Welcher Begriff von Föderalismus erfasst unsere politische Realität am zuverlässigsten? Gegenwärtig dominiert eine Konzeption, die eng an die Normen der westlichen Moderne gebunden ist: Unter Föderalismus wird in Wissenschaft und Praxis zumeist ein institutionelles Element des demokratischen Verfassungsstaates verstanden, das angesichts von Diversität Freiheit, Gleichheit und Minderheitenrechte garantiere. Der Begriff ist aber stärker umkämpft, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Während er etwa in der Bundesrepublik Deutschland ein konstitutives Verfassungsprinzip bezeichnet, steht er in den Vereinigten Staaten für den anhaltenden Kompetenzkampf von Zentral- und Gliedstaaten. Und auf der EU-Ebene ist er bei jenen Mitgliedsstaaten, die einen "Superstaat" fürchten, längst zum verminten "F-Wort" avanciert.
Die Rede vom Föderalismus umfasst also mehr als einen Institutionenkatalog zur Kompetenzaufteilung zwischen zwei (oder mehr) Regierungsebenen.
Angesichts dieser konzeptionellen Vielfalt und Unbestimmtheit stellt sich die Frage, an welchem Begriff des Föderalen sich die politikwissenschaftliche und politische Sprache aktuell orientiert – und orientieren soll: Welchen Begriffskonventionen folgen gegenwärtige Verständnisse des Föderalen? Und welche Vor- und Nachteile haben diese Begriffe bei der Erfassung der politischen Realität? Die folgenden Überlegungen skizzieren den begrifflichen Status quo, gehen seinen begriffshistorischen Hintergründen nach und fragen nach seinen Grenzen in der Beschreibungsfähigkeit politischer Realität sowie nach möglichen Alternativen.
Verfassungsstaatlich und demokratisch?
In den Politikwissenschaften hat sich jüngst ein Interesse an föderalen Gebilden verstärkt, das mehrheitlich eng an Normen der westlichen Moderne und des westfälischen Staatensystems gebunden ist. Zunächst fällt auf, dass sich die Forschung anhaltend an dauerhaft verfasster Staatlichkeit orientiert: Im Fokus der einschlägigen Forschung
Nicht minder auffallend ist der zeitliche Untersuchungsschwerpunkt der aktuellen Föderalismusforschung. Selbst im Rahmen historischer und komparativer Darstellungen wird wiederholt behauptet, beim Föderalen handele es sich um eine politische Erfindung der Moderne, jedenfalls aber der Neuzeit:
Brisant ist schließlich der Fokus auf das letztgenannte Element, also die demokratische Verfasstheit. Grundsätzlich ist der Effekt föderaler Institutionen auf demokratische Prozesse ambivalent – so laufen föderale Verfahren der Umsetzung des Mehrheitswillens tendenziell zuwider, und in der politischen Realität sind Gliedstaaten in vielen föderalen Systemen in der Lage, gesamtstaatliche Mehrheitsentscheidungen zu blockieren.
Die Annahme, das Föderale sei durch einen besonderen demokratischen "Geist"
Diese Idee des Föderalen, die zentral auf Staatlichkeit, Gleichheit und demokratische Werte abhebt, ist institutionenanalytisch wie normativ leistungsfähig, blendet allerdings – neben so manchem gegenwärtigen empirischen Befund
Begriffswege zum Bundesstaat
Die Konjunktur dieses Föderalismusbegriffs kann einerseits als Antwort auf gegenwärtige politische Herausforderungen verstanden werden: Die Fülle an alten und neuen Föderalstaaten und die Festigung des demokratischen Paradigmas im 20. Jahrhundert haben den Bedarf an institutionenfokussierter Forschung zweifellos erhöht. Sie ist andererseits aber auch Resultat langfristiger begrifflicher Pfadabhängigkeiten, die alte Begriffsverständnisse in radikal gewandelte politische Situationen weitertragen. Dies wird etwa im Fall der begriffsgeschichtlichen Ausblendung konföderaler Arrangements sichtbar.
Bis in die Gegenwart wirkt die begriffliche Wende, die die Autoren der "Federalist Papers" in der Verfassungsdebatte der Vereinigten Staaten eingeleitet haben. Innerhalb der 1788 und 1789 veröffentlichten Streitschriften berufen sich die Befürworter eines engeren Bundes – allen voran James Madison – auf die Überlegenheit des federalism, verstanden als zentralisiertes Regime von Gliedstaaten gegenüber der bestehenden Konföderation, also der bisherigen politisch fragmentierten Ordnung. Hierfür verwenden sie eine Reihe historischer Beispiele, darunter nicht zuletzt antike griechische Zusammenschlüsse von Stadtstaaten.
