Der in den 1580er Jahren in Florenz von dem flämischen Maler Jan van der Straet angefertigte Stich "America" (siehe Abbildung), der die Entdeckung der Neuen Welt als Begegnung zwischen dem in Diensten der Familie Medici stehenden Kaufmann und Navigator Amerigo Vespucci und einer nackten Frau in Szene setzt, dient mittlerweile in verschiedenen Forschungskontexten dazu, die sexualisierte Kodierung kolonialer Landnahme zu entziffern.
Hierfür ist Vespucci auf dem Bild mit mehreren Gegenständen ausgestattet: Kreuzbanner, Schwert und Astrolabium. Und dieses letztere, auf Winkelmessung beruhende Navigationsinstrument gibt Hinweis auf eine weitere Deutungsvariante. Mit Bezug zu Michel de Certeau hat der Literaturwissenschaftler Jörg Dünne überzeugend darauf aufmerksam gemacht, dass sich die europäische Einschreibung offenbar nicht nur auf die Kulturtechnik der Alphabetschrift bezog, wie de Certeau selbstverständlich annahm, sondern darüber hinaus auch Verfahren der räumlichen Orientierung und der territorialen Erfassung des von Vespucci erstmals als nuova terra benannten Raumes einschloss.
Kolonialer Staat und territoriale Herrschaft
Dass Europa den Staat erfunden hat, gehört zu den prägnanten Schlagworten, mit denen der Historiker Wolfgang Reinhard seine Forschungen zur Geschichte der Staatsgewalt pointiert hat.
Um sich diesem globalen Transformationsprozess anzunähern, ist es hilfreich, den einschlägigen Praktiken der kolonialen Raumaneignung und damit jenen der fortschreitenden Territorialisierung detaillierter nachzugehen. Die hierfür ausschlaggebenden Rahmenbedingungen waren bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts noch alles andere als einheitlich. Im Verlauf der kolonialen Eroberungen hatten sich weltweit verschiedenste Anwartschaften, Rechtstitel und Besitzverhältnisse entwickelt, und die sich seit den 1870er Jahren erneut zuspitzende Rivalität um koloniales Land – vor allem in Zentral- und Südafrika – offenbarte ein buntes Durcheinander beim Wettlauf um die letzten, noch als unentdeckt geltenden Gebiete auf der Weltkarte. Konkurrierende Okkupationsinteressen, ungeklärte Besitzverhältnisse, strategische Blockbildungen unter den europäischen Großmächten und den USA sowie die drohende Gefahr, dass die massive Konkurrenz zu offenen Konfrontationen zwischen den europäischen Mächten selbst führen könnte, kennzeichneten eine angespannte Großwetterlage, in der vor allem Afrika territorial aufgeteilt wurde.
Am 6. Oktober 1884 lud der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck zu einer internationalen Konferenz nach Berlin ein. Hintergrund dieser Zusammenkunft der führenden Kolonialmächte waren anhaltende Querelen um konkurrierende Handelsinteressen in Afrika, insbesondere im Kongobecken. Neben der Beilegung von Interessengegensätzen um Einflusssphären und Handelsfreiheit zielten die Verhandlungen in Berlin auf die "Feststellung der Formalitäten, welche zu beobachten sind, damit neue Besitzergreifungen an den Küsten von Afrika als effektive betrachtet werden".
Eindeutig war, dass nur diejenigen, die – wie die anderen Unterzeichnerstaaten – als staatlich souverän im europäischen Sinne galten, gemäß der Generalakte das Recht besaßen, mit den anderen Vertragspartnern über die Anerkennung ihrer Besitzansprüche zu verhandeln. Der Rechtstitel "Effektive Okkupation" betraf somit ausschließlich das Verhältnis der landnehmenden europäischen Staaten untereinander, eine Zustimmung der in staatenlosen Gebieten lebenden Einwohner wurde auf der Konferenz mehrheitlich abgelehnt. Staatenloses Gebiet, ob bewohnt oder unbewohnt, galt nach diesem Verständnis als res nullius (Niemandsland).
