Kaum ein Staat wird so ostentativ mit Nomadismus assoziiert – ob in Filmen, Bildbänden, bei Fotoausstellungen oder auf der Internationalen Tourismusbörse, auf der die Mongolei im März 2015 mit dem Slogan "Nomadic by Nature" als offizielles Partnerland auftrat – Mongolen gelten als Nomaden par excellence. Es mag daher überraschen, dass diejenigen, die tatsächlich von mobiler Weidewirtschaft leben, sich selbst nicht dieses Begriffes bedienen. Denn: "Nomadism is a category imagined by outsiders",
Doch die Zeiten haben sich geändert. Wenn urbane Mongolen heute ihren Staat als "Land der Nomaden" präsentieren, so greifen sie mit dieser Selbstexotisierung ein im maß- und geldgebenden Ausland geläufiges Stereotyp auf, das sich gewinnbringend instrumentalisieren lässt. Ob im Tourismus, in Forschungslandschaften, der Entwicklungspolitik oder in Bezug auf postmoderne Lebensstile – Nomadismus klingt sexy. Häufig ist eine Zuschreibung dieser kollektiven Identität assoziiert mit abstrusen "myths of the nomad",
Im Mongolischen sind zur Beschreibung der traditionellen Lebens- und Wirtschaftsweise Äquivalente des Abstraktums "Nomadismus" ebenso unüblich, wie sich die Akteure selbst "Nomaden" nennen. Ihr Eigenname war und ist malčid, eine denominale Ableitung von mal – "Weidevieh". In diese Rubrik fallen Pferde, Schafe, Rinder (inklusive Yaks), Ziegen und Kamele. Diese Tierarten sind nicht nur Grundlage pastoralen Wirtschaftens (Naturweidewirtschaft), sondern auch kulturprägende Elemente und werden mit der Wortverbindung tavan chošuu mal bezeichnet. Die gängige Übersetzung als "fünf Weidetierarten" ignoriert den unvertrauten Part, der eine kulturspezifische Klassifikation impliziert: Neben der auch andernorts gebräuchlichen Einteilung in Groß- und Kleinvieh unterscheidet man in der Mongolei heiß- und kaltmäulige Tiere (chaluun/chüjten chošuut mal). Hiermit wird weniger auf Körpertemperaturen verwiesen, vielmehr gelten die als heißmäulig bezeichneten Pferde und Schafe als den Menschen besonders nahestehend und eignen sich daher als Opfertiere. Ebenfalls kulturspezifisch ist die Einteilung in Lang- und Kurzbeinvieh. Diese Klassifikation verweist direkt auf pragmatische Aspekte der jüngst als technoscape
Darüber hinaus existiert in der Taiga der mongolischen Provinz Chövsgöl mit der südlichsten Rentierhaltung der Welt auch eine monospezialisierte Form des Pastoralismus. Die Rentierhalter sind keine Mongolen, sondern Angehörige der ursprünglich turksprachigen Tuwiner (auch Tagna- beziehungsweise Sojon-Urianchaj), die sich selbst als duchalar (Taigaleute) bezeichnen und auf Mongolisch caatan (Rentierleute) genannt werden. Sie sind mit nur knapp 300 Personen
Jurten (mongolisch ger) gelten, gleich den fünf Weidetierarten, als identitätsstiftendes kulturelles Symbol: Die aus dem 13. Jahrhundert überlieferte "Geheime Geschichte der Mongolen" gibt Auskunft über die damalige Selbstbezeichnung als "Leute in Filzwandzelten", gleichsam als frühe Version eines über die mobile Behausung definierten ethnoscape.
Bemerkenswerterweise sucht man in mongolischen Statistiken eine Unterteilung der Bevölkerung in "sesshaft" und "nomadisch" vergeblich. Dergleichen ergäbe aus emischer Perspektive keinen Sinn, denn erstens sind diese Kategorien für Insider irrelevant, und zweitens sind allenthalben flexible Praxen üblich. So vollzieht sich die extensive Weideviehhaltung in einem Spektrum räumlicher Mobilität, das von Pastoralismus über Transhumanz (Vorhandensein immobiler Basislager) bis zu Agropastoralismus (Kombination mit Ackerbau) reicht. Viele Haushalte haben diverse Einkommensquellen, und auf der Mikroebene zeigt sich, dass temporäre Sesshaftigkeit oft mit sozialen Mobilitätsambitionen einhergeht. Bevor wir uns diesen zuwenden, werden politische Rahmenbedingungen räumlicher Mobilität aus vergleichender Perspektive skizziert.
Nomadismuspolitik, räumliche und soziale Mobilität
Es ist ein orthodoxes Narrativ, Nomadismus und Sozialismus seien Antipoden gewesen, und letzterer hätte allerorts danach getrachtet, ersteren durch Sesshaftmachung abzuschaffen. Drei Aspekte werden bei einer solch undifferenzierten Betrachtung ausgeblendet: erstens, dass diese Aussage nicht pauschal zutrifft, zweitens, dass Nomadismus beiderseits des "Eisernen Vorhangs" lange Zeit als Modernisierungshindernis und antiquiert-unrentable Wirtschaftsform galt,
Ein kurzer Blick in die Geschichte Zentralasiens zeigt, dass während der Zarenzeit angesichts der Ausdehnung des Russischen Reiches und der Kolonisierung durch russische Bauern die kasachische Intelligenz selbst Sesshaftwerdung proklamierte, um die Landfrage zugunsten der eigenen Leute zu entscheiden.
Von 1924 bis 1992 existierte die Mongolische Volksrepublik (VR), die nach der Sowjetunion als zweiter sozialistischer Staat galt. Wiewohl stark beeinflusst vom "großen Bruder im Norden" (chojd ach), war die Mongolische VR keine Sowjetrepublik. Gerade die Nomadismuspolitik war einer der Bereiche, in dem der Satellit zu seinem Leitstern Distanz hielt: Anders als Sowjetisch-Zentralasien blieb das Land von Programmen zur Sesshaftmachung verschont, und die extensive Weideviehhaltung war als landwirtschaftliche Hauptproduktionsform anerkannt. Unterschiede zur Nomadismuspolitik der Sowjetunion gab es auch bei der Kollektivierung: Während diese in den Sowjetrepubliken trotz Widerstands gewaltsam umgesetzt wurde, brach man in der Mongolischen VR den ersten Versuch angesichts drohender Volksaufstände zunächst ab.
Die Kollektivierung war flankiert von der Etablierung moderner Institutionen wie Schulen, Krankenhäusern, Poststationen, Veterinärzentren, Läden, Klubs und Bibliotheken. Mitunter werden die so entstandenen ländlichen Zentren als Bestrebungen zur Sesshaftmachung interpretiert, obwohl, wie unter anderem Caroline Humphrey und David Sneath in einer vergleichenden Studie nachgewiesen haben, die Existenz immobiler Infrastruktureinrichtungen kein Indikator für sinkende räumliche Mobilität ist. Auf der Basis länderübergreifender Analysen bewerten sie die Modernisierungen in der Mongolischen VR als gelungene Integration von mobilem und sesshaftem Lebensstil.
Fokussiert man den für gesellschaftliche Modernisierung zentralen Faktor soziale Mobilität, so ist die Mongolische VR ein wohl einzigartiges Beispiel für "Nomad-Mainstreaming", insofern staatliche Politik und Institutionen auf Gleichstellung ausgerichtet waren. Hierdurch sind auch die international anerkannten Erfolge im Bildungsbereich zu erklären, denn das Land war bei mehrheitlich mobiler Bevölkerung der erste Staat in Asien, der bis Ende der 1960er Jahre eine flächendeckende Alphabetisierung erreicht hatte.
Von Nomadismus zu Migration
Vor diesem Hintergrund erklärt sich, weshalb die Herabstufung der Mongolei zu einem Entwicklungsland zu Beginn der 1990er Jahre einen Schock auslöste, entsprachen doch die Selbstwahrnehmung und die hohen Lebensqualitätsdaten des Human Development Index der Vereinten Nationen dieser Kategorisierung nicht. Doch angesichts der Wirtschaftskrise nach dem Kollaps des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (COMECON) sah sich die mongolische Regierung gezwungen, der als Stigmatisierung angesehenen Einstufung in die "Dritte Welt" nachzugeben, um Kredite zu erhalten. Diese wiederum waren an Privatisierungsauflagen gebunden und lösten Kontroversen aus, da es niemals in der mongolischen Geschichte Landeigentum gegeben hatte. Die Viehwirtschaft funktionierte stattdessen von jeher auf der Basis von Nutzungsrechten, denn es war allgemein bekannt, dass starre Grenzen einer nachhaltigen und witterungsangepassten Nutzung von Weideland in ariden (trockenen) Gebieten abträglich sind. Doch: "development planners (…) are uncomfortable with forms of collective land tenure".
Was war geschehen? Zunächst stand die Dekollektivierung an der Spitze der Agenda. Dieser 1991 bis 1993 vollzogene erste Schritt der Reform des Landwirtschaftssektors rief positive Resonanz hervor und war mit optimistischen Erwartungen verbunden. Viele Familien nahmen ihre Kinder, vor allem Jungen, aus den Schulen, um den mit großen Privatherden
Heute leben 68 Prozent der seit Januar 2015 drei Millionen zählenden Bevölkerung der Mongolei in Städten, davon mehr als 40 Prozent in Ulaanbaatar.
