Während sich in den vergangenen Jahrzehnten die Lebensbedingungen für Hirtennomaden infolge offener politischer Diskriminierung und struktureller Benachteiligung, von Landkonflikten, sich wandelnden ökonomischen Rahmenbedingungen und des Klimawandels weltweit verschlechtert haben, entwickelte sich der Nomadismus im Globalen Norden – und insbesondere in (West-)Europa – im selben Zeitraum zu einem wichtigen Referenzpunkt. In zahlreichen Diskurs- und Praxiskontexten (post)industrieller Gesellschaften, in denen Mobilität eine herausgehobene Rolle spielt, wird heute emphatisch Bezug auf "das Nomadische", "den Nomaden" oder "Nomadismus" genommen.
Eingeführt von den französischen Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari in den 1980er Jahren,
In all diesen Fällen ist ohne Zweifel ein hohes Maß an Mobilität im Spiel. Doch welche Praktiken und Absichten, konzeptionellen Vorstellungen und politischen Bewertungen verbergen sich hinter den jeweiligen Anrufungen des Nomadischen? Ich greife in diesem Beitrag "Nomadismus" im Sinne der Kulturwissenschaftlerin Mieke Bal als "wandernden Begriff" (travelling concept) auf und spüre ihm in ausgewählten Diskurs- und Praxiskontexten nach. Für Bal sind Begriffe "niemals bloß deskriptiv (…), niemals unschuldig", sondern "programmatisch und normativ".
Ausgehend von konzeptionellen Überlegungen, die aus der empirischen Erforschung nomadischer Lebensweisen entwickelt wurden, wende ich mich zwei eng miteinander verknüpften Diskurs- und Praxisbereichen zu, die einen zentralen Beitrag zur Popularisierung des Nomadischen im Globalen Norden geleistet haben: Kulturtheorie und Kunst. Der darauffolgende Abschnitt wirft einen Blick darauf, wie sich Mobilität für Künstlerinnen und Künstler im Alltag gestaltet. Im Anschluss an diese Suchbewegungen wird schließlich die analytische und politische Tragfähigkeit des Begriffs in Bezug auf Mobilität in Europa hinterfragt: Inwieweit lassen sich Mobilitätsmodi, -ursachen und -erfahrungen der Milieus, die sich als "neonomadisch" apostrophieren, mit denen nomadisch lebender Gruppen vergleichen? Welche Aspekte werden ausgeblendet, wenn wir im Zuge der Globalisierung aufgekommene hochmobile Lebens- und Arbeitsarrangements durch die nomadische Brille betrachten?
Konzeptionelle Ausgangspunkte der empirisch orientierten Nomadismusforschung
Für die empirische Forschung zum Nomadismus, die vorwiegend von Anthropologen und Geografinnen im Rahmen ethnografischer Landzeitstudien verfasst wurde, stellt dessen Konzeptualisierung eine der zentralen Grundsatzfragen dar. Der vom griechischen nomás ("weidend umherziehend") abgeleitete Begriff "Nomade" ist keine Eigenbezeichnung, sondern wurde als Sammelbegriff von Außenstehenden wie Staatsvertretern, Missionaren und Forschenden geprägt. Die betreffenden Gruppen selbst bezeichnen sich meist nach ihrem Familienverband, ihrem Herkunftsgebiet oder ihrer Tätigkeit.
Forscher und Expertinnen aus relevanten Praxisfeldern beziehen heute neben Hirtennomaden indes auch mobile Sammler und Jäger sowie die sogenannten Dienstleistungsnomaden oder peripatetische Minderheiten mit ein. Mit letzteren Begriffen werden seit den späten 1970er Jahren mobile Gruppen bezeichnet, die ihren Lebensunterhalt mit hochspezialisierten Dienstleistungen wie Unterhaltung, handwerklichen oder rituellen Tätigkeiten oder dem Handel mit besonderen Gütern verdienen.
