Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Unbegleitete Minderjährige auf der Flucht | Flucht und Asyl | bpb.de

Flucht und Asyl Editorial Zur Karriere und Funktion abschätziger Begriffe in der deutschen Asylpolitik - Essay Flucht, Migration und Entwicklung: Wege zu einer kohärenten Politik Flucht und Asyl: Aktuelle Zahlen und Entwicklungen Rette sich, wer kann? Flüchtlingspolitik im Föderalismus Unbegleitete Minderjährige auf der Flucht Samariter, Schlepper, Straftäter: Fluchthilfe und Migrantenschmuggel im 21. Jahrhundert Schutz von Freiheit, Sicherheit und Recht? Frontex und die europäischen Außengrenzen Ein Hoch auf Flucht und Vertreibung? Zur Einführung des neuen Gedenktages am 20. Juni

Unbegleitete Minderjährige auf der Flucht

Bernd Parusel

/ 15 Minuten zu lesen

Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die ohne Angehörige in der EU Schutz suchen, ist beträchtlich gestiegen. Ausländerrechtliche Restriktionen und Bemühungen um das Kindeswohl prägen ihre Aufnahme.

Im Zuge der sich ausweitenden Konflikte im Nahen und Mittleren Osten, am Horn von Afrika und in anderen Gegenden der Welt, aber auch infolge sozialer Miseren in Südosteuropa und auf dem Balkan, ist die Zahl der Menschen, die in den Staaten der Europäischen Union Schutz suchen, seit einigen Jahren deutlich angestiegen. Während 2011 rund 310000 Menschen einen Asylantrag in den EU-Mitgliedsstaaten stellten, waren es 2014 mit rund 625000 mehr als doppelt so viele.

Hinter der Gesamtzahl der Schutzsuchenden liegt eine Vielzahl unterschiedlicher individueller Schicksale. Viele Neuankömmlinge sind politisch verfolgt, andere vor Armut oder Katastrophen geflohen; viele sind erwachsene Männer, aber auch zahlreiche Frauen und Familien mit Kindern machen sich auf den Weg nach Europa. Eine besondere Gruppe, die seit einigen Jahren verstärkt Beachtung erfährt, da auch sie zahlenmäßig zunimmt, sind Kinder und Jugendliche, die ohne Eltern oder andere Erziehungsberechtigte in einem anderen Land Zuflucht suchen. In Fachkreisen werden sie als "unbegleitete Minderjährige" (UM) oder "unbegleitete minderjährige Flüchtlinge" (UMF) bezeichnet.

Die Zahl der unbegleiteten Minderjährigen ist parallel zum Anstieg der Asylbewerberzahlen zuletzt deutlich gestiegen. 2011 stellten in allen EU-Staaten zusammen genommen rund 11700 UM einen Asylantrag; 2014 waren es mit rund 22900 nahezu doppelt so viele. Sie verteilten sich dabei höchst ungleich auf die einzelnen Staaten. Im Zeitraum 2012 bis 2014 wurden die mit Abstand meisten Asylanträge in Schweden gestellt, Deutschland folgte an zweiter Stelle. In Ländern wie der Slowakei, der Tschechischen Republik sowie den baltischen Staaten war die Ankunft von unbegleiteten Minderjährigen ein weit weniger auffälliges Migrationsphänomen (Tabelle 1).

Tabelle 1: Unbegleitete minderjährige Asylantragsteller in den EU-Staaten, 2012–2014

Tabelle 1: Unbegleitete minderjährige Asylantragsteller in den EU-Staaten, 2012–2014

Zu den unbegleiteten minderjährigen Asylbewerbern kommt eine nicht genau erfasste Zahl von unbegleiteten Minderjährigen, die keine Asylanträge stellen. Während in manchen EU-Staaten, etwa Schweden und den anderen nordischen Ländern, alle UM als schutzsuchend und damit als Asylbewerber gelten und entsprechende Verfahren durchlaufen, reichen in südeuropäischen Ländern, insbesondere Italien und Spanien, die meisten UM keinen Asylantrag ein. Dies bedeutet jedoch nicht automatisch, dass sie kein Aufenthaltsrecht bekommen; vielmehr wird der Aufenthalt üblicherweise durch lokale Behörden geregelt. Italien hat einem Bericht des Europäischen Migrationsnetzwerkes zufolge 2013 fast 8500 unbegleitete Minderjährige aufgenommen, die keinen Asylantrag stellten; in Spanien waren es rund 2200.