Im Umfeld ländlicher und urbaner Zentren, die Zugang zu Märkten, Informationen und Dienstleistungen versprachen, kam es nach 1990 zu Überweidung. Hierzu trug unter anderem der auf etwa 45 Prozent gestiegene Anteil profitabler Kaschmirziegen bei (die Mongolei ist neben China der weltgrößte Produzent von Kaschmirwolle). Katastrophale Auswirkungen hatten zudem konsekutive Dürren und Zud-Ereignisse. Letztere bezeichnen massenhaftes Viehsterben, zu dessen Ursachen hoher Schnee, überfrierende Nässe, Sturm und/oder Bodenverdichtung zählen, wobei das Ausmaß der Verluste von sozialen und politischen Faktoren abhängt. Nach Auflösung der Kollektive mit ihren Serviceleistungen wie Veterinär- und Transportdiensten, Futterproduktion sowie Notfallhilfe war Risikomanagement inklusive Zud-Prävention Privatsache. Regionen, in denen Heugewinnung nicht möglich ist, waren besonders von Viehverlusten betroffen, bevor die Regierung nach dem Verenden eines Fünftels der nationalen Tierbestände im Frühjahr 2010 erneut Notfallkapazitäten zur Zud-Intervention etablierte.
Minegolia und die Postmoderne: Nomadism-to-go
Die Mongolei gehört zu den zehn rohstoffreichsten Ländern der Erde und ist als "Minegolia" oder "Moncoalia" in den Fokus transnationaler Wirtschaftsinteressen gerückt. Einige der auf gigantischen Direktinvestitionen basierenden Großprojekte zur Erschließung und Verarbeitung immenser Ressourcen an Kupfer, Gold, Kohle, Uran, Molybdän und Seltenen Erden stagnieren derzeit, hauptsächlich infolge politischer Instabilität und Rechtsunsicherheit. Umweltprobleme sind ebenso virulent wie Streit darum, wer von den Rohstofferlösen profitiert. Denn nach wie vor lebt etwa ein Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, und die Zuwanderung in die Jurtenviertel Ulaanbaatars hält an, während sich reiche Eliten in gated communities abschotten. In der Weidewirtschaft bringt der Rohstoffboom vielerorts Interessenkonflikte bei der Landnutzung hervor. Betroffen sind beispielsweise in den vergangenen Jahren quasi-privatisierte Winter- und Frühjahrslagerplätze, für deren Nutzung die Administration der Landkreise Zertifikate ausstellt, während übergeordnete Autoritäten mitunter für dieselben Orte Abbaulizenzen vergeben. In allen Provinzen der Mongolei schwelen Konflikte wegen großflächiger Zerstörung von Weideland durch Bergbau. Extreme Staubbelastungen durch Tausende Lastwagen auf unbefestigten Steppenwegen sowie Wasservergiftungen durch Quecksilber und Cyanide fordern Opfer. Mehr als 850 Flüsse und 1000 Seen sind infolge von Rohstoffabbau ausgetrocknet. Das Versiegen des Ongi-Flusses, von dessen Wasserressourcen über 60000 Hirten-Haushalte abhingen, löste international beachtete Proteste aus. Neben großen Firmen betreiben sogenannte Ninjas
Als potenzieller Wachstumssektor gilt auch der Tourismus. Insbesondere im Umkreis landschaftlicher und geschichtsträchtiger Attraktionen sowie entlang der Hauptreiserouten verspricht sich die lokale Bevölkerung saisonale Verdienstmöglichkeiten. Selbst einige Gruppen von Rentierzüchtern ziehen aus der Taiga in die Nähe von Touristencamps, obwohl dies der Gesundheit der mitgeführten Rentiere abträglich ist.
In der Mongolei der Gegenwart hat weniger die real existierende mobile Weideviehwirtschaft als das Motiv eines mythischen "Nomadischen" Konjunktur. Es ist keineswegs auf Marketing im Tourismussektor beschränkt, vielmehr durchherrscht dieses Klischee sämtliche Identitätsdiskurse, die um die Frage kreisen, was wirklich, echt und wahrhaft (žinchene) mongolisch sei. Ob als nationalistisch-demonstrative Abgrenzung zum südlichen Nachbarn China ins diskursive Feld geführt oder beim Ringen um distinktive Wahrnehmbarkeit auf globalen Bühnen – das Nomadismus-Label eignet sich, vorzugsweise in Kombination mit Činggis Chaan, dem ersten mongolischen Großkhan, ideal als Markenzeichen. Das so kreierte Image der "Mongolian nomads" als "poetic fiction"
Ohnehin hat Freiheit in der Heterogenität der Postmoderne andere Dimensionen. Mit "reductive mould of a ‚nomadic nation‘"