Ausgehend von dieser Definition möchte ich hier vier ineinandergreifende analytische Parameter vorschlagen, die sowohl eine differenzierende Perspektivierung für die empirische Untersuchung mobiler Arbeits- und Lebensarrangements erlauben als auch geeignet sind für eine kritische Ausleuchtung der Theoriefigur des Nomaden und dessen begrifflicher Metamorphosen im Kontext postindustrieller Gesellschaften: erstens Mobilitätsmuster und -modi; zweitens Wirtschafts- und Subsistenzweisen; drittens gruppeninterne Sozialität und viertens Beziehungen zur Umgebungsgesellschaft, sowohl unmittelbar auf lokaler Ebene, als auch im Hinsicht auf staatliche Akteure und Institutionen.
Kulturtheoretische und künstlerische Anrufungen des Nomadischen
Als theoretische Figur wurde der Nomade von Gilles Deleuze und Felix Guattari in ihrem 1980 erschienenen Traktat "Mille Plateaux" ("Tausend Plateaus") eingeführt.
Der Kulturwissenschaftler Christopher L. Miller kommt in seiner Analyse der Werke, auf die Deleuze und Guattari sich in "Tausend Plateaus" beziehen, zu einem ähnlichen Schluss. Die zitierten Studien sind vorwiegend von westlichen Denkern und Schriftstellern verfasst, die zumeist in stark romantisierender, unsystematischer Art und Weise über nomadische Gruppen reflektieren. Die wenigen empirisch basierten Studien, auf die Bezug genommen wird, sind wiederum stark von den kolonialen Rahmenbedingungen und Perspektiven geprägt, in deren Kontext sie realisiert wurden.
Die positive Rezeption des Nomaden von Deleuze und Guattari ist weitaus wirkmächtiger. Autorinnen und Autoren wie die feministische Philosophin Rosi Braidotti, der Medientheoretiker Vilém Flusser oder der Literaturtheoretiker Michael Hardt und der Politologe Antonio Negri haben in den vergangenen Jahrzehnten im Anschluss an Deleuze und Guattari maßgeblich zur Kanonisierung der nomadischen Figur in Kulturtheorie und politischer Theorie beigetragen, wobei sie Aspekte wie Kosmopolitismus, Nonkonformismus und Freiheit in ihren Adaptionen noch stärker hervorheben.
Zur gleichen Zeit trat der Nomade zunehmend in einem außeruniversitären Kontext in Erscheinung – der Kunstwelt. Befördert von Kuratoren, Kunstwissenschaft und Kunstkritik hat sich der Nomade hier seit den 1980er Jahren fest etabliert.
Dank zweier Faktoren, die außerhalb der Kunst liegen, hat das nomadische Dispositiv weiter Fahrt aufgenommen. Zum einen haben Ökonomen Künstler – beziehungsweise die sogenannte creative class – aufgrund ihrer hohen Risikobereitschaft, Flexibilität und kosmopolitischen Einstellung inzwischen als Vorreiter des postfordistischen Wirtschaftsmodells entdeckt.
Abgesehen von Autoren wie dem Ökonomen Richard Florida, denen harte Zahlen wichtiger sind als komplexe kulturtheoretische Konzepte, beziehen sich fast alle Mitgestalter des nomadischen Dispositivs – sei es in Kunst, Wirtschaft oder den Mobility Studies – auf Deleuze und Guattari als zentralen theoretischen Referenzpunkt. Als eindeutig positiv konnotierte Figur verkörpert ihr Nomade die Verbindung dreier Aspekte: erstens Freiheit und Unabhängigkeit, zweitens Nonkonformismus und Avantgarde (oder zumindest Fortschritt) und drittens hochfrequentes Reisen über weite geografische Distanzen.
