusforschung sind mittlerweile rund zehn Jahre alt. 2002 erschien das von Arthur Benz und Gerhard Lehmbruch herausgegebene Sonderheft der Politischen Vierteljahresschrift zum Föderalismus.
Die realweltlichen Veränderungen der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte, die sich auch in der Föderalismusforschung niedergeschlagen haben, lassen sich grob in vier Themenkomplexe gruppieren. Für die deutsche Föderalismusforschung von vordergründigem Interesse sind die drei Wellen der Föderalismusreform, die wesentliche föderale Institutionen und Regelkomplexe reformiert haben. Diese werden im ersten Abschnitt dieses Beitrags behandelt. Insbesondere ist hierbei festzuhalten, dass sich die normativen Orientierungen im Verlauf der einzelnen Reformschritte deutlich gewandelt haben, sodass sich in der Gesamtschau nicht eine lineare Fortentwicklung, sondern eher ein inkrementeller Prozess im Zick-Zack-Kurs zeigt.
Bei einem erweiterten geografischen Fokus zeigen sich seit der Jahrtausendwende gravierende Veränderungen im institutionellen Gefüge des europäischen Mehrebenensystems. Fragen danach, wie in diesem komplexen System Koordination und Entscheidungen erreicht werden können, wie politische Prozesse gesteuert werden und welche Steuerungsmechanismen dabei zum Einsatz kommen, widmet sich die Multi-level-governance-Forschung. Die Veränderungen des europäischen Mehrebenensystems und ihre Rezeption in der Föderalismusforschung stehen im Fokus des zweiten Abschnitts dieses Beitrags.
Auch in der vergleichenden Föderalismusforschung wird durch die Weiterentwicklung von der klassischen föderalen zur Mehrebenenperspektive die Anzahl und Vielfalt der in den Blick zu nehmenden Ordnungen zunehmend erweitert.
Die jüngste Entwicklung in der Föderalismusforschung schließlich lässt sich mit dem Oberbegriff der federal dynamics umschreiben.
Drei Wellen der Föderalismusreform in Deutschland
Deutschland gilt als einer der etablierten Föderalstaaten des Coming-together-Typus nach der Typologie von Alfred Stepan.
Nachdem mit der Wiedervereinigung gewissermaßen eine erdbebenartige Veränderung der föderalen Strukturen in Deutschland erfolgt war,
Die erste Phase erstreckte sich von der Einsetzung der ersten föderalen Reformkommission zur Reform der Bund-Länder-Beziehungen ("Föko I") 2003 bis zur Verabschiedung einer Reihe von verfassungsändernden Gesetzen 2006.
Getreu dem Motto "Nach der Reform ist vor der Reform" wurde bereits 2006 eine zweite Kommission zur Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehungen eingesetzt ("Föko II"), die von 2007 bis 2009 tagte und Vorschläge für weitere verfassungsändernde Gesetze erließ, die 2009 verabschiedet wurden.
Die immer noch ungelöste Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehungen bildet den inhaltlichen Bestandteil der dritten Reformwelle. Auf die Einsetzung einer dritten Reformkommission wurde dieses Mal jedoch verzichtet. Stattdessen werden seit Ende 2014 im Rahmen der etablierten Gremien der intergouvernementalen Beziehungen, namentlich in der Ministerpräsidentenkonferenz unterstützt durch die Finanzministerkonferenz, Verhandlungen für eine Reform der föderalen Finanzbeziehungen geführt, die – offiziellen Verlautbarungen zufolge – noch in der laufenden Legislaturperiode, also bis 2016, zum Abschluss gebracht werden soll.
Die drei Reformwellen bieten in ihrer Gesamtschau Einblick in die Dynamik eines etablierten föderalen Systems. In jeder Welle wurden unterschiedliche Inhalte unter verschiedenen ideologischen Vorgaben verhandelt. Zielte während der ersten Welle die Reform der Gesetzgebungskompetenzen noch auf die Verwirklichung eines stärkeren Wettbewerbsföderalismus, forderten die Länder mehr Autonomie und Subsidiarität, stand im Zuge der zweiten Welle die Schuldenbremse unter dem Diktat der deutschen Europapolitik und zielte auf Konsolidierung und Austerität. In der dritten Welle wird von den Ländern – entgegengesetzt zur ersten Welle – wieder mehr vertikale Solidarität eingefordert, was nicht erstaunt, wenn man berücksichtigt, dass explodierende Sozialkosten und eine drohende Schuldenbremse den Ländern ihre begrenzten finanziellen Handlungsmöglichkeiten deutlich vor Augen führen.
