Nach dem "Supergedenkjahr" 2014 mit seinen zahlreichen Jubiläen gibt es 2015 mit der 70. Wiederkehr des Kriegsendes erneut einen bedeutenden Jahrestag. Während dieser gewissermaßen das Seniorenalter erreicht hat, kündigt sich in seinem Windschatten, von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt, ein neuer Gedenktag an, der dieser Tage "Premiere" feiert und aufs Engste mit dem Kriegsende zusammenhängt. Am 27. August 2014 beschloss die Bundesregierung, einen "Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung" einzuführen. Dieser soll jährlich am 20. Juni begangen werden, erstmalig 2015. Neben den weltweiten Opfern von Flucht und Vertreibung soll er insbesondere an die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen erinnern, die als Folge des Zweiten Weltkrieges ein solches Schicksal erleiden mussten. Nicht nur die Kontroversen um die Einführung dieses neuen nationalen Gedenktages, sondern auch die gegenwärtige Diskussion über den Umgang mit Flüchtlingen und Vertriebenen lassen es angeraten erscheinen, sich eingehender mit diesem Tag zu beschäftigen.
Zur Funktion von Gedenktagen
Gedenktage sind "Denkmäler in der Zeit".
Gedenktage haben eine herrschaftsbewahrende und loyalitätserzeugende Funktion, sie sollen konsensstiftend und stabilisierend wirken.
Neben dieser sozial-identifikatorischen Funktion konkretisiert sich in Gedenktagen aber auch kritisches Potenzial. Sie dienen in dieser Hinsicht als Stimulus für die geschichtswissenschaftliche Erforschung der Vergangenheit. Ferner ermöglichen sie es, innezuhalten, und bieten einen Anlass zu kritischer Selbstreflexion sowie zur Korrektur von stereotypen Geschichtsbildern, die bisweilen allzu leichtfertig reproduziert werden.
Streit um Vertriebenen-Gedenktag
Die Bundesregierung setzte mit ihrem Beschluss ein Votum des Bundestags vom Februar 2011 um. Die damaligen Regierungsfraktionen aus CDU/CSU und FDP hatten – mit Blick auf die Landtagswahl in Baden-Württemberg im März 2011 – beantragt, einen Gedenktag für die Vertriebenen einzuführen und diesen jährlich am 5. August zu begehen. Dieses Datum hielten sie für besonders geeignet, weil am 5. August 1950 in Stuttgart die Charta der deutschen Heimatvertriebenen verabschiedet worden war. Die Antragsteller bezeichneten dieses Dokument als "Meilenstein" auf dem Weg zu europäischer Integration und Aussöhnung sowie als ein "Gründungsdokument" der Bundesrepublik Deutschland. Da die Initiatoren befürchteten, dass das Thema Flucht und Vertreibung – vor allem der Deutschen aus den Ostgebieten am Ende des Zweiten Weltkrieges – mit dem Aussterben der Zeitzeugen an Relevanz verlieren und in Vergessenheit geraten könnte, wollten sie mit einem Gedenktag die Jugend an dieses "Erbe" heranführen und auf diese Weise die transgenerationelle Weitergabe sicherstellen.
Die geschichtspolitische Kontroverse um den Gedenktag entzündete sich jedoch nicht an der generellen Frage, ob es legitim sei, speziell der Flucht und Vertreibung der Deutschen zu gedenken. Denn ungefähr seit der Jahrtausendwende hatte sich die Ansicht gesellschaftlich zunehmend durchgesetzt, auch der deutschen Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft zu gedenken, ohne dass damit – unter Berücksichtigung der kausalen Zusammenhänge – zwangsläufig eine Herabwürdigung der anderen Opfer verbunden sei. Mittlerweile sind das Bekenntnis zu deutscher Schuld und Verantwortung am Zweiten Weltkrieg sowie die Trauer über den Verlust der Heimat der Deutschen aus den Ostgebieten als "zwei Seiten einer Medaille" anerkannt.
Die Opposition sah in ihr keineswegs ein "Gründungsdokument" der Bundesrepublik, sondern schlicht ein Zeitdokument, das der historischen Kontextualisierung bedürfe. Problematische Formulierungen wie der erklärte "Verzicht" der Heimatvertriebenen auf "Rache und Vergeltung", der ihnen nach Meinung der Kritiker nicht zustand, da sie ohnehin keinen Anspruch auf Rache hätten, oder die Selbstbewertung als "der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen" seien ebenso kritisch zu erörtern wie die nicht eingestandene Schuld und Verantwortung Deutschlands für die vorausgegangenen Ereignisse. Die Charta blendete diese zugunsten einer diffusen Schicksalshaftigkeit aus, wie es zum Beispiel in der Phrase "im Gedenken an das unendliche Leid, welches im Besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat" zum Ausdruck kommt. Wer das Leid verursacht hatte, oder wer es wem zugefügt hatte, all dies wurde verschwiegen. Ferner waren zahlreiche Unterzeichner der Charta nationalsozialistisch belastet.