Sesshaftigkeit als Norm
Die Errichtung kolonialer Herrschaft war ein komplexer, keineswegs geradliniger und schon gar nicht in jeglicher Hinsicht erfolgreicher Prozess. Unter äußerst heterogenen machtpolitischen, ökonomischen und rechtlichen Rahmenbedingungen umfasste (staatliche) Kolonialisierung zunächst die militärische Eroberung beziehungsweise "Pazifizierung" des kolonialen Gebietes, mithin die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols gegenüber denjenigen Herrschaftsinstanzen, die vor Ort als Inhaber und Repräsentanten vorkolonialer Macht identifiziert wurden. Die Landnahme erstreckte sich idealtypisch somit auf die Unterwerfung und Sicherung des kolonialen Raumes, die Entmachtung, Umwandlung oder Indienstnahme vorgefundener Machtsysteme, die Unterwerfung der lokalen Bevölkerungsgruppen, die Installation von regionalen und überregionalen Verwaltungsapparaten sowie auf alle rechtlichen, ökonomischen und politischen Maßnahmen, die dazu dienten, koloniale Herrschaft aufrechtzuerhalten und zu stabilisieren. Hierzu zählten die bürokratische Erfassung der Bevölkerung, ihre Arbeitsrekrutierung und Besteuerung wie auch unterschiedliche Formen kolonialer Wissens- und Symbolpolitik.
Mit diesem Prozess kolonialer Landnahme vollzog sich auch das, was im Folgenden unter dem Transfer räumlicher Ordnungsformen verstanden wird. Dass der koloniale Staat sich dabei am territorialen Flächenstaat orientierte, markierte eine tiefe Zäsur in den räumlichen Strukturen, die bis dahin in weiten Teilen Afrikas vorherrschten. Dabei ist in Rechnung zu stellen, im Detail hier allerdings nicht darstellbar, dass die vorkolonialen Herrschafts- und Ordnungsverhältnisse in Afrika stark differierten und somit auch auf Seiten der Kolonisierten keineswegs von auch nur annähernd einheitlichen Sozial- und Machtbeziehungen ausgegangen werden kann. Diese Heterogenität bezieht sich einerseits auf die Entstehung, Stabilisierung und Differenzierung von lokalen wie auch überregionalen Gemeinwesen, zum anderen auch auf die Ausprägung und den Wandel sesshafter beziehungsweise nomadischer Lebensformen.
Generell, wenn auch verkürzt, lässt sich feststellen, dass europäische Kolonialmächte in Afrika auf verschiedene Formen und Ausprägungen nomadischer Lebensführung trafen. Nomadismus stellte im kolonialen Kontext eine indigene Kultur- und Gesellschaftsform dar, die es ermöglichte, den jeweiligen geoökologischen Rahmenbedingungen vor allem in semiariden, also überwiegend trockenen Räumen effektiv zu begegnen. Ungeachtet der unterschiedlichen Definitionsanstrengungen lässt sich verallgemeinern, dass nomadische Kulturen durch Mobilität ihre gemeinschaftliche Existenz zu sichern versuchen – sei es permanent oder auch nur zyklisch. Die damit verbundene räumliche Flexibilität erlaubt es, ökologischen oder sozialökonomischen Faktoren, die sich auf die eigene Lebensweise ungünstig, zuweilen sogar bedrohlich auswirken, auszuweichen.
Es ist leicht nachzuvollziehen, dass solche Raumkonzepte andere Vorstellungen und Formen des Landbesitzes beziehungsweise der Ressourcennutzung hervorbringen, als es sesshafte Gesellschaften tun, und es ist auch unmittelbar einsichtig, dass nomadische Lebensformen andere, weniger territorial gebundene Herrschafts- und Gesellschaftsverhältnisse ausbilden. Im vorkolonialen Afrika verfügten Herrscher in erster Linie nicht über durch lineare Grenzen gerahmte Territorien, sondern über Gefolgsleute und Untertanen. Klient- und Tributbeziehungen sowie Verwandtschaftsverhältnisse konstituierten einen Herrschaftsraum, der folglich weitaus weniger fixiert und damit sehr viel wandelbarer war, als es europäische Territorialkonzepte vorsahen.