Deutschland nimmt hinsichtlich unbegleiteter Minderjähriger im beziehungsweise außerhalb des Asylverfahrens eine Mittelposition ein. Seit einigen Jahren zeigt sich, dass viele neu einreisende Minderjährige auf Asyl verzichten. Insbesondere in Fällen, in denen Vormünder oder Betreuer aufgrund von Vorerfahrungen davon ausgehen, dass ein Asylgesuch voraussichtlich erfolglos bleibt, wird von der Antragstellung von vornherein abgesehen. Stattdessen wird versucht, bei der örtlich zuständigen Ausländerbehörde ein vorläufiges Aufenthaltsrecht oder zumindest eine vorübergehende Aussetzung der Ausreisepflicht zu erwirken. In den meisten Fällen wird eine Duldung ausgestellt. 2013 wurden fast 6600 Kinder und Jugendliche aufgrund "unbegleiteter Einreise aus dem Ausland" von Jugendämtern in Obhut genommen, "nur" knapp 2500 stellten jedoch einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Wenngleich in die Jugendhilfestatistik auch junge Menschen eingehen, die mit Angehörigen, die bereits in der Bundesrepublik leben, zusammengeführt werden können, die sich nach kurzer Zeit als volljährig erweisen oder die aus anderen EU-Staaten kommen, deutet die Diskrepanz darauf hin, dass eine beträchtliche Zahl von unbegleiteten Minderjährigen in Deutschland außerhalb des Asylverfahrens bleibt.

Ziel- und Herkunftsländer

Jenseits der Grenzen der EU sind noch weit mehr unbegleitete Minderjährige auf der Flucht. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) hat in 77 Staaten Zahlen zu Asylanträgen unbegleiteter Minderjähriger gesammelt und kommt dabei für das Jahr 2013 auf eine Gesamtzahl von fast 25000. Die fünf Hauptzielländer der Minderjährigen waren demnach in absteigender Ordnung Kenia, Schweden, Deutschland, Malaysia und das Vereinigte Königreich. Die wichtigsten Ursprungsländer waren Afghanistan, Südsudan, Somalia, die Demokratische Republik Kongo (Kongo-Kinshasa) und Burma. Unbegleitete Minderjährige aus Afghanistan suchten überwiegend in der EU Zuflucht, UM aus Südsudan fast ausschließlich im Nachbarland Kenia. Für andere wichtige Zielstaaten, etwa die USA oder Südafrika, liegen keine vergleichbaren Asyldaten vor. In den USA wurden laut UNHCR 2013 jedoch über 41000 unbegleitete Minderjährige von den Grenz- und Zollbehörden aufgegriffen. Sie kamen überwiegend aus Mexiko, El Salvador, Guatemala und Honduras. Die Flucht unbegleiteter Minderjähriger erscheint damit auf dem amerikanischen Kontinent ein mindestens ebenso häufig vorkommendes Phänomen zu sein wie in Europa.

Tabelle 2: Unbegleitete minderjährige Asylantragsteller in der EU nach Herkunftsländern, 2012–2014

Tabelle 2: Unbegleitete minderjährige Asylantragsteller in der EU nach Herkunftsländern, 2012–2014

Aus europäischer Sicht ist festzustellen, dass in den vergangenen drei Jahren Afghanistan das mit Abstand wichtigste Herkunftsland von unbegleiteten Minderjährigen war, gefolgt von Eritrea, Somalia und Syrien (Tabelle 2). Die meisten Minderjährigen, die alleine in die EU kamen, waren 16 oder 17 Jahre alt. 2013 fielen rund 65 Prozent in diese Altersgruppe. Weitere 25 Prozent waren 14 oder 15 Jahre alt; die restlichen zehn Prozent waren jünger als 14. In den allermeisten Fällen sind es Jungen, die sich alleine auf den Weg machen oder nach Europa geschickt werden; der Anteil der Mädchen unter den unbegleiteten Minderjährigen lag 2013 bei gerade einmal knapp 14 Prozent.