Künstlermobilität: Phänomenologischer Reality Check
Zu den besonders enthusiastischen Wahlverwandten des Nomaden gehören Künstlerinnen und Künstler im Globalen Norden, insbesondere in der EU. Deren mobile Lebens- und Arbeitsarrangements sollen im Folgenden entlang der eingangs angeführten analytischen Parameter – Mobilitätsmuster und -modi, Ökonomie und Arbeitsorganisation, soziale Beziehungen – näher betrachtet werden.
Auf struktureller Ebene eröffnet die EU durch die garantierten Rechte auf mobile Freizügigkeit und künstlerische Freiheit sowie die im Vergleich zu anderen Weltregionen großzügige finanzielle Kulturförderung den größten Möglichkeitsraum – zumindest für diejenigen Kulturschaffenden, die über die Staatsangehörigkeit eines EU-Staates oder ein permanentes Aufenthaltsrecht innerhalb der EU verfügen.
Gehen wir von der strukturellen Ebene auf die Ebene der individuellen künstlerischen Trajekte (Fahrten), so weisen diese meist einen hohen Grad an Asymmetrie, Unplanbarkeit und Fragmentierung auf, sowohl in Bezug auf ihre räumliche als auch auf ihre zeitliche Dimension. Insbesondere die Trajekte freischaffender Künstler richten sich danach aus, wo sie Finanzierungsmöglichkeiten für ihre Arbeit finden. Weil sich ihre Verdienst- und Präsentationsmöglichkeiten – Zuschauer, Kulturinstitutionen, professionelle Netzwerke und relevante Marktakteure – meist in urbanen Zentren befinden, bewegen sie sich überwiegend zwischen großen Städten und sind dafür auf den Transport per Zug und Flugzeug angewiesen.
Künstlerinnen und Künstler reisen in der Regel alleine, als Freischaffende, oder auf Vertragsbasis als Teil eines künstlerischen Ensembles, und nicht mit ihren Familien, geschweige denn in einem erweiterten Familienverband. Für viele stellen die hohen Mobilitätsanforderungen daher eine große Herausforderung für ihre engeren sozialen Beziehungen dar. Für die Dauer eines Projekts oder einer residency bilden sich häufig "temporäre Gemeinschaften". Der hohe Grad an Internationalität, der künstlerische Kontexte prägt und die große Intensität, mit der dort in der Regel gearbeitet wird, haben zur Folge, dass diese häufig die Form eines Paralleluniversums annehmen. Dieses ist zwar international bestens vernetzt, lässt jedoch außer bei längerfristig angelegten, ortsbezogenen Projekten relativ wenig Raum für den Kontakt mit der lokalen Umgebung und Menschen außerhalb des Kunstbetriebs.
Zur analytischen und politischen Tragfähigkeit des Nomadismus-Begriffs
Der Nomade ist im Globalen Norden als Mobilitätsfigur so beliebt wie nie zuvor, und sein Erfolgszug wird ohne Zweifel noch eine Weile anhalten. Als Referenz für die kritische Auseinandersetzung mit den komplexen Mobilitätsdynamiken des 21. Jahrhunderts wie auch als subversive Denkfigur hat er meiner Meinung nach ausgedient.
Der phänomenologisch orientierte Blick auf die mobilen Arbeits- und Lebensarrangements von nomadischen Gruppen und Künstlerinnen und Künstlern (die hier exemplarisch für mobile Hochqualifizierte insgesamt stehen) zeigt, dass diese in jedem relevanten Parameter weit voneinander abweichen oder sich sogar diametral gegenüberstehen. Dies wird bereits beim Blick auf die unterschiedlichen Mobilitätsmuster und -modi deutlich. Die zyklischen Bewegungen von Hirtennomaden, die sich per Pick-up, Schneemobil oder reitend im Tempo ihrer Tiere fortbewegen, haben wenig zu tun mit den Langstreckenreisen zu den diversen Destinationen, auf denen sich "neue Nomaden" per Bahn oder Flugzeug transportieren lassen. Hinsichtlich ökologischer Aspekte ist die Ungleichheit zwischen beiden Gruppen besonders frappierend – tragen doch die frequent flyers mit ihrem großen CO2-Fußabdruck nicht unwesentlich zum Klimawandel bei, der die Lebensgrundlage vieler Hirtennomaden bedroht.