Während die einen das Gedenken an die eigenen Opfer befürworteten, weil erst dies die Trauer um fremde Opfer glaubhaft mache, hielten die anderen dies für Selbstviktimisierung. Mit ihr sei die Gefahr einer Umwertung der nationalsozialistischen Vergangenheit verbunden. Entsprechend befürchteten die Gegner des Gedenktages Geschichtsklitterung, Revisionismus sowie eine Verharmlosung des Holocaust und der Verbrechen an der Zivilbevölkerung Osteuropas im Zweiten Weltkrieg. Mit der antizipierten Relativierung deutscher Verantwortung ging in den Augen der Kritiker eine falsche Gleichsetzung und Konkurrenz von Opfern einher. Das Gedenken an sie würde ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen, denn der 5. August erschiene nun unberechtigterweise als Pendant zum 27. Januar, an dem der Opfer des Nationalsozialismus gedacht wird. Die Rolle der Vertriebenenverbände wurde gleichfalls kritisch hinterfragt. Die Antragsteller ließen sich jedoch nicht auf die Argumente der Gegenseite ein, sodass der Antrag nach einer lebhaften Bundestagsdebatte schließlich mit der Stimmenmehrheit der Regierungsfraktionen angenommen wurde.
Doch nicht nur Parlamentarier opponierten gegen die Pläne für diesen neuen Gedenktag, auch aus der Zivilgesellschaft kam Protest. Unter Federführung zahlreicher namhafter Historiker und anderer Wissenschaftler aus dem In- und Ausland kam nur drei Tage nach dem Bundestagsbeschluss eine Erklärung zustande, in der die Entscheidung, auf Grundlage der Charta einen Gedenktag zu errichten, als "falsches geschichtspolitisches Signal" verurteilt wurde.
Vom 5. August zum 20. Juni
Lange Zeit passierte erst einmal nichts. Der damalige Außenminister Guido Westerwelle verzögerte mit Blick auf die außenpolitischen Beziehungen zu Polen und Tschechien eine Umsetzung des Gedenktages. Den Regierungswechsel im Herbst 2013 bestand der Beschluss unbeschadet; es findet sich sogar ein Passus zum Gedenktag im Koalitionsvertrag. Darin heißt es: "Wir halten die mahnende Erinnerung an Flucht und Vertreibung durch einen Gedenktag lebendig (…)."
Die Unkonkretheit des entsprechenden Satzes im Koalitionsvertrag, in dem weder die Charta der Heimatvertriebenen noch der 5. August erwähnt wurden, dürften letztlich zur Realisierung des Gedenktages beigetragen haben. Der Bundestagsbeschluss vom Februar 2011 hatte die Bundesregierung nämlich lediglich dazu aufgefordert, "zu prüfen (…), den 5. August zum bundesweiten Gedenktag für die Opfer von Vertreibung zu erheben".
Kritik am Kompromissdatum kam aus den Reihen der Ost- und Mitteldeutschen-Vereinigung (OMV) der CDU/CSU. Sie fürchteten um die Exklusivität des nationalen Gedenkens und sahen in der Wahl des 20. Juni eine Abwertung ihres historischen Schicksals, da vergangenen und gegenwärtigen Opfern von Flucht und Vertreibung am selben Tag gedacht werden soll.
Der 20. Juni steht allerdings auch wegen der Konkurrenz zu den Gedenktagen einzelner Bundesländer in der Kritik. Bayern, Hessen und Sachsen hatten auf Landesebene bereits einen eigenen Gedenktag für die deutschen Opfer von Flucht und Vertreibung beschlossen, der jeweils am zweiten Sonntag im September begangen wird (erstmals 2014). Der nationale Gedenktag wird mit diesen verglichen werden und sich an ihnen messen lassen müssen. Ihre Bezeichnungen sind übrigens allesamt sprachlich und historisch unsensibel; besonders unpassend sind die gleichlautenden Namen in Hessen und Bayern: Hessischer beziehungsweise Bayerischer "Gedenktag für die Opfer von Flucht, Vertreibung und Deportation". Erst aus den Proklamationstexten der jeweiligen Ministerpräsidenten geht eindeutig hervor, dass der Gedenktag Integration und (Aufbau-)Leistungen der nach dem Kriegsende von 1945 aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten Vertriebenen würdigen soll.
Angesichts dieser Häufung von Gedenktagen ist man geneigt, der schon etwas älteren Einschätzung des Politikwissenschaftlers Dietmar Schiller zuzustimmen: "Statt über noch mehr offizielle Gedenk- und Feierstunden sollte kontrovers über Geschichtsverläufe und historische Ereignisse diskutiert werden, denn nur das impliziert, daß aus der Geschichte – vornehmlich dieses Jahrhunderts – Konsequenzen für die Gegenwart und Zukunft gezogen werden können."