Koloniale Landnahme ignorierte weitgehend die politisch-sozialen Gefüge, die ihr vorausgingen, und verletzte dadurch die bestehende Vielfalt unterschiedlichster politischer Organisationsformen, die in ihrer Mehrheit den europäischen Maßstäben von Staatlichkeit und Territorialität nicht entsprachen. Damit wurde nicht nur eine neue, mehr oder weniger einheitliche Raumordnung oktroyiert, es wurden auch andere Formen von Herrschaftsbeziehungen etabliert und praktiziert. Entgegen der bisher oftmals auf persönlichen Bezügen aufgebauten Systeme, in die der Einzelne durch Rechte und Pflichten eingebunden und Gefolgschaft in der Regel familiär legitimiert war, beruhte koloniale Herrschaft auf einem Ausschließlichkeitsprinzip, das sich auf staatlich-territoriale Zugehörigkeiten berief. Vorkoloniale Hegemonie war zu allererst Herrschaft über Untertanen, während in den Kolonien Gebietshoheiten installiert wurden, aus denen sich staatliche Herrschaft über die dort ansässige, sprich sesshafte Bevölkerung erst ableitete. Auf einem Kontinent, der im Unterschied zu Europa vor allem über eines verfügte, nämlich über sehr viel Land, und in dem ein erheblicher Teil der Bevölkerung nomadisch oder zumindest doch halbnomadisch lebte, war es nahezu unabdingbar, Herrschaft primär nicht auf territorialen, sondern auf personalen Prinzipien aufzubauen. In der kolonialen Kontaktzone prallten daher unterschiedliche Raumordnungskonzepte relativ unvermittelt aufeinander. Gerade die erste Phase kolonialer Herrschaft war durch den Gegensatz zwischen territorialen und personalen Herrschaftsbeziehungen geprägt, was insgesamt dazu führte, dass sich sowohl koloniale wie auch indigene Macht- und Ordnungskonzepte transformierten.
Territorialität als Herrschaftsprinzip
Koloniale Grenzziehungen waren zu einem gewissen Teil Resultate administrativer und diplomatischer Aushandlungsprozesse, in denen es vorrangig um die Herstellung, Abgrenzung und Legitimierung europäischer Interessensphären ging. In der Praxis vollzog sich diese Raumaufteilung in bi- und multilateralen Grenzkommissionen, in denen Vertreter souveräner Nationalstaaten europäische Territorialvorstellungen in bilaterale Grenzverträge überführten und auf diese Weise afrikanisches Land in kolonialen Raum transformierten.
Die Diskrepanz von kolonialem Herrschaftsanspruch, fiktiver Grenzziehung und faktischer Territorialisierung schlug sich in den Grenzkommissionen auf signifikante Weise nieder. Die Kommissionen waren Orte der räumlichen Wissensproduktion, dort wurden Reiseberichte, Tagebücher, Vermessungsdaten und Forschungsberichte gesammelt und ausgewertet. Doch die diskursive Verdichtung und Operationalisierung dieses Wissens war am Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht vollständig ausgereift und erreichte nur für bestimmte Regionen Afrikas ein tragfähiges Niveau. Die oftmals intensive Arbeit der Grenzkommissionen konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Grenzziehungen – je weiter sie ins Landesinnere vordrangen – eher mathematischer Natur blieben. Grenzführungen, die Längen- und Breitengraden oder auch Flussläufen folgten, dienten in der Regel dazu, die aus europäischer Sicht weitgehend unerforschten Regionen überhaupt verhandelbar zu machen. Wer ein beanspruchtes Territorium nicht in seinen Koordinaten benennen konnte, geriet in Erklärungsnot, wenn es galt, die eigenen Interessen gegenüber den kolonialen Konkurrenten durchzusetzen.
Geografisches Wissen wurde zu einem entscheidenden Verhandlungs- und Machtfaktor, auch wenn die Kenntnisse der beteiligten Kolonialmächte über die entsprechenden Grenzgebiete in der Regel alles andere als umfassend waren. Ganz im Gegenteil: Auf dem diplomatischen Parkett Europas wurde koloniales Land verteilt, verschachert und getauscht, indem geografisch uninformierte Regierungsvertreter relativ unbekümmert auf lückenhaften, ungenauen und mit vielen weißen Flächen versehenen Landkarten nationale Interessengebiete absteckten und markierten, oft völlig unabhängig von den dort herrschenden geografischen, politischen und sozialen Bedingungen. Dieses Verfahren glich – wie der Referent der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes Freiherr von Danckelman offen eingestand – "einem Lotteriespiel und hat nachträglich oft herben Tadel erfahren". Seiner Meinung nach habe es aber zu dieser Vorgehensweise keine Alternative gegeben, wenn man "bei dem allgemeinen Wettlauf der Mächte, sich im letzten Augenblick noch ein Stück von Afrika" sichern wollte.
Die koloniale Landnahme in Afrika schuf somit eine – oftmals beständige – territoriale Ordnung, ohne über fundamentale Datengrundlagen zu verfügen und ohne die gewachsenen strukturellen Bedingungen gebührend zu berücksichtigen. Gerade die begrenzten Ressourcen und das fehlende geografische Wissen machten die kartografische Visualisierung zu einer Art Ersatzhandlung einer ansonsten allenfalls oberflächlichen Raumerfassung.