Fluchtursachen und -hintergründe

Die Frage, warum sich Kinder ohne Eltern oder andere erwachsene Angehörige auf die Flucht begeben, ist sozialwissenschaftlich noch ungenügend erforscht. Dem BAMF zufolge kommen unbegleitete Minderjährige vielfach aus Gründen nach Deutschland, die ebenso auch auf Erwachsene zutreffen können: Sie fliehen vor Kriegen, Bürgerkriegen, Krisen, Unruhen und Konflikten sowie vor Armut und Naturkatastrophen. Auch (drohende) politische Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen oder religiösen Bevölkerungsgruppe kann eine Fluchtursache sein. Daneben hat das Bundesamt auch kinder- oder jugendspezifische Fluchtgründe beobachtet, vor allem bei Mädchen und jungen Frauen, beispielsweise drohende Genitalverstümmelung, Zwangsheirat, sexueller Missbrauch oder Zwangsprostitution. Kinder beider Geschlechter können zudem von Ausbeutung, Sklaverei oder Kinderarbeit betroffen sein, von Verfolgung wegen Wehrdienstverweigerung, oder auch drohender Zwangsrekrutierung als Kindersoldaten. Ferner kommen diffusere Motivationen infrage; mitunter wählen Familien ein Kind aus, das bewusst in der Erwartung nach Europa geschickt wird, dass es dort sicherer leben, sich eine Ausbildung verschaffen oder arbeiten und später durch Rücküberweisungen zum Lebensunterhalt der Familie beitragen kann.

Manchmal wird auch erwartet, dass Kinder als "Anker" dienen können: In Fällen, in denen einem minderjährigen Kind ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zum Zweck der Schutzgewährung erteilt wird, kann es, je nach Rechtslage, für dieses Kind möglich sein, seine Eltern als Erziehungsberechtigte nachziehen zu lassen. Wenn diese dann auch ein Aufenthaltsrecht bekommen, können sie wiederum weitere minderjährige Kinder nachziehen lassen. In Deutschland beispielsweise können die Eltern eines unbegleiteten Kindes, das als Flüchtling anerkannt wurde, eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält. Die sonst für den Familiennachzug geltenden Bedingungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels (bezüglich der Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts und des Vorhandenseins von ausreichendem Wohnraum) greifen in solchen Fällen nicht.

Eine vom UNHCR finanzierte Feldstudie in Afghanistan, in deren Rahmen unter anderem Familien in verschiedenen Regionen des Landes befragt wurden, kam 2014 zu dem Ergebnis, dass Kinder meist aufgrund einer Kombination mehrerer Push-Faktoren ihre Heimat verlassen und nach Europa fliehen, darunter Armut, Unsicherheit, mangelhafte Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen sowie Erwartungen von Familienmitgliedern. Den Forscherinnen zufolge trafen die betroffenen Kinder die Fluchtentscheidung oft nicht alleine. Vielmehr waren die Familienoberhäupter beteiligt, und in Großfamilien wurden Ersparnisse zusammengelegt und Kredite oder Hypotheken aufgenommen, um ein Kind auf die Reise nach Europa schicken zu können.

Schließlich sind als erklärende Faktoren auch Situationen denkbar, wie sie der britische Filmemacher Michael Winterbottom in dem Drama "In This World – Aufbruch ins Ungewisse" (2002) schilderte: Eltern und Angehörige können auch während der Flucht nach Europa ums Leben kommen, sodass ihre Kinder letztlich alleine ankommen. Winterbottoms Film, der die Flucht zweier Jugendlicher von Afghanistan nach London realitätsnah nacherzählt, enthält eine besonders bedrückende Episode, in der Flüchtlinge im Frachtcontainer eines Schiffes von der Türkei nach Italien geschmuggelt werden. Die Erwachsenen ersticken während der langen Fahrt in dem luftdichten Container, nur ein Säugling bleibt am Leben. So makaber es ist – der Tatsache, dass in den europäischen Statistiken über unbegleitete Minderjährige in Asylverfahren auch Kleinkinder vorkommen, können derartige Umstände zugrunde liegen. Auch kommt es vor, dass Erwachsene nach der Ankunft in einen anderen EU-Mitgliedsstaat weiterwandern oder ins Herkunftsland zurückkehren, ihre Kinder aber zurücklassen.

Herausforderungen für Ämter und Behörden

Die Ankunft unbegleiteter Minderjähriger stellt die für asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren oder auch Jugendschutzmaßnahmen zuständigen Behörden in den EU-Staaten vor beträchtliche Herausforderungen. Während die Prüfung eventueller Verfolgungstatbestände im Rahmen von Asylverfahren auch bei Erwachsenen komplex ist und stets ein Risiko von Fehleinschätzungen besteht, sind Verfahren bei Kindern besonders anspruchsvoll. Asylbehörden, die ihren Auftrag ernst nehmen, müssen sensibel vorgehen, da von Kindern nicht unbedingt erwartet werden kann, dass sie bei Asylanhörungen wissen, worauf es ankommt, nämlich die individuellen Fluchtgründe nachvollziehbar und glaubhaft zu schildern. Zwar können die Behörden hinsichtlich der "Glaubwürdigkeit" des Vortrags von Kindern niedrigere Maßstäbe ansetzen als bei Erwachsenen. Zudem ist das Kindeswohl besonders zu beachten. Hinsichtlich der Schutzgewährung gilt aber, dass für Kinder dieselben Kriterien und Voraussetzungen gelten wie für erwachsene Antragsteller. Minderjährigkeit und die Abwesenheit von Erziehungsberechtigten sind allein noch keine Gründe für eine Schutzgewährung.

In Deutschland wird unbegleiteten Minderjährigen seit einigen Jahren weit häufiger Schutz gewährt als erwachsenen Asylantragstellern. 2013 bekam rund ein Viertel aller Asylbewerber Flüchtlingsschutz, Asyl nach dem Grundgesetz oder einen subsidiären Schutzstatus; bei UM war die Schutzquote mehr als doppelt so hoch, nämlich 57 Prozent. Insgesamt traf das BAMF 1024 Entscheidungen über Asylanträge von unbegleiteten Minderjährigen. In 181 Fällen wurde dabei Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder Asyl nach Artikel 16a Grundgesetz gewährt. In weiteren 399 Fällen wurden Abschiebungsverbote ausgesprochen ("subsidiärer Schutz"). Die Anträge von 380 unbegleiteten Minderjährigen wurden abgelehnt, und in 64 Fällen wurden Asylverfahren anderweitig erledigt. In den Vorjahren war die Schutzquote meist deutlich niedriger: 2010 erhielten nur rund 36 Prozent der Minderjährigen einen positiven Entscheid in erster Instanz, 2007 nur 10 Prozent.

Irreguläre Einreise

Probleme beim behördlichen Umgang mit schutzsuchenden unbegleiteten Minderjährigen beginnen jedoch bereits bei der Einreise. Wie Erwachsene benötigen Minderjährige aus Nicht-EU-Staaten für den Grenzübertritt nach Deutschland einen Reisepass und gegebenenfalls ein Visum. Visa müssen bei einer deutschen Auslandsvertretung im Herkunftsland beantragt werden. Unbegleitete Minderjährige haben dazu jedoch oft keine Möglichkeit. In vielen Ländern gibt es aufgrund von Krisen oder Kriegshandlungen keine funktionierende Verwaltung, die einen Pass ausstellen könnte, und die Botschaften und Konsulate möglicher Zufluchtsländer sind nicht immer zugänglich oder erreichbar. Aufgrund ihres Alters und ihrer Situation erfüllen die meisten unbegleiteten Minderjährigen zudem nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Visums. Die Einreise in die Bundesrepublik erfolgt deshalb meistens irregulär. Dies trifft auch für andere EU-Staaten zu, die dem Schengenraum angehören und daher die gleichen Visa- und Grenzübertrittsbestimmungen anwenden.

Drittstaatsangehörigen, die die Einreisebestimmungen nicht erfüllen, verweigern die deutschen Grenzschutzbehörden grundsätzlich die Einreise. Dies gilt auch dann, wenn die betroffenen Personen minderjährig sind. Ergeben sich aus den Äußerungen unbegleiteter Minderjähriger gegenüber der Bundespolizei jedoch Hinweise darauf, dass sie Schutz in Deutschland suchen, haben die Beamten unverzüglich das Jugendamt zu informieren. Nach der Inobhutnahme durch das Jugendamt und der Bestellung eines Vormunds kann dann ein Asylantrag eingereicht werden.

2014 griff die Bundespolizei insgesamt 1087 unbegleitete Minderjährige, die als unter 16 Jahre alt eingeschätzt wurden, an deutschen Außengrenzen oder im grenznahen Gebiet auf. Fast alle (1034) wurden an Jugendämter übergeben. 28 wurde die Einreise verweigert.

Problematische Verfahren der Alterseinschätzung

Was für die Behörden oft am schwierigsten ist und zu Unsicherheiten und Schutzlücken führen kann, ist die Tatsache, dass viele unbegleitete Kinder und Jugendliche bei der Einreise keine Identitätsdokumente mit sich führen. Sie können somit ihr Alter häufig nicht nachweisen. Manchmal können junge Erwachsene vorgeben, minderjährig zu sein, weil sie sich dadurch mehr Hilfe und einen positiven Ausgang des Asylverfahrens versprechen. Mitunter kann es aber auch sein, dass Kinder behaupten, bereits erwachsen zu sein, zum Beispiel weil sie arbeiten und Geld nach Hause schicken wollen. Um zu klären, ob ein allein eingereister Jugendlicher, bei dem die Altersfrage nicht auf der Basis von Papieren geklärt werden kann, Jugendhilfemaßnahmen braucht und ob ein Vormund bestimmt werden muss, greifen die Behörden daher auf "fiktive Altersfestsetzungen" zurück. Diese können von Jugendämtern, Ausländerbehörden, der Bundespolizei oder dem BAMF vorgenommen werden.

Die für Alterseinschätzungen angewandten Methoden unterscheiden sich erheblich. In den EU-Staaten kommen die unterschiedlichsten Techniken vor. Ärztliche Untersuchungen einschließlich Röntgenaufnahmen sind in zahlreichen EU-Staaten gängige Praxis, psychologische Alterseinschätzungen eher selten. Auch in Deutschland variieren die Verfahren beträchtlich. Vielerorts erfolgt lediglich eine "Inaugenscheinnahme" durch das örtliche Jugendamt im Rahmen eines Erstgesprächs, vereinzelt auch gemeinsam mit Personal der zuständigen Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber oder der Ausländerbehörde. Manchmal werden bei bleibenden Zweifeln hinsichtlich des Alters zusätzlich medizinische Untersuchungen unternommen. Übliche Methoden sind ganzkörperliche Untersuchungen, Gebissuntersuchungen und radiografische Untersuchungen des Handwurzelknochens sowie des Schlüsselbeins. Medizinische Altersfeststellungen sind jedoch umstritten; nicht wenige Ärzte sind der Meinung, dass es für Röntgenaufnahmen zur Altersfestsetzung keine medizinische Indikation gibt, und dass entsprechende Untersuchungen daher unzulässig oder sogar strafbar sind. Außerdem kann das Knochenalter einer Person von ihrem chronologischen Alter abweichen.

Auf EU-Ebene wurden hinsichtlich der Altersfestsetzung bei unbegleiteten Minderjährigen in den vergangenen Jahren einige Fortschritte gemacht. Die 2010 gegründete Asylunterstützungsagentur EASO veröffentlichte Ende 2013 einen umfangreichen Bericht zu Methoden der Altersfeststellung. Sie empfiehlt darin unter anderem, dass je nach Einzelfall die am wenigsten invasiven Methoden gewählt werden sollten. So sollten medizinische Verfahren nur zum Einsatz kommen, wenn andere Möglichkeiten bereits ausgeschöpft sind. Außerdem dürfe die Weigerung eines Jugendlichen, an einer Altersfeststellung mitzuwirken, nicht automatisch zur Ablehnung des Asylantrags führen.