Potenzial des Gedenktages
Dem Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen zufolge waren 2014 weltweit über 50 Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben oder auf der Flucht. Angesichts dieses traurigen Höchststandes von Flucht und Vertreibung und der damit verbundenen Internationalität dieser beiden Phänomene, die auch heutzutage trotz ihrer Ächtung durch internationales Recht nicht zu einem Ende gekommen sind, tut die durch den Datumswechsel markierte internationale Ausweitung der Perspektive dem ursprünglich rein national konzipierten Gedenktag gut – sofern sie sich an dem Tag selbst tatsächlich niederschlägt.
Die historische Rückschau kann und sollte sich mit einer gegenwartsorientierten Betrachtung verbinden. Denn dann kommt vielleicht noch eine dritte Gedenkvariante des 20. Juni in den Sinn, wie sie erstmals 2010 von der Konferenz Europäischer Kirchen ausgerufen wurde: als "Tag der Fürbitte und des Gedenkens an die Toten an den Grenzen der Europäischen Union". Erst diese neben nationalem und internationalem Gedenken dritte Variante lässt die Bigotterie und den Zynismus zum Vorschein kommen, wenn man die große Anzahl an Menschen betrachtet, die beim Versuch nach Europa zu fliehen, an den Außengrenzen der EU ums Leben kommen – sei es vor Lampedusa, in Ceuta oder anderswo.
Wie gesagt: Eine Inflation derartiger Gedenktage – immerhin wird am "Tag der Heimat" im September oder am Volkstrauertag im November ebenfalls der Opfer von Flucht und Vertreibung gedacht – kann zu Zweifeln an der generellen Sinnhaftigkeit von Gedenken führen. Übermaß erzeugt eben Überdruss und Entwertung. Konkurrierende, egal ob gleichartige oder verschiedene, Gedenkanlässe können aber auch den Blick schärfen und neue Impulse setzen: Sie eignen sich zum Beispiel auch dazu, den aktuellen Umgang mit Flüchtlingen und Vertriebenen zu hinterfragen.
Die historische Perspektive belegt, dass die Einwanderer aus den ehemaligen Ostgebieten keineswegs mit offenen Armen im Nachkriegsdeutschland empfangen wurden. Die zügige soziale wie ökonomische Integration der ungeheuren Anzahl
Die in der Bundestagsdebatte bei der historischen Rückschau angesprochenen Aspekte wie materielle Lebensbedingungen (Wohnraum, Ernährung und anderes mehr) oder die Aufnahme und Integration der Heimatvertriebenen, die sich trotz einer eher ablehnenden Haltung der alteingesessenen Bevölkerung ihnen gegenüber
Es ist daher fraglich, ob die Strategie erfolgreich ist, vor allem an vergangene Flucht und Vertreibung zu erinnern, um auf diese Weise Empathie bei den Nachgeborenen zu erzeugen. Wirkmächtiger als die verwackelten, grobkörnigen Schwarzweißaufnahmen von Urgroßmutters Flüchtlingstreck, die nun in Form eines Gedenktages im kollektiven Gedächtnis verankert werden sollen, erscheinen doch die aktuellen Bilder aus Syrien, dem Nordirak oder Süditalien. Gegenwartsbeispiele sensibilisieren in höherem Maße für Flucht und Vertreibung; mit ihrer Hilfe kann historische Tiefenschärfe besser erzeugt werden als allein mit Beispielen aus der Vergangenheit.
Fazit
Befürchtungen, dass der Gedenktag Relativierung und Revisionismus Vorschub leisten könnte, sind nicht von der Hand zu weisen. Ob sie tatsächlich eintreten, hängt von der Ausgestaltung des Gedenktages ab und wie sich dieser in Zukunft etabliert – oder auch nicht. Gedenktage sind eben nicht nur lästige Pflichtveranstaltungen für staatliche Honoratioren, sie dienen auch der Reflexion, verschaffen Klarheit, markieren den aktuellen (geschichts-)politischen Standpunkt und bekräftigen idealerweise aus historischem Bewusstsein heraus den gegenwärtigen Grundkonsens eines Gemeinwesens.
Die Gestaltung des Gedenktages ist daher vor allem eine zivilgesellschaftliche Aufgabe, auch wenn die gegenwärtige erinnerungskulturelle Praxis Gegenstand von Klage und Kritik ist.
Auch wenn es angesichts der gegenwärtigen weltpolitischen Lage höchst unwahrscheinlich ist, so ist es dem Gedenktag doch zu wünschen, dass er baldmöglichst überflüssig wird und wieder abgeschafft werden kann. Bis dahin aber sollte er begangen werden. Bis zu seiner "Premiere" sind es nur noch wenige Tage. Möge sie im oben skizzierten Sinne erfolgreich werden.