Dementsprechend fokussierte die wissenschaftliche Rezeption der Reform ebenfalls auf die verschiedenen Aspekte der jeweiligen Reformprozesse. Die normativen Prämissen, insbesondere das Für und Wider des Wettbewerbsföderalismus, wurden ausgiebig im Vorfeld der ersten Reformwelle diskutiert,
Schnittstellen von Europäischer Mehrebenen- und Föderalismusforschung
Ob die EU ein legitimer Untersuchungsgegenstand der Föderalismusforschung sei, war lange Zeit umstritten, da unklar war (und weiterhin ist), ob die EU ein Staatenbund ist, ein Föderalstaat oder ein Gebilde sui generis.
In institutioneller Hinsicht (polity) stellen sich Fragen nach der Allokation beziehungsweise Verlagerung von Kompetenzen zwischen den Ebenen. Lässt sich eine optimale Kompetenzverteilung theoretisch begründen? Wie lassen sich zentripetale und zentrifugale Dynamiken erklären und welche Folgen haben sie?
Hinsichtlich des Policy-Prozesses wird untersucht, wie in den Phasen des Policy-Zyklus Akteure verschiedener Ebenen zusammenwirken, wo welche Verantwortlichkeiten liegen und wie Implementationsmuster politikfeldspezifisch variieren.
Unter dem Politics-Aspekt schließlich wird einerseits untersucht, wie nationalstaatliche Akteure auf die Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene Einfluss nehmen.
Hinsichtlich aller drei Dimensionen – polity, policy und politics – bewirkte die europäische Wirtschafts-, Finanz- und Schuldenkrise ab 2008 einen deutlichen Veränderungsschub. Auf Polity-Ebene lässt sich eine (Re-)Zentralisierung von Kompetenzen hin zu den europäischen Institutionen (namentlich Kommission und Europäische Zentralbank) beobachten. Diejenigen Steuerungsinstrumente, die im Rahmen der MoK eingeführt worden waren (Policy-Dimension), wurden auf die nationale Haushalts- und Fiskalpolitik erweitert und mit größerer Verbindlichkeit ausgestattet. Die Verschärfung der europäischen Schuldenbremse im Rahmen des Fiskalvertrages sowie die Einführung des Europäischen Semesters und des Two-Pack infolge des reformierten Stabilitäts- und Wachstumspaktes bewirkten außerdem einen weiteren Schub an Zentralisierung nationalstaatlicher Strukturen (Politics-Dimension), vor allem zugunsten des Bundeskanzleramtes und des Bundesfinanzministeriums.
Insgesamt zeigt sich in der EU-Mehrebenenforschung und insbesondere in der Forschung zu multi-level governance eine starke Differenzierung der Fragestellungen und Erklärungsansätze, um der Komplexität des Forschungsgegenstandes gerecht zu werden, wohingegen die Großtheorien tendenziell an Erklärungskraft einbüßen.
Dezentralisierungs- und Territorial-Politics-Forschung
Die Vielfalt der Staatsarchitekturen, die politische Macht territorial aufteilen, hat in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zugenommen. In Westeuropa hat sich ein Großteil der traditionell zentralstaatlich aufgebauten Staaten regionalisiert und wesentliche politische Kompetenzen an historisch bestehende regionale Einheiten abgegeben. Der Prozess war teilweise durch ein Bemühen um Legitimationszugewinn für die bestehenden politischen Strukturen getrieben, teilweise durch die Programmatik der EU für ein "Europa der Regionen" befördert und führte letztlich in sehr unterschiedlichem Ausmaß zu einer Übertragung von Kompetenzen.
Zwischen der Hoffnung auf und dem Zweifel an der Leistungsfähigkeit föderaler Ordnungsmuster, um vielfältige Gruppen in multinationalen oder gespaltenen Gesellschaften zu integrieren,
Eine besondere Aufmerksamkeit kommt in jüngerer Zeit Überlegungen zu nicht-territorialen Formen der Akkommodierung zu. Folgt man Will Kymlickas Unterscheidung zwischen nationalen, indigenen und migrierten Minderheiten,
Dezentralisierungsprozesse und Forderungen nach mehr regionaler Autonomie werden in den meisten Staaten maßgeblich von politischen Parteien beeinflusst. Regionalistische oder nationalistische Parteien können zentrifugale Tendenzen erzeugen oder verstärken, indem sie beispielsweise partikularistische Gruppenforderungen artikulieren oder versuchen, mit separatistischen oder xenophoben Wahlprogrammen Stimmen zu gewinnen. Ob Parteien im Sinne von policy seekers eher Sprachrohre von Bedürfnissen nach regionaler Autonomie oder nach Abspaltung sind, oder ob sie im Sinne von vote seekers auf eine Erfolg versprechende Programmatik mit aufspringen oder diese sogar erst selber schaffen, ist empirisch häufig nicht klar zu trennen.
Umgekehrt können vertikal integrierte Parteiensysteme zentrifugale Tendenzen in Föderalstaaten abfedern, indem sie über die Regionalorganisationen hinweg nationale Programmatiken propagieren oder separatistischen Parteien ernstzunehmende gemäßigte Alternativen entgegensetzen.
Territoriale Dynamiken
Aus der Beobachtung und Analyse dieser multiplen Veränderungsbewegungen folgte die Einsicht, dass Wandel, Kontinuität und Stabilität eng zusammenhängen. Mit dem Ziel, diese Zusammenhänge besser zu verstehen, hat sich als jüngere Forschungsrichtung die Untersuchung territorialer Dynamiken herausgebildet.
Diese Veränderungen können sich, wie oben beschrieben, zum einen auf die institutionelle Ordnung föderaler Architekturen beziehen. Kompetenzallokationen, Vetopositionen, Beteiligungsverfahren oder garantierte Teilhaberechte können auf Verfassungs- oder subkonstitutioneller Ebene verankert sein und sind dementsprechend mehr oder weniger einfach zu verändern. Vergleichende Untersuchungen zu Verfassungsreformen haben aber gezeigt, dass Föderalstaaten hier nicht veränderungsresistenter sind als Zentralstaaten.
Veränderungen beziehen sich zum zweiten auf Verschiebungen von Machtpositionen, die formaler oder informaler Art sein können.
Neben Fragen nach Ursachen und Formen von Veränderung wird zum einen nach der Rolle von verschiedenen Akteuren wie Parteien, Verfassungsgerichten oder der Bevölkerung gefragt, die Reformen anstoßen oder verhindern können, zum anderen nach Konsequenzen der Veränderungsprozesse für die Stabilität von Systemen und auch für ihre Problemlösungs- und Entscheidungsfähigkeit. Auch die Dauerhaftigkeit von Reformen hängt wiederum wesentlich von den Akteuren ab, inwiefern diese die Reformergebnisse akzeptieren und im politischen Prozess umsetzen.
Theoretische Ansätze zum Verständnis und zur Erklärung von Dynamiken speisen sich aus unterschiedlichen Quellen: Kulturalistische Theorien betonen die Bedeutung einer föderalen Kultur und eines föderalen Selbstverständnisses der Gesellschaft, um dynamische Veränderungen zu verstehen;
Mit der Entwicklung einer Theorie föderaler Dynamiken geht schließlich auch die Einsicht einher, dass Komplexität von Strukturen und Prozessen nicht mehr von vornherein als mehr oder weniger unabänderliches Übel angesehen wird. Vielmehr wird zunehmend erkannt, dass reale Verflechtungen nur durch komplexe Strukturen und Prozesse angemessen verarbeitet werden können. Zwar wirken Verflechtungen, Abhängigkeiten und Vetopositionen bremsend im Politikprozess. Komplexe Strukturen bieten aber auch ein Konfliktlösungspotenzial, wenn Akteure diese strategisch zu nutzen wissen. Zukünftige Forschung sollte genauere Einsichten über die Mechanismen erbringen, wie diese Konfliktlösungspotenziale in verflochtenen Strukturen – beispielsweise über Koppelgeschäfte oder Ausgleichszahlungen – strategisch eingesetzt werden. Dies gilt einerseits für Parlamente, andererseits für Ministerialbürokratien in intergouvernementalen Beziehungen. Schließlich sorgen Verflechtungen für ein hohes Maß an Konfliktbearbeitung und können somit langfristig dazu beitragen, den gesellschaftlichen Frieden zu wahren. In der positiveren Neubewertung von Verflechtungsstrukturen werden daher nicht nur Effizienz-Überlegungen berücksichtigt, sondern gleichermaßen Aspekte wie demokratische Legitimation und Minderheitenschutz als normative Grundprämissen.