Rechtliche Spannungsfelder

Insgesamt verweisen die in diesem Artikel exemplarisch herausgegriffenen Probleme und Herausforderungen im Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen auf ein Spannungsfeld zwischen Kindeswohl und Kinderrechten auf der einen und aufenthaltsrechtlichen Restriktionen auf der anderen Seite: Die Zielstaaten unbegleiteter Minderjähriger haben ein Interesse daran, Zuwanderung zu steuern und zu begrenzen. Es soll vermieden werden, mit allzu generösen Praktiken indirekt dazu beizutragen, dass sich noch mehr Kinder und Jugendliche auf den gefährlichen Weg nach Europa machen oder von ihren Familien geschickt werden. Viele behördliche Praktiken, etwa die asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren einschließlich der Altersfeststellung oder der Rückführung, haben ihre Ursprünge in dieser Doktrin.

Eine Besonderheit des deutschen Aufenthaltsrechts, die international einzigartig ist und immer mehr als Anachronismus erscheint, verdeutlicht dies exemplarisch: Jugendliche Ausländerinnen und Ausländer sind in Deutschland nicht erst mit 18 Jahren, sondern bereits ab 16 aufenthalts- und asylrechtlich handlungsfähig. Dies hat dazu geführt, dass 16- und 17-Jährige in der Praxis oft wie Erwachsene behandelt werden, auch wenn mittlerweile präzisiert wurde, dass Asylanhörungen erst stattfinden sollen, wenn ein Vormund bestellt und sichergestellt ist, dass dieser bei der Anhörung anwesend sein kann.

Auf der anderen Seite stehen Kinder unter besonderem Schutz, wobei zwischen verschiedenen Altersgruppen nicht differenziert wird. Die 1989 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete Kinderrechtskonvention definiert Kinder als Menschen, die das 18. Lebensjahr noch nicht abgeschlossen haben; sie ist in allen EU-Mitgliedsstaaten geltendes Recht. Seit 2010, als die Bundesregierung einen Vorbehalt zurücknahm, mit dem sie zuvor klarstellte, dass Kinderrechte nicht zur Umgehung des deutschen Ausländerrechts genutzt werden dürften, gilt sie vollumfänglich auch in Deutschland.

Aus diesem Antagonismus zwischen Kinderrechten und Zuwanderungsbegrenzung ergibt sich, dass die verschiedenen Praktiken und Verfahren, mit denen Zuflucht suchende unbegleitete Minderjährige in Deutschland und anderen Ländern konfrontiert sind, im Fluss sind, beständig weiterentwickelt werden und häufig im Interesse der Parlamente, der Medien und internationaler Organisationen stehen. Die EU-Kommission nahm 2010 einen Aktionsplan für unbegleitete Minderjährige an, in dem unter anderem die Notwendigkeit der Prävention unsicherer Migration nach Europa, vermehrter Anstrengungen zur Suche nach Familienangehörigen, einer kindgerechteren Gestaltung und Beschleunigung der Asylverfahren und der Bereitstellung adäquater Unterbringungs- und Betreuungsmöglichkeiten betont wird. Auch forderte sie die Mitgliedsstaaten auf, unbegleiteten Minderjährigen, die nicht in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden können, einen sicheren rechtlichen Status zu verleihen.

Fazit und Ausblick

Fünf Jahre nach der Verabschiedung des EU-Aktionsplans lässt sich feststellen, dass die Situation von unbegleiteten Minderjährigen in der Öffentlichkeit heute stärker thematisiert wird, als es früher der Fall war, und dass in vielen Staaten sowie lokal und regional an verbesserten Verfahren gearbeitet wurde. Gleichwohl bedarf es weiterhin einer genaueren Auseinandersetzung mit legitimen Schutzansprüchen von unbegleiteten Minderjährigen und ihren Integrationsperspektiven.

Die für 2015 vorgesehene Auswertung der Umsetzung des EU-Aktionsplans zu unbegleiteten Minderjährigen, die voraussichtlich mit einer Diskussion über ein Folgeprogramm einhergehen wird, böte hierfür eine gute Gelegenheit. Im Zuge der gegenwärtigen EU-weiten Debatte über die Notwendigkeit einer gleichmäßigeren Verteilung von schutzsuchenden Personen unter den Mitgliedsstaaten und die Ausweitung von Aufnahmeprogrammen (resettlement), über die Flüchtlinge direkt aus Krisengebieten oder Transitländern aufgenommen werden können, stellt sich zudem die Frage, inwieweit auch die besondere Gruppe der unbegleiteten Minderjährigen hier besondere Beachtung finden sollte. Eine Möglichkeit wäre, dass die bestehenden Aufnahmekontingente erweitert werden, dass mehr EU-Länder als bisher solche Programme auflegen, und dass dabei eine bestimmte Anzahl von Plätzen für Kinder reserviert wird, die ihre Eltern verloren haben oder ohne Angehörige aus Kriegs- und Katastrophengebieten geflohen sind.

In der fachlichen Auseinandersetzung sollte unterdessen eine grundsätzliche Erwägung nicht in Vergessenheit geraten, die angesichts der demografischen Entwicklung in vielen EU-Staaten eine Selbstverständlichkeit sein sollte: Europa altert, und mehrere Staaten sehen ohne Zuwanderung schrumpfenden Bevölkerungszahlen entgegen. Gleichzeitig spricht wenig dafür, dass sich die politische Lage in vielen der hauptsächlichen Herkunftsregionen so ändert, dass sich in Zukunft weniger unbegleitete Minderjährige auf den Weg nach Europa machen werden.

Ihr Zuzug sollte daher stärker als Chance wahrgenommen und pragmatisch gehandhabt werden. Minderjährige, die es schaffen, alleine und unter großen Gefahren nach Europa zu kommen und hier in einer ihnen gegenüber abweisend wirkenden Gesellschaft vorläufig Fuß zu fassen, sind oft starke Persönlichkeiten mit bedeutenden Entwicklungspotenzialen und Ambitionen. Die aufnehmenden Gesellschaften sollten sich um ihr Wohlergehen sowie ihre Ausbildung und Integration bemühen, statt sie als kostspielige Bürde zu sehen, in zweifelhafte rechtliche Konstrukte wie die Duldung zu schieben oder neue einreise- und aufenthaltsrechtliche Hürden zu errichten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Eurostat-Datenbank, Stand 13.4.2015.

  2. Da nicht alle ausländischen UM als Flüchtlinge anerkannt werden, erscheint die kürzere Bezeichnung korrekter.

  3. Vgl. European Commission/European Migration Network, A Descriptive Analysis of the Impacts of the Stockholm Programme 2010–2013, Brüssel 2014, S. 91.

  4. Vgl. Andreas Müller, Unbegleitete Minderjährige in Deutschland, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Working Paper 60/2014, S. 30. Duldungen bedeuten lediglich eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung und damit eine unsichere Rechtsstellung, die jederzeit widerrufen werden kann (Paragraf 60a Aufenthaltsgesetz).

  5. Vgl. Statistisches Bundesamt, Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Vorläufige Schutzmaßnahmen 2013, Wiesbaden 2014, S. 12.

  6. Vgl. UNHCR, Statistical Yearbook 2013, Genf 2014, S. 58.

  7. Vgl. UNHCR, Regional Office for the United States and the Caribbean, Children on the Run. Unaccompanied Children Leaving Central America and Mexico and the Need for International Protection, Washington 2014, S. 16.

  8. Vgl. Eurostat-Datenbank, Stand: 13.4.2015.

  9. Vgl. Bernd Parusel, Unbegleitete minderjährige Migranten in Deutschland. Aufnahme, Rückkehr und Integration, BAMF Working Paper 26/2009, S. 19f. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt European Migration Network, Policies on Reception, Return and Integration Arrangements for, and Numbers of, Unaccompanied Minors – an EU Comparative Study, Brüssel 2010, S. 28–41. Der Bericht gibt außerdem zu Bedenken, dass unbegleitete Kinder auch Opfer von Menschenhandel sein können.

