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Der Wiener Kongress und seine "diplomatische Revolution" | Wiener Kongress | bpb.de

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Der Wiener Kongress und seine "diplomatische Revolution" Ein kulturgeschichtlicher Streifzug

Heinz Duchhardt

/ 16 Minuten zu lesen

Neben anderen völkerrechtlichen Weichenstellungen wurde auf dem Wiener Kongress eine überfällige Neuordnung der Beziehungen zwischen den Staaten beschlossen: die endgültige Festlegung der diplomatischen Rangstufen. Damit wurde eine Grundlage für den diplomatischen Verkehr geschaffen, die bis heute fortwirkt.

Was im 17. Annex der Wiener Kongressakte im Juni 1815 verbindlich geregelt wurde, kam einer "diplomatischen Revolution" nahe. Die den Kongress dominierenden Hauptmächte – die Signatarmächte des im Frühsommer 1814 geschlossenen Ersten Pariser Friedens (Russland, Großbritannien, Österreich, Preußen, Spanien, Portugal und Schweden) sowie das sehr rasch zu diesem Mächtekartell wieder zugelassene Frankreich – hatten sich auf Anregung des französischen Außenministers Talleyrand im Dezember 1814 darauf verständigt, eine Kommission einzurichten, die sich mit dem Rang der Fürsten und ihrer Repräsentanten beschäftigte. Diese Kommission, der die Vertreter aller acht genannten Staaten angehörten, hatte insgesamt nur dreimal getagt und sich auf einen Bericht verständigt, der Mitte Januar 1815 dem zentralen Achterausschuss des Kongresses vorgelegt wurde.

Dass auf dem Feld des diplomatischen Ranges dringender Handlungsbedarf bestand, hatte seit Generationen nicht nur die jeweils Betroffenen, sondern auch die Autoren des Völkerrechts und der sich allmählich entwickelnden akademischen Disziplin der internationalen Beziehungen bewegt und zu einer Reihe von Werken zum "Theatrum Ceremoniale" geführt. Diplomatie und diplomatisches Zeremoniell waren seit dem Zeitpunkt zu einem "internationalen" Problem geworden, an dem die sich verfestigenden Gemeinwesen dazu übergegangen waren, mehr oder weniger regelmäßig Gesandte auszutauschen. Die Anfänge lassen sich in Italien lokalisieren, doch die Praxis des Diplomatenaustauschs mit dem primären Ziel, Kriege zu verhindern und Auswege aus Krisensituationen zu finden, war rasch zu einer gesamteuropäischen Erscheinung geworden, der sich nach und nach auch die peripheren Staaten anschlossen. Die vielen Handbücher, die seit dem 17. Jahrhundert erschienen und sich mit dem "perfekten" Diplomaten und seinen Qualitäten und Qualifikationen beschäftigten, waren freilich nur eine damit zusammenhängende Entwicklung; eine andere waren die Probleme, die sich vor Ort ergaben, wenn die Repräsentanten verschiedener fürstlicher Souveräne oder gar von Fürsten und Republiken zusammentrafen, sei es an einem Hof oder auf einem großen Kongress wie jenem in Wien.

Präzedenz als internationales Problem

Diese Probleme resultierten in erster Linie aus dem unterschiedlichen Rang, den die Entsendestaaten ihren Diplomaten beilegten, sowie aus den Unklarheiten, die hinsichtlich des Vorrangs, der "Präzedenz", bestanden. An der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert war zwar die eine oder andere päpstliche Rangtabelle – insbesondere die Anmerkungen des Zeremonienmeisters Paris de Grassis – entstanden, um der Kurie über die Probleme und Unsicherheiten bei der Einstufung von Diplomaten aus der gesamten Christenheit hinwegzuhelfen. Diese hatten jedoch nie allgemeine Anerkennung gefunden. Konsens bestand allenfalls über den Vorrang kaiserlicher Diplomaten, aber dahinter entstand ein perpetuierliches Gerangel, zunächst vor allem zwischen Spanien und Frankreich, dann auch zwischen den anderen Mächten, die eine öffentliche Aufwertung und Rangerhöhung anstrebten. Im 17. und frühen 18. Jahrhundert hatten sich solche Ambitionen von Möchtegern-Aufsteiger-Staaten gehäuft – sei es von Schweden oder Polen, von Dänemark oder Russland, von den Niederlanden oder Preußen.

In der Staatenfamilie bestand auch weitgehend Einigkeit darüber, dass das Recht zur Entsendung von "Ambassadeuren" ausschließlich den gekrönten Häuptern zustand, also vor allem nicht den Republiken wie den niederländischen Generalstaaten oder der Eidgenossenschaft. Wie aber waren Gemeinwesen zu behandeln und einzuordnen, die nach eigenem Selbstverständnis königliche Parität hatten, wie Venedig oder Savoyen, das seit den 1630er Jahren mit abenteuerlichen Argumentationsketten Königsgleichheit beanspruchte, aber erst im frühen 18. Jahrhundert mit der Königskrone ausgestattet wurde? Schon im Ancien Régime entwickelte sich ein fein abgestuftes, drei Ränge umfassendes System diplomatischer Rangstufen, die aber immer dann infrage standen, wenn niedrigrangige Diplomaten von Großmächten mit höherrangigen Diplomaten beispielsweise von Republiken zusammentrafen. Natürlich prätendierten auch die Reichsfürsten mit den Kurfürsten an der Spitze "Königsgleichheit" und fochten lange Kämpfe aus, um darin bestätigt zu werden. Der Rang eines Diplomaten war nicht zuletzt auch ein politisches Signal: Schickte Frankreich einen bloßen Gesandten an einen Hof, an dem traditionellerweise ein Ambassadeur amtierte, sollte damit natürlich etwas zum Ausdruck gebracht werden.

Da das System der Rangtabellen nicht funktionierte und es keine Instanz gab, die alternative Regeln aufstellte, verlagerte sich der Wettstreit der Staaten – sofern nicht auf die Ebene des Krieges – auf die Ebene des Zeremoniells: Präzedenz wurde zum Schlüsselbegriff des Staatenlebens und der Staatenkonkurrenz. Streitigkeiten an dritten Orten gab es zuhauf. Über diese teils blutigen Auseinandersetzungen insbesondere zwischen spanischen und französischen Diplomaten in London Mitte des 17. Jahrhunderts, über deren trickreiche Bemühungen, der Gegenseite beim Besuch eines neu angekommenen Diplomaten den Rang abzulaufen, Samuel Pepys köstlich berichtet, besonders häufig aber auch in Rom, einem Zentrum und Tummelplatz der frühneuzeitlichen Diplomatie und einem Ort, an dem die Päpste mit habsburgischen oder französischen Präferenzen einander abwechselten, drohten Kriege auszubrechen. Entschuldigungs- und Demutsakte wurden gefordert, und um solche Eklats zu vermeiden, gingen Diplomaten konkurrierender Staaten einander nicht selten ganz aus dem Weg – wenn denn der heimische Hof solche Akte politischer Klugheit erlaubte. Der Hof Ludwigs XIV. hatte dies sogar erzwungen: Spanische Diplomaten erschienen seit den 1660er Jahren grundsätzlich nicht mehr zu offiziellen Veranstaltungen, an denen französische Kollegen teilnahmen.