Des Weiteren bestehen große Unterschiede in Bezug auf Sozialgefüge und Vergemeinschaftung. Hirtennomaden können ihre mobile Lebensweise nur in Gemeinschaft praktizieren, weil Arbeits- und Ressourcenteilung eine Grundvoraussetzung ist, um in der harschen Umgebung, in der sie sich bewegen, überleben zu können. Der "neue Nomade" (der im Deutschen übrigens fast immer nur in der maskulinen Form auftaucht) hingegen reist alleine durch die Welt. Mobilität mag hier zwar zu individueller Selbstverwirklichung führen, sie erschwert aber zugleich, langfristige soziale Nahbeziehungen aufrechtzuerhalten, und geht, trotz der temporären Wahlfamilien, denen man sich unterwegs vielleicht anschließt, mit Vereinzelung und oft auch mit Einsamkeit einher.
Wer privilegierte Mobilität im Globalen Norden als "nomadisch" bezeichnet, trägt somit analytisch nichts zu einem differenzierten Verständnis mobiler Phänomene und Erfahrungen bei. Stattdessen wird dadurch die Verschleierung beziehungsweise Ausblendung der enormen Machtunterschiede zwischen beiden Gruppen befördert. Während nomadische Gruppen in den meisten Ländern auch heute noch als rückständige Störenfriede angesehen werden, die die öffentliche Ordnung bedrohen, genießen mobile Hochqualifizierte im Globalen Norden hohe soziale Anerkennung und politische Unterstützung als Vorreiter der globalisierten Weltgesellschaft und -wirtschaft. Während die einen also aufgrund ihrer Mobilität mit offener Diskriminierung und struktureller Benachteiligung konfrontiert sind,
Selbstverständlich lassen sich diese Aspekte ausblenden, um den Nomaden als Denkfigur in einem ahistorisch, entpolitisierten Theoriehabitat zu bewahren und in Dienst zu nehmen. Doch wieweit trägt dies zum heutigen Zeitpunkt noch? Deleuze und Guattari haben ihren Nomaden einst als subversive Figur in Opposition zum hegemonialen (französischen) Nationalstaat entworfen. Das ist inzwischen fast vierzig Jahre her. Als zentraler Referenzrahmen und Reibungspunkt hat der Nationalstaat im Zuge von Globalisierung, europäischer Integration und Neoliberalisierung seither viel von seiner damaligen Macht und Bedeutung eingebüßt. Zugleich haben Grenzüberschreitung, Subjektivierung, Flexibilität und Mobilität ihr subversives Potenzial verloren und sind zur gesamtgesellschaftlichen Norm geworden.
Der Theorienomade leistet heute keinen Widerstand mehr, er schwimmt mit dem Strom beziehungsweise diesem voraus. Mir scheint es daher an der Zeit, sich von ihm als Projektionsfläche und Leitfigur zu verabschieden und stattdessen die Aufmerksamkeit auf die Entwicklung neuer theoretischer Zugänge, konzeptioneller Kategorien und differenzierender Begrifflichkeiten zu richten. Die empirisch fundierte Nomadismusforschung kann uns dabei helfen, den konzeptionellen Blick für die komplexen Zusammenhänge zwischen Mobilität, Ökologie, Ökonomie, Raumpolitik und Sozialgefüge zu schärfen. Eine differenzierende Mobilitätsforschung des 21. Jahrhunderts muss in ihrer Theoriebildung und empirischen Ausrichtung unterschiedliche mobile Realitäten berücksichtigen und den Blick gezielt auf Ungleichheiten richten, die die Mobilität einzelner Menschen oder Gruppen beeinflussen beziehungsweise durch Mobilität entstehen.