Ihnen kommt ein besonderer Stellenwert zu: Gerade im 18. Artikel, der ganz den griechischen Bundarrangements bis zum dritten Jahrhundert v. Chr. als "lehrreiche Analogie zur derzeitigen Konföderation"
Die Stigmatisierung antiker Bünde durch die amerikanischen Gründerväter resultiert schließlich in einem Rundumschlag: Die historischen Beispiele in den "Federalist Papers" diskreditieren das Konföderale insgesamt. Obgleich der Konflikt über das Verhältnis von Bund und Gliedstaaten in den USA selbst erst im Bürgerkrieg kulminiert, hat diese Sichtweise nachhaltig zur etwa von Alexis de Tocqueville wirkungsvoll verstärkten Behauptung vom Föderalismus als moderner Erfindung beigetragen:
Auswirkungen dieser Intervention sind unter anderem in der deutschen Begriffsgeschichte lokalisierbar. Hatten die US-Gründerväter den Föderalismus als moderne Erfindung modelliert, so greift die deutsche Einigungsdebatte massiv föderale Überlegungen des amerikanischen Vorbilds auf und treibt sie durch die verfassungstheoretische Gegenüberstellung von Bundesstaat und Staatenbund weiter.
Die beträchtliche föderale Ideendiversität im Heiligen Römischen Reich,
Als Antwort kristallisiert sich zur Jahrhundertmitte die Idee eines nationalen, demokratischen Bundesstaates heraus. Sie prägt den letztlich scheiternden Verfassungsentwurf der Paulskirche, aber auch die Reichsgründung von 1871, und folgt jenem Prinzip, das der Historiker Georg Waitz – seinerseits glühender Anhänger des US-Föderalismus – einflussreich als "monarchischen Bundesstaat" bezeichnet hat. Föderalismus als "zwiefache Organisation des Volkes zum Staate"
Mit der Errichtung des kleindeutschen Norddeutschen Bundes und des Kaiserreiches verfestigt sich die Idee, dass eine aus Teilgliedern bestehende Ordnung verfassungsmäßig verbürgt und in staatlicher Form eng integriert sein müsse. Der Bundesstaat, dessen Zentrum über die maßgebliche "Kompetenzkompetenz" (so die Wortschöpfung des Rechtshistorikers Hugo Böhlau) verfüge, ist Fluchtpunkt dieser Überlegungen; andere Modelle werden meist als wenig relevante Übergangsformen abgewertet.
Angetrieben von verfassungstheoretischen Debatten gewinnt somit im 19. Jahrhundert die Frage der eindeutigen Souveränitätsverortung als Merkmal stabiler Staatlichkeit an Bedeutung: Dreh- und Angelpunkt der Debatte, die in der Gründung des Kaiserreiches als "monarchischer Bundesstaat" ihre realpolitische Erfüllung findet, bleibt das Verhältnis von Souveränität und Staat. Eine vormoderne Vorgeschichte des Föderalen oder lose, großräumige Konföderationen werden weitgehend ausgeblendet.
Andere Bünde: Ungleich, undemokratisch, schwach?
Diese begriffsgeschichtlichen Entwicklungsstationen entspringen konkreten historischen Herausforderungen: Diskreditierten die amerikanischen Gründerväter lose Konföderationen, so taten sie dies im Interesse ihres Verfassungsprojektes; die Fokussierung der deutschen Debatte auf den Staat war Resultat des anhaltenden Einigungsdefizits in einem zunehmend nationalstaatlich geprägten Europa.
Was aber sind die Implikationen dieser historisch gewachsenen Zuspitzung des Föderalismusbegriffs auf den modernen demokratischen Verfassungsstaat? Das bislang umrissene Verständnis des Föderalen stößt schnell an Grenzen, wenn es um die Beschreibung einer politischen Realität geht, die zwar von Elementen geteilter Herrschaft geprägt ist, aber längst nicht immer den Geboten von Staatlichkeit, Gleichheit und Demokratie folgt. Ein Blick auf die Empirie jenseits des Bundesstaates – also abseits "klassisch" föderaler Ordnungen wie der Vereinigten Staaten, der Schweiz oder der Bundesrepublik Deutschland – kann dies gerade für den deutschen Kontext veranschaulichen.
Erstens nämlich ist die politische Realität der Moderne von Ordnungen mit ausgeprägten Machtasymmetrien durchzogen, die dennoch signifikante föderale Elemente aufweisen. Wie sind beispielsweise die diversen deutschen Verfassungsarrangements des 19. Jahrhunderts einzuordnen, die sämtlich von einer Hegemonialstellung Preußens geprägt sind? Der Machtüberhang Preußens im Kaiserreich, der sich nicht nur informell, sondern auch im verfassungsmäßigen Institutionendesign äußert – also etwa in der Personalunion von Preußenkönig und Kaiser sowie in Preußens Vetorecht gegen jegliche Verfassungsänderungen – verletzt das föderale Gleichbehandlungsgebot und letztlich auch den Schutz der kleinen Teilstaaten des Reiches. Preußen ist nicht nur entsprechend seiner Größe und Bedeutung stärker in den Verfassungsgremien repräsentiert, sondern kann auch den Kurs des Reiches anhaltend dominieren. Zwar läge es also nahe, die föderale Selbstdarstellung des Reiches für reine Rhetorik zu halten, doch grundlegende Elemente des Föderalen – also verbürgte Kompetenzverteilung und Repräsentationsmechanismen im Mehrebenensystem – haben etwa den Historiker Thomas Nipperdey veranlasst, von einem "hegemonialen Föderalismus" zu sprechen.
Auf der anderen Seite ist ein bestimmtes Maß an Asymmetrie einer Reihe von "typischen" föderalen Systemen – auch etwa der Bundesrepublik Deutschland oder Kanada – eingeschrieben. Zahlreiche moderne Bundesstaatsverfassungen sind von dem Versuch geprägt, Unterschieden in Größe, Bevölkerungszahl oder Identitätsmerkmalen zwischen den Gliedstaaten durch Sonderrechte oder abgestufte Repräsentationsmechanismen gerecht zu werden. Wo verläuft somit die Grenze zwischen föderalismuskonformer Asymmetrie und einem den Gleichheitsgrundsatz verletzenden Machtgefälle?
Zweitens – und hiermit verbunden – geraten jene Arrangements aus dem Fokus der Analyse, die nicht- oder vordemokratisch, aber dennoch von einer Kompetenz- und Machtteilung zwischen Gliedern und Zentralregierung geprägt sind. Dies gilt gleichermaßen für den Föderalismus im Kaiserreich – er "fixierte das konstitutionell-monarchische System, also den Antiparlamentarismus", forcierte aber auch eine asymmetrische Balance zwischen Reich und Gliedern
Das Beispiel der Irokesen ist in einer weiteren Hinsicht aufschlussreich – denn drittens ist gerade die Vormoderne politisch von solchen Ordnungen geprägt, die nicht nur asymmetrisch und vordemokratisch, sondern häufig territorial nicht vollends integriert sind. Die von den "Federalist Papers" geschmähten griechischen Städtebünde verfügten nicht über klar begrenzte Territorien, aber wie der Irokesenbund teilweise über ausgeklügelte Repräsentationsmechanismen: Historisch ist eine ganze Reihe pluraler, föderaler, durchaus auch auf Dauerhaftigkeit angelegter Zusammenschlüsse beschreibbar, die sich kontextbedingt nicht in das moderne Staats- und Souveränitätsparadigma fügen.
Implikationen und Alternativen
Dass der etablierte Föderalismusbegriff eine sehr begrenzte empirische Reichweite hat, ist in zweierlei Hinsicht folgenreich. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive erscheint es zunächst problematisch, wenn politische Beschreibungskategorien nur eine sehr schmale Palette an Phänomenen erfassen – und insbesondere, wenn diese Einschränkung epochaler Natur ist.
Hieraus folgt aber nicht allein eine notwendige kritische Haltung der Wissenschaft gegenüber allzu engen Begriffsprägungen. Politisch wichtiger ist es, jene Potenziale zu erschließen, die sich erst durch einen Blick in die Denkbarkeits- und die realen Möglichkeitsräume des Politischen – hier also: des Föderalen – auftun. Insbesondere in der gegenwärtigen Phase der Korrosion des Staatsmodells könnte sich eine Erweiterung des politischen Reflexionsraumes lohnen. Gerade angesichts der Frage transnationaler Integrationsmöglichkeiten bedarf die Politik nämlich neuer Lösungsansätze: Dies gilt für Entwürfe globaler und also nicht im engen Sinne staatlicher demokratischer Föderationen ebenso wie für das weiterhin bedeutendste und längst nicht abgeschlossene föderale Experiment: die EU. Jene Phänomene, die von gängigen, auf die Moderne beschränkten Kategorien ausgeblendet werden, könnten sich als nützliche Bestandteile des historischen Archivs erweisen und dem Laboratorium der Politik zugeführt werden.
Inwieweit kann beispielsweise die Reflexion über die Gestaltung der EU von innovativen Begrifflichkeiten profitieren? "Der staatsanaloge Nichtstaat ist in erster Linie ein bundesstaatsanaloger Nichtbundesstaat" – so pointiert der Jurist Christoph Schönberger die oben umrissene Staatsorientierung des Föderalismusbegriffs, gerade wenn es um die Beschreibbarkeit der EU geht.
Derartige Begriffsexperimente werden in Zukunft vonnöten sein, wenn es darum geht, politische Innovation mit vergangenen Konstellationen verknüpfbar zu machen und daraus Synergien zu gewinnen. Dies muss nicht auf Kosten der etablierten Forschung zu demokratischen föderalen Staaten geschehen: Im idealen Fall ist das verfügbare Begriffsrepertoire in der Lage, an gegenwärtigen wissenschaftlichen und politischen Erfordernissen zu wachsen und den eigenen Blick laufend für Ideen und Experimente jenseits des Mainstreams zu schärfen.