Zonen kolonialer Macht
Neben dieser transnationalen Ebene vollzog sich koloniale Territorialisierung durch die Installation von hierarchisch abgestuften Verwaltungseinheiten innerhalb der Kolonien. Während zu Beginn das koloniale Gebiet – also nach vertraglichem Erwerb oder militärischer Okkupation – oftmals nur durch mal mehr, mal weniger befestigte Militärposten gesichert wurde, schuf die administrative Durchdringung der Kolonie eine neue räumliche Ordnung – zumindest in den Teilen, in denen sich überhaupt gewisse Formen staatlicher Herrschaft ausbildeten. Die Verwaltungsbezirke, geführt von in der Regel mit weitreichenden Kompetenzen ausgestatteten Kolonialbeamten in der Funktion der Stationsleiter oder der Bezirksamtsleute, waren die zentralen Organisationseinheiten europäischer Herrschaft. Hier wurde koloniale Politik interpretiert, angeeignet und in Handlungen übersetzt. Hier trafen zudem die Ordnungen der Eroberer auf die der Eroberten. Die Bezirksämter wirkten wie Scharniere, wenn sie in Kooperation mit einer nach kolonialpolitischen Relevanzen (um)gestalteten Häuptlingshierarchie politische Vorgaben realisierten. Ziel administrativen Handelns war die vollständige, gleichmäßige und vor allem uneingeschränkte Herrschaftsausübung im gesamten Territorium, der sich niemand durch unkontrollierte und damit illegale Abwanderung entziehen durfte.
Das Territorialprinzip setzt Sesshaftigkeit normativ voraus und macht den Aufenthaltsort zum Maßstab für rechtskonformes Verhalten. Migration stellt in dieser Logik eine Normenverletzung dar, und "es entsteht eine Forderung nach Gehorsam, die sich auf den Aufenthaltsort der Menschen gründet".
Es ist keine neue Erkenntnis, dass der koloniale Staat nur in seltenen Fällen mehr war als eine europäische Herrschaftsutopie.
Über die Wirkmächtigkeit der territorialen Neuordnung sagen diese Defizite indes wenig aus. Der koloniale, wenn auch oftmals schwache Staat intervenierte durch Territorialisierungsmaßnahmen wie Infrastrukturausbau, Landerschließung, Ressourcenabbau, Arbeitsrekrutierung und Ansiedlungsprojekte, um nur einige Bereiche zu nennen, massiv in die Ordnungsarchitektur indigener Gesellschaften. Diese Neuordnung bezog sich strukturell vor allem auf die Institutionalisierung und Instrumentalisierung des Häuptlingtums.
Zum einen zwangen europäische Kolonialmächte den vormals häuptlinglosen Gesellschaften dieses Gesellschaftsmodell auf, zum anderen transformierten sie das vorkoloniale Häuptlingtum in ein System intermediärer Herrschaftsordnung. Die Etablierung und Inanspruchnahme des nun nach kolonialen Erfordernissen umstrukturierten und daher vor allem administrativen Häuptlingtums erzeugte einerseits eine enorme Machtsteigerung der Häuptlinge, verkoppelte aber ihre Macht mit dem kolonialen Staat, von dem sie mehr oder weniger abhängig waren (und umgekehrt). Die Durchsetzung des administrativen Häuptlingwesens bedeutete zugleich die Institutionalisierung territorialer Herrschaftsprinzipien, denn die vorherige Interdependenz von Genealogie und Raum und das damit verbundene familiale Gefolgschaftsprinzip wich einem System räumlicher Herrschaft, das die politischen, ökonomischen und sozialen Beziehungen langfristig bestimmte. Die Einführung der Kopfsteuer ist hierfür ebenso kennzeichnend wie die Rekrutierung der lokalen Bevölkerungen zu Pflicht- und Zwangsarbeiten. Mobile Lebensformen galten in einem Ordnungsentwurf, für den die bürokratische Erfassung der Bevölkerung in einem fest definierten Territorium konstitutiv war, als ungehorsam und potenziell widerständig.
Kolonialismus zielte auf die radikale Umwälzung vorgefundener Ordnungen, er zerstörte bestehende politische und soziale Gefüge oder instrumentalisierte sie für die eigenen Ziele, allerdings ohne letztlich in der Lage zu sein, andere tragfähige Herrschafts- und Ordnungssysteme auf Dauer zu institutionalisieren. Der Historiker Jürgen Osterhammel hat Kolonialismus definiert als "eine Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden".