Flüchtlingspolitik
Was regelt die EU?
Flüchtlingspolitik im deutschen Föderalismus ist längst nicht mehr ohne die Einbettung ins europäische Mehrebenensystem zu denken. Als Meilenstein auf EU-Ebene ist dabei das 2013 verabschiedete Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) zu nennen, in dem einige Verordnungen und Richtlinien zusammengefasst, neu formuliert und EU-weite Mindeststandards festgesetzt worden sind, beispielsweise zur Feststellung des Flüchtlingsstatus, zur Führung des Asylverfahrens und zur menschenwürdigen Aufnahme von Asylsuchenden.
Allerdings bemängeln Kritiker, dass Anerkennungsquoten, Unterbringungsbedingungen und soziale Leistungen zwischen den Mitgliedsstaaten weiterhin stark differieren.
Was entscheidet der Bund?
In Deutschland als föderalem Bundesstaat ist Migrationspolitik in wesentlichen Teilen durch Bundesgesetze geregelt, wobei für Flüchtlingspolitik überwiegend die konkurrierende Gesetzgebung gilt (Artikel 74 Absatz 1 Nummer 4 und 6 GG).
Neben dem Ablauf des Asylverfahrens legt die Bundesebene auch die Rahmenbedingungen für den Zugang von Asylsuchenden zu weiten Teilen des gesellschaftlichen Lebens fest. Wichtige Grundlage dafür ist das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), dessen jüngste Novellierung im März 2015 in Kraft trat. Es regelt, welche Leistungen Asylsuchenden in den ersten 15 Monaten für "Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheitspflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts" oder für die "Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände" zustehen. Zudem trifft es Aussagen über den Zugang zu Arbeitsgelegenheiten.
Die Federführung für das AsylbLG hat auf Bundesebene das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Die Verantwortung für asyl- und aufenthaltsrechtliche Fragen sowie die Fachaufsicht über das BAMF liegt dagegen beim Bundesministerium des Innern. In dieser Ressortzuständigkeit manifestiert sich ein grundlegendes Spannungsverhältnis zwischen einem wohlfahrtsstaatlichen Ansatz auf der einen Seite (Versorgung und arbeitsmarktorientierte Integration) und einem ordnungsrechtlichen auf der anderen (Migrationskontrolle). Dieser Konflikt prägt die Flüchtlingspolitik auf Bundesebene und setzt sich, da er dort institutionell nicht gelöst wird, als ständiges Ringen um Kohärenz auf Ebene der Länder und Kommunen fort.
Was machen die Länder?
Bundesländer haben trotz der beschriebenen Regelungskompetenz des Bundes erhebliche Spielräume, und zwar sowohl in Fragen der gesellschaftlichen Teilhabe von Flüchtlingen als auch im primär aufenthaltsrechtlichen Bereich. Eine wichtige aufenthaltsrechtliche Kompetenz ist, dass die obersten Landesbehörden humanitäre Aufenthaltstitel vergeben können – für Einzelfälle eigenständig über die Einsetzung von sogenannten Härtefallkommissionen und für Gruppen in Abstimmung mit dem Bundesinnenministerium.
Daneben hat der Bund die Zuständigkeit für "Aufnahme, Unterbringung und Gewährung (…) existenzsichernder Leistungen",
Was bleibt für die Kommunen?
Diese regional unterschiedliche Delegation von Aufgaben ist nur deshalb möglich, weil Kommunen staatsrechtlich gesehen keine eigene Ebene, sondern Teil des jeweiligen Bundeslandes sind.
Eine Pflichtaufgabe der Kommunen ist der Vollzug des Aufenthaltsrechts. Insbesondere wenn ein Asylantrag abgelehnt wird, stellen kommunale Ausländerbehörden fest, ob Abschiebungshindernisse vorliegen und für wie lange gegebenenfalls eine "Duldung", also die Aussetzung einer Abschiebung, ausgestellt werden kann. Sie entscheiden auch darüber, ob Asylsuchende ihrer "Mitwirkungspflicht", beispielsweise bei der Passbeschaffung, nachgekommen sind. Erkennen sie hier Versäumnisse, kann etwa der Zugang zu Arbeit, Ausbildung oder Studium versagt werden. Einige Studien legen die Vermutung nahe, dass kommunale Behörden ihre damit einhergehenden Ermessensentscheidungen gezielt und sehr unterschiedlich nutzen.
Auch wenn Kommunen damit durchaus migrationssteuernd agieren, werden sie in der Migrationsforschung überwiegend als Ort von Integrationspolitik bezeichnet.
An dieser Stelle wird deutlich, dass die vom Land übertragenen Pflichtaufgaben eng mit Herausforderungen der kommunalen Selbstverwaltung verknüpft sind: Flüchtlingspolitische Konzepte auf Ebene der Kommune entstehen deshalb meist aus der Pflichtaufgabe der Unterbringung und verbinden diese mit freiwilligen Leistungen. Darunter können beispielsweise Deutschkurse, Migrationsberatungsstellen, Begegnungsprojekte oder Koordinierungsstellen für ehrenamtliches Engagement fallen. Wer von kommunaler Flüchtlingspolitik spricht, meint daher im Ergebnis letztlich kommunale Integrationspolitik für Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus.
Ginge es nach dem Buchstaben des Bundesaufenthaltsgesetzes (AufenthG), dann dürfte es eine so definierte Flüchtlingspolitik gar nicht geben, denn nach Paragraf 44 haben Personen ohne gesicherte Bleibeperspektive zum Beispiel keinen Anspruch auf den bundesgeförderten Integrationskurs. Kommunen jedoch, die davon ausgehen müssen, dass Flüchtlinge auch nach Ablehnung des Asylantrags mit einer Duldung in ihrer Zuständigkeit verbleiben, haben meist ein Interesse daran, möglichst früh in Integrationsangebote zu vermitteln. Ob und welche Maßnahmen eine Kommune anbietet, hängt von ihren finanziellen Ressourcen ab – und vom politischen Willen, diese zu akquirieren.
Flickenteppich Flüchtlingspolitik: Drei Beispiele
Bereits anhand der groben Skizze der Gestaltungsspielräume von Ländern und Kommunen lässt sich erahnen, dass Flüchtlingspolitik im deutschen Föderalismus durch eine große Vielfalt in der regionalen Praxis gekennzeichnet ist – und damit durch eklatant unterschiedliche Lebensrealitäten für Flüchtlinge. Drei Beispiele illustrieren dies schlaglichtartig.
Deutschkurse.
Zu den wichtigsten freiwilligen Leistungen bei der Integration von Flüchtlingen zählen Deutschkurse. In Stuttgart erhalten Asylsuchende einen städtischen Kurs von 200 Stunden.
Gesundheitsversorgung.
Ein zweites Beispiel erwächst aus der Pflichtaufgabe der Kommunen zur Gesundheitsversorgung nach Paragraf 4 AsylbLG. In zahlreichen Kommunen benötigen Asylsuchende für jeden Arztbesuch einen sogenannten Behandlungsschein, der vom Sozialamt nach Rücksprache mit dem Arzt ausgestellt wird. Auch Rezepte bedürfen einer Genehmigung durch die Behörde.
Berufsschulpflicht.
Das dritte Beispiel kommt aus einer traditionellen Domäne der Länder: der Bildung. Bundesweit besteht für Asylsuchende faktisch Schulpflicht beziehungsweise ein Schulbesuchsrecht im Primar- und im Sekundarbereich I.
Damit hat der oft als restriktiv bezeichnete Freistaat ein bislang bundesweit einzigartiges Modell der Bildungsintegration geschaffen. Interessant mit Blick auf föderale Prozesse ist, dass die Initiative nicht vom Land ausging, sondern von einem Projekt in freier Trägerschaft, der Münchener SchlaU-Schule. Die Landeshauptstadt München unterstützte das Vorhaben seit 2001 finanziell und beeinflusste so mittelbar die Flüchtlingspolitik des Landes.
Wie stark die jeweilige flüchtlingspolitische Praxis von einem spezifischen lokalen "Klima", von expliziten politischen Vorgaben oder von den handelnden Akteuren bestimmt wird, ist bislang nur in Ansätzen erforscht. Gleiches gilt für die Kopplung zwischen den Ebenen. Es ist jedoch eine Tatsache, dass die deutsche Flüchtlingspolitik von einer Variationsbreite gekennzeichnet ist, die sich auch auf die unterschiedlichen Teilhabechancen von Flüchtlingen auswirkt.
Funktioniert der Föderalismus?
Wie ist diese Vielfalt zu bewerten? Der Blick auf zwei Funktionen des Föderalismus kann hier weiterhelfen. Die erste ist aus dem Subsidiaritätsprinzip abgeleitet: Aufgaben, die von regionalen Gegebenheiten abhängig sind, können am besten am Ort selbst gelöst und entschieden werden. Diese Funktion ist beispielsweise für die Suche nach Unterkünften sinnvoll, hier ist zweifellos dezentrale Entscheidungskompetenz notwendig.
Aber gilt das ebenso für die Berufsschulpflicht oder Deutschkurse? Ein Argument, das auch in diesen Bereichen für dezentrale Entscheidungskompetenzen sprechen und eine Vielfalt der Praxis gutheißen würde, wäre das des föderativen Wettbewerbs. Dieser meint, dass im Föderalismus die Bundesländer (und Kommunen) um die besten Lösungen ringen und so die Innovationskraft insgesamt befördern – abgeleitet aus den Prinzipien des freien Marktes, in dem Wettbewerb die größtmögliche Wohlfahrt stiftet.
Zentrale Voraussetzung für ein positives Ergebnis ist jedoch, dass Belohnungs- und Sanktionsmöglichkeiten existieren. Ganz praktisch könnten dies zum Beispiel regionale Wahlen oder Wohnsitz- beziehungsweise Standortverlagerungen sein – etwa von Unternehmen, die auf regionale Wirtschaftspolitik reagieren. Beide Sanktionsmechanismen greifen in der Flüchtlingspolitik aber nur unvollständig: Erstens haben Drittstaatsangehörige (Nicht-EU-Bürger) in Deutschland auf keiner Ebene das Wahlrecht. Die Schaffung (un)attraktiver Rahmenbedingungen für Flüchtlinge wird somit nur von der aufnehmenden Bevölkerung bewertet. Zweitens können Asylsuchende und Geduldete nicht frei entscheiden, in welchem Bundesland oder in welcher Kommune sie leben möchten. Sie können also über lokale Flüchtlingspolitik nicht "mit den Füßen abstimmen".
Wollte man zumindest den zweiten Sanktionsmechanismus stärken, so könnte man über die Aufhebung der Wohnsitzauflage nachdenken. Doch welche Konsequenzen hätte dies für die Flüchtlingspolitik im Föderalismus? Würden Kommunen mit attraktiven Rahmenbedingungen um Asylsuchende buhlen? Oder würden sie im Gegenteil versuchen, als möglichst unbeliebte Destination zu gelten? Um in der Vision eines föderativen Wettbewerbs flüchtlingspolitischer Praxis die Wahrscheinlichkeit des ersten Szenarios zu erhöhen, müssten zusätzlich zur bundesweiten Freizügigkeit weitere, tief greifende Reformen erfolgen. Unabdingbar wäre eine weitreichende und konsequente Dezentralisierung flüchtlingspolitischer Kompetenzen, beispielsweise hinsichtlich des Arbeitsmarktzugangs.
Doch ist Flüchtlingspolitik überhaupt das richtige Feld für föderativen Wettbewerb, zumal im deutschen Selbstverständnis eines kooperativen Föderalismus? Wenn man – wie dies Artikel 74 Absatz 1 Nummer 4 und 6 GG nahelegen – die Flüchtlingsaufnahme als vom Bund koordinierte, gemeinsame humanitäre Aufgabe aller föderalen Ebenen versteht, müsste die unterschiedliche flüchtlingspolitische Praxis in Ländern und Kommunen im Vergleich zur wettbewerblichen Sicht größere Sorge bereiten. Sie wäre nämlich als Anzeichen zu verstehen, dass das zumindest für einen Teil der Flüchtlingspolitik geltende Ziel der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet nicht erreicht ist. In der Konsequenz müsste der Bund auf eine Harmonisierung lokaler Praxis drängen – ohne dabei die fraglos existente, innovative "Labor-Funktion"
Fazit
Flüchtlingspolitik im deutschen Föderalismus ist durch eine Vielfalt lokaler Praxis und eine enge Verschränkung aller Ebenen gekennzeichnet. Dabei hat faktisch jede Ebene sowohl migrationspolitische als auch integrationspolitische Gestaltungsspielräume. Hinzu kommt, dass Bund und Länder den Widerspruch von ordnungsrechtlichen und wohlfahrtsstaatlichen Zielsetzungen in der Flüchtlingspolitik nicht auflösen, sondern ihn als schwelenden Konflikt gemeinsam mit bestimmten Aufgaben auf die jeweils nächste Ebene delegieren. Die Kommunen als letztes Glied in der Kette betonen wiederum die Verantwortung von Bund und Ländern.
Mit Blick auf die Übernahme von Verantwortung zur Harmonisierung der Flüchtlingspolitik scheint im deutschen Föderalismus, ähnlich wie auf EU-Ebene, zu häufig die zynische Devise "Rette sich, wer kann!" zu gelten. Für die betroffenen Menschen bedeutet diese Haltung, dass sie sich irgendwo auf einem Flickenteppich nicht selbst wählbarer Lebenswirklichkeiten wiederfinden. Es ist an der Zeit, sich zu entscheiden: entweder für eine vom Bund gesteuerte Harmonisierung lokaler Flüchtlingspolitik oder für einen föderativen Wettbewerb mit freier Wahl des Wohnsitzes und konsequenter Dezentralisierung von Entscheidungskompetenzen.