  10. Vgl. European Migration Network (Anm. 9), S. 34.

  11. Vgl. Paragraf 36 Aufenthaltsgesetz.

  12. Vgl. Chona R. Echavez et al., Why Do Children Undertake the Unaccompanied Journey? Motivations for Departure to Europe and Other Industrialised Countries From the Perspective of Children, Families and Residents of Sending Communities in Afghanistan, Kabul 2014.

  13. Vgl. BAMF, Das Bundesamt in Zahlen 2013. Asyl, Migration und Integration, Nürnberg 2014, S. 45.

  14. Vgl. A. Müller (Anm. 4), S. 27.

  15. Vgl. B. Parusel (Anm. 9), S. 45. Die Entwicklung der Schutzquote ist stets davon abhängig, aus welchen Ländern die Asylbewerber überwiegend kommen und welche Asylgründe sie vorbringen. 2013 lag die Schutzquote bei Asylantragstellern aus Syrien bei 94,3 Prozent, bei Antragstellern aus Russland dagegen nur bei 2,2 Prozent. Nimmt in einem Jahr die Zahl der Antragsteller aus einem Land mit hoher Schutzquote im Verhältnis zu anderen Ländern zu, steigt auch die Schutzgewährungsquote insgesamt. Vgl. BAMF (Anm. 13), S. 48. Zum Teil kann die gestiegene Schutzquote bei UM aber auch darauf zurückgeführt werden, dass das Bewusstsein der Behörden für kinderspezifische Fluchtgründe zugenommen hat, nicht zuletzt dank der Aufklärungsarbeit von Hilfsorganisationen wie dem UNHCR oder dem Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (B-UMF) und aufgrund eines intensiveren Erfahrungsaustauschs auf europäischer Ebene. Vgl. hierzu auch Bernd Parusel, Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – Aufnahme in Deutschland und Perspektiven für die EU, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, (2010) 7, S. 233–239, hier: S. 237.

  16. Die Finanzierung der Reise- und Aufenthaltskosten ist neben der Plausibilität des Reisezwecks und der Rückkehrbereitschaft eine der grundsätzlichen Visumerteilungsvoraussetzungen. Vgl. Antwort der Bundesregierung auf Kleine Anfrage, 8.7.2010, Bundestagsdrucksache (BT-Drs.) 17/2550, S. 7.

  17. Vgl. A. Müller (Anm. 4), S. 15.

  18. Vgl. Antwort der Bundesregierung auf Kleine Anfrage, 28.1.2015, BT-Drs. 18/3850, S. 49.

  19. Vgl. Deutscher Caritasverband, Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Fluchtpunkte 2/2014, S. 9.

  20. Vgl. European Migration Network (Anm. 9), S. 49–54.

  21. Rechtsgrundlage hierfür ist Paragraf 49 Absätze 3 und 5 Aufenthaltsgesetz.

  22. Vgl. Winfried Eisenberg, Fachärztliche Stellungnahme. Altersfestsetzung bei jugendlichen Flüchtlingen, Herford 2012, S. 2.

  23. Vgl. European Asylum Support Office, Age Assessment Practice in Europe, Luxemburg 2014, S. 6f.

  24. Vgl. Thomas Berthold/Niels Espenhorst, Mehr als eine Anhörung – Perspektiven für das Asylverfahren von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, in: Asylmagazin, (2011) 1–2, S. 3–8, hier: S. 4.

  25. Vgl. B. Parusel (Anm. 9), S. 16.

  26. Vgl. Europäische Kommission, Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament. Aktionsplan für unbegleitete Minderjährige (2010–2014), 6.5.2010, KOM(2010)213 endgültig.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Bernd Parusel für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

Dr. phil., geb. 1976; Forschungssekretär bei der Schwedischen Delegation für Migrationsstudien (DELMI) in Stockholm; Experte für den nationalen Kontaktpunkt im Europäischen Migrationsnetzwerk (EMN) beim schwedischen Migrationsamt Migrationsverket, Box 44, 776 21 Hedemora/Schweden. E-Mail Link: bernd.parusel@migrationsverket.se