Natürlich brachen längst nicht immer die Diplomaten vor Ort solche Konflikte vom Zaun: Es waren die jeweiligen Fürsten, die die Dinge auf die Spitze trieben und aus einem Sessel mit Lehne oder einem Teppich, aus einer Karosse mit acht Pferden oder aus einer Anrede in der eigenen oder einer dritten Sprache eine Staatsaffäre machten, um vermeintliche Positionsvorteile im ewigen Ringen der Staaten um ihren Platz in der Hierarchie zu erwirken. Die diplomatischen Beziehungen zwischen der Kurie und Frankreich lagen im 18. Jahrhundert über viele Monate hinweg brach, da man dem französischen Botschafter eine lange Zeit benutzte Loge in der römischen Oper vorenthielt. Die Fürsten des 17. und 18. Jahrhunderts waren von einem unstillbaren monarchischen Ehrgeiz geprägt, von einer geradezu manischen Sucht nach Prestige. Dem hatten ihre Diplomaten in adäquater Weise möglichst massiv Ausdruck zu verleihen. Die Festlichkeiten, die Diplomaten an ihrem jeweiligen Dienstort anlässlich dynastischer Ereignisse ihres Entsendestaates, militärischer Erfolge oder Friedensschlüsse in Szene setzten, die Feuerwerke, Illuminationen und Bälle sind Legion und geradezu zu einem Kennzeichen jener Epoche geworden, die man lange als die des Absolutismus bezeichnet hat. Und die Konkurrenz war besonders inspirierend, wenn Diplomaten – wie während der großen Friedenskongresse der Vormoderne – gewissermaßen Haus an Haus wohnten und nicht nur das städtische Publikum durch ihre Aktivitäten zu beeindrucken suchten, sondern die ganze Welt. Dies geschah in Gestalt von Kupferstichen, die unmittelbar nach einem Event herausgebracht wurden.

Die Kunst, Frieden zu schließen

Im persönlichen Umgang verhielten sich die einander in befohlener Gegnerschaft gegenüberstehenden Diplomaten jedoch keineswegs wie Feuer und Wasser. Selbst bei Kriegszustand zwischen ihren Entsendestaaten war ihnen an dritten Orten ein zivilisierter Umgang durchaus gestattet, der gelegentlich sogar scharf mit den Spannungen unter Kollegen in der eigenen Delegation oder Mission kontrastierte. Bekannt ist beispielsweise der Fall, dass während eines französisch-spanischen Krieges ein französischer Botschafter in Rom seinen spanischen Amtskollegen vor einem geplanten Attentat gegen ihn warnte. Grundsätzliche Antipathien gab es gewiss auch. Die neuere Forschung hat jedoch den beachtlichen Grad an common sense unter den Protagonisten hervorgehoben, der auf ihrem Gefühl der gemeinsamen Zugehörigkeit zu einer Funktionselite fußte, die zu einem guten Teil aus Fachleuten bestand, die immer wieder aufeinandertrafen, sich gut kannten und auch familiär miteinander verkehrten. Sie wussten den anderen einzuschätzen und hatten ein Gespür dafür, wann Weiterverhandeln noch lohnte oder die rote Linie überschritten war. Die Diplomaten etwa auf den Friedenskongressen der ludovizianischen Epoche waren eine Art Sozialkörper, die das Dienstliche, Soziale und Private klar voneinander zu trennen wussten und eine Kunst des Fintierens, des psychischen Drucks, des Bluffs zu entwickeln wussten, sodass in der französischen Forschung nicht zufällig von der "Kunst des Verhandelns" und der "Kunst des Friedenschließens" die Rede ist.

Die Diplomaten auf den Friedenskongressen standen für eine begrenzte Zeit im Licht der Öffentlichkeit, solche Posten waren daher durchaus begehrt. Dies traf aber längst nicht auf jeden Auslandsposten zu. Anders als heute, wo Angehörige des Auswärtigen Dienstes sowohl von der Besoldung als auch vom gesellschaftlichen Ansehen her zur oberen Etage der Funktionselite zählen, war das in der Vormoderne längst nicht so eindeutig. Die Besoldung war, wenn überhaupt eine gewährt wurde, in aller Regel mäßig und entsprach längst nicht den vielen Repräsentationsaufgaben, sodass für viele adlige Diplomaten ein Auslandsposten eher ein Zuschussgeschäft war, das man möglichst bald wieder hinter sich bringen wollte. Hinzu kam, dass längere Auslandsaufenthalte die Nähe zu Hof und Herrscher relativierten. Diese war für die Adligen jedoch elementar wichtig, weil sie nur durch ständige Präsenz von Ehrentiteln, Pfründen und symbolischem Kapital profitieren konnten, die für ihre Familien gesellschaftlich und wirtschaftlich unverzichtbar waren. Die österreichischen Adligen des 17. Jahrhunderts mussten daher manchmal geradezu zur Übernahme eines Auslandspostens geprügelt werden. Zu diesem unterschwelligen Frust der oft hochadligen Diplomaten, die die "prominenten" Missionen besetzten und bei Kongressen als primarii fungierten, gesellten sich andere Probleme, die in den sozialen Unterschieden zu und den Differenzen mit den nachdrängenden bürgerlichen Juristen gründeten, die oft genug auch für alternative politische Optionen standen. Eine Delegation auf einem Friedenskongress oder eine Mission in einem Drittland war nicht selten ein fragiles und eher inkohärentes Gebilde.

Seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts verdichtete sich die diplomatische Vernetzung des Kontinents. Auch Russland begann meist mittels ausländischer Fachleute seine diplomatische Präsenz deutlich auszubauen, vermochte aber mit dem hohen Grad an Repräsentanz etwa Frankreichs oder der Niederlande zunächst nicht Schritt zu halten. Beschränkt wurde die (kostenträchtige) ständige Präsenz der Staaten in Drittstaaten regelmäßig durch Grad und Potenzial gemeinsamer Interessen – und im Fall der Kurie auch durch den Glauben: Erst kurz vor der Französischen Revolution begann das Papsttum, auch in protestantischen Staaten Missionen einzurichten. Dass die ständigen Diplomaten an den Höfen den Lauf der Dinge wirklich einmal in eine andere Richtung lenkten, war eher die Ausnahme. Ein markantes Beispiel ist die Mission des Grafen Kaunitz nach Versailles in den frühen 1750er Jahren. Ihm gelang, was undenkbar schien und worum sich andere Diplomaten seit Generationen vergeblich bemüht hatten: die Aussöhnung zwischen den beiden "klassischen" Antagonisten der Vormoderne, dem habsburgischen und dem französischen Hof.

Neben Aufwand und Durchsetzung der Präzedenz war die Sprache ein weiteres wichtiges Feld des interstaatlichen Wettbewerbs. In der frühen Neuzeit zog sich die Lingua franca der Antike und des Mittelalters, das Lateinische, nach und nach zurück, ohne durch eine neue Lingua franca abgelöst zu werden. Auf den großen Friedenskongressen der Vormoderne fand daher ein regelmäßiges Tauziehen um die Sprache der Schlussdokumente statt. Die deutschen Teilnehmer an solchen Kongressen protestierten teils mit, zunehmend jedoch ohne Erfolg gegen eine gewisse Frankophonierung des zwischenstaatlichen Lebens – aber das galt lange, bis zum Utrechter Frieden 1713 und dem Übergang Spaniens in bourbonische Hände, beispielsweise auch für Spanien. Die Westfälischen Friedensschlüsse wurden noch in lateinischer Sprache ausgefertigt, der Vrede van Munster in niederländischer (!) und spanischer; in den Verträgen zum Frieden von Utrecht dominierte dann das Französische, doch das Reich bestand darauf, dass der ergänzende Friede von Baden 1714 in lateinischer Sprache gefasst wurde.

In Wien 1815, um zu unserem Ausgangspunkt zurückzukehren, gab es keine Diskussionen mehr um die Sprache: Die Verhandlungen fanden in aller Regel auf Französisch statt, wobei die mäßigen Französischkenntnisse des britischen Außenministers Castlereagh, die gelegentlich sogar Hilfen notwendig machten, negativ auffielen. Es war keine Frage, dass auch die Kongressakte auf Französisch ausgefertigt würde. Letztendlich lag nach einer Verhandlungszeit von "nur" neun Monaten ein präsentables Ergebnis vor: ein Dokument, das die europäische Staatenlandschaft neu schnitt und für die Mitte des Kontinents eine staatsrechtliche Lösung zustande brachte, die zwar die Hoffnungen vieler Liberaler und dem Modell des Alten Reiches verbunden Gebliebener sowie jener, die sich einen stärker bundesstaatlichen Charakter gewünscht hätten, enttäuschte, aber dennoch etliche Jahrzehnte bestehen sollte. Dies hatte sicher nicht nur etwas mit Napoleons "Hundert Tagen" zu tun, die einen heilsamen Druck auf die Minister und Diplomaten ausübten, sondern auch damit, dass in Wien von Anfang an Etikette- und Präzedenzstreitigkeiten unterbunden worden waren.

Wiener Rangkommission

Nach all den frustrierenden Erfahrungen der Streitigkeiten im 17. und 18. Jahrhundert sowie den endlosen Diskussionen über die Abstufungen diplomatischer Ränge schien die Zeit reif für eine neue Ordnung in der Diplomatie. Fast alle der in Wien versammelten Minister und Diplomaten wurzelten im Ancien Régime und wussten genau, wie sehr in früheren Zeiten die Auseinandersetzungen zwischen Diplomaten den Gang der Verhandlungen immer wieder aufgehalten und sogar bis an den Rand von Kriegen geführt hatten. Sie alle hatten durch ihre Ausbildung oder die Lektüre einschlägiger Abhandlungen und Aktensammlungen eine präzise Vorstellung davon, was in der Vergangenheit die Diplomatie zu einem Exerzierfeld staatlichen Neben- und Gegeneinanders gemacht hatte. Von Talleyrand, der zwischen 1800 und 1806 den französischen auswärtigen Dienst reorganisiert und auch die Wiener Rangkommission angeregt hatte, wissen wir, dass er über die Auseinandersetzungen auf dem Westfälischen Friedenskongress wohlinformiert war; auch der preußische Gesandte Wilhelm von Humboldt und sein österreichischer Kollege Johann von Wessenberg, um nur diese beiden Mitglieder der Wiener Rangkommission zu nennen, hatten sich in Göttingen beziehungsweise Straßburg ausgiebig mit Geschichte und Staatsrecht beschäftigt und tiefe Einblicke in die einschlägigen Probleme der Vergangenheit gewonnen. Vor diesem Hintergrund war es sicher eine weise Entscheidung der Wiener Protagonisten, von vornherein auf alle Rangunterschiede und zeremoniellen Formen zu verzichten. "Wohl auf keinem Congreß der drei letzten Jahrhunderte", so formulierte es der Publizist Johann Ludwig Klüber, "empfieng die Göttin des Ceremoniels und der Etiquette so wenig Huldigungen, als auf dem wiener."

Die Kommission wandelte von Anfang an ihren Auftrag ab, der auch den Rang der Souveräne umfasste, und konzentrierte sich auf den der Diplomaten. Es kam in den insgesamt nur drei Sitzungen zu etlichen Kontroversen, etwa über die Notwendigkeit beziehungsweise die Anzahl der Klassen und Abstufungen von Diplomaten. Am Ende setzte sich das "Dreiermodell" durch, das sich faktisch schon am Ende des Ancien Régime weitgehend etabliert hatte und von den russischen, preußischen, schwedischen, französischen und österreichischen Vertretern bevorzugt wurde. Die im März erzielte Einigung ging als Artikel 118 der Anlage 17 in die Kongressakte ein.

Fortan sollte es also drei Rangklassen geben: (1) Botschafter (Ambassadeure), Legaten und Nuntien mit Repräsentativcharakter, also dem Recht, ihren Souverän zu vertreten und mit dem empfangenden Staatsoberhaupt direkt zu kommunizieren; (2) Gesandte (Envoyés) und Minister, die beim empfangenden Souverän akkreditiert wurden, und (3) Geschäftsträger (Chargés d’affaires), die beim jeweiligen Außenministerium akkreditiert wurden. Dabei blieb jedem Staat anheimgestellt, mit welchem Rang er seine Diplomaten auf ihre Außenposten schickte. Die Vereinbarung enthielt aber noch einen weiteren entscheidenden Passus: Innerhalb jeder Klasse sollte das Datum der Überreichung des Beglaubigungsschreibens das Kriterium für die hierarchische Einordnung des Amtsträgers sein und nicht mehr Familienpakte oder Allianzen zwischen den involvierten Höfen, die "Macht" eines Staates oder sein Alter. Das war der Durchbruch zu mehr Rationalität im diplomatischen Verkehr und zur Gleichberechtigung der Staaten. In dieselbe Richtung zielte auch die Bestimmung, dass bei Verträgen, die von mehreren Staaten unterschrieben wurden, das Los über die Reihenfolge entscheiden sollte.

Aber so progressiv war das Konstrukt von 1815 dann doch (noch) nicht. Es blieben Diskriminierungen bestehen, die dem Grundsatz der Gleichheit aller Staaten deutlich zuwiderliefen, etwa die Begrenzung der Bestimmungen auf den Kreis der gekrönten Häupter. Die ehemaligen Generalstaaten, deren Diplomaten generationenlang zurückgesetzt worden waren, schätzten sich glücklich, nun zu diesem Kreis zu zählen, ebenso wie die von Napoleons Gnaden zur Königswürde aufgestiegenen Bayern, Sachsen und Württemberg oder der welfische Kurfürst von Hannover, der während des Kongresses die Aneignung des Königstitels publik machte. Auch die (freilich nicht schriftlich formulierte) Einschränkung, dass nur Großmächte – also im Wesentlichen die "Großen Fünf" von Wien – Botschafter entsenden konnten, störte den Eindruck der Rationalität erheblich. Diese Praxis sollte im Übrigen erst ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert peu à peu überholt werden. Zugleich war mit Blick auf die Eidgenossenschaft und die Vereinigten Staaten die Einordnung der großen Republiken noch nicht schlüssig. Reste einer Zweiklassengesellschaft blieben unter den Staaten zu diesem Zeitpunkt also noch erhalten.

Zeremonialstreitigkeiten waren damit für die Zukunft immerhin weitgehend ausgeschlossen. Wie gewisse Differenzen jedoch schon angedeutet hatten, ließ sich das Wiener System noch optimieren. Dies sollte auf dem ersten Folgekongress geschehen: dem Konvent der Monarchen und Minister in Aachen 1818. Dort wurde das Losverfahren für die Reihenfolge der Unterschriftleistung der Staaten bei multilateralen Abkommen wieder aufgegeben und stattdessen das französische Alphabet zur Grundlage des staatlichen Miteinanders – "Autriche" sollte fortan immer vor "Grande-Bretagne" und "Russie" rangieren. Dieses nochmalige Mehr an Rationalität, das bei der Unterzeichnung der Kongressakte in Wien übrigens schon zur Anwendung gekommen war, schloss "Missverständnisse" aus. Dennoch war diese Regelung offen für Manipulationen: Nach den Pariser Vorortverträgen traten die Staaten 1922 in Genua zur ersten gemeinsamen Konferenz zusammen, die Sieger und Besiegte an einem Tisch zusammenführte. Dem französischen Alphabet entsprechend hätten ausgerechnet "Allemagne" und "Autriche" ganz oben stehen müssen, was die Siegermächte als unzumutbar empfanden. Daher verfielen sie auf den Trick, zwischen den "einladenden" Staaten und den "eingeladenen", also den Besiegten und Blockfreien, zu unterscheiden und nur innerhalb dieser beiden Gruppen das französische Alphabet anzuwenden. Seit der Gründung der Vereinten Nationen ist wiederum ein schleichender Prozess zu beobachten, in dem das englische Alphabet zunehmend das französische ablöst.

Die Wiener und Aachener Beschlüsse hatten darüber hinaus bestätigt, dass das "Diplomatische Corps" – der Begriff ist bis heute nicht verbindlich definiert – eine Einheit war und letztlich auch als Einheit behandelt werden wollte. Die Praxis des 19. Jahrhunderts entsprach dem mehr und mehr, auch wenn ausgerechnet in Wien Metternich dem kollektiven Auftreten des Diplomatischen Corps immer einen Riegel hatte vorschieben wollen. Es entwickelte sich ein Zeremoniell, das die ursprünglich betonten Unterschiede zwischen erster und zweiter Klasse immer mehr in den Hintergrund treten ließ. Traf ein neuer Missionschef an einem Auslandsposten ein und hatte er dem Souverän sein Kreditiv ausgehändigt, benachrichtigte er den Doyen des Diplomatischen Corps – in großen Teilen der "westlichen" Welt völkergewohnheitsrechtlich der päpstliche Nuntius – und alle anderen Missionschefs vor Ort. Sobald diese geantwortet hatten, stattete er den höher- oder gleichrangigen einen Besuch ab und sah dem Besuch der niedrigerrangigen Missionschefs entgegen. Zudem wurde es im 19. Jahrhundert gängige Praxis, nach dieser ersten Kontaktaufnahme als Neuankömmling allen Mitgliedern des Corps einen Empfang zu geben, an dem in der Regel auch der Zeremonienmeister oder der Protokollchef der ortsansässigen Regierung mitwirkte.

Der Aufgabenbereich des Doyens war 1815 noch nicht festgelegt worden. Er entwickelte sich gewohnheitsrechtlich im 19. Jahrhundert und wurde im Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen von 1961 präzisiert. So überwacht der Doyen etwa die Respektierung der Diplomaten gewährten Vorrechte und Immunitäten und wird gegebenenfalls beim Gastgeberstaat vorstellig. Aber das Wiener Übereinkommen ging noch weiter, auch wenn es im Wesentlichen Selbstverständlichkeiten wie etwa die (schon in der Antike geläufige) Immunität der Diplomaten und die Exterritorialität ihres Dienstsitzes noch einmal bestätigte: So regelte es beispielsweise den Prozess der Akkreditierung genauer und definierte eingehend den Diplomatenstatus, also den Personenkreis, der die diplomatischen Immunitäten genießt.

Ausblick

Bis zum Inkrafttreten des Wiener Übereinkommens 1964 blieb das Völker(gewohnheits)recht in Bezug auf die Diplomatie im Prinzip auf der Grundlage, die die Staatsmänner auf dem Wiener und dem Aachener Kongress legten. Es wurde zwar weiterentwickelt, aber die entscheidenden Wegmarken – die Dreiteilung des Diplomatischen Corps sowie das Datum der Übergabe des Kreditivs und das französische Alphabet als Kriterien für die Einordnung der Diplomaten und der Staaten – sind bis heute gültig.

Aber so vorbildhaft das diplomatische Zeremoniell in mancher Hinsicht sogar für das allgemeine Staatszeremoniell geworden ist, führt doch kein Weg an der Feststellung vorbei, dass sich die Rolle der Diplomatie verändert hat: Die persönlichen Treffen der Staatsoberhäupter und Regierungschefs haben eine nie dagewesene Dichte erreicht; moderne Kommunikationsmittel machen Nachrichtenbeschaffung und auch das Kommentieren des Geschehens im Empfängerstaat zunehmend entbehrlich; große Konzerne agieren international jenseits der diplomatischen Bühne; die EU hat ein konkurrierendes System der Repräsentanz in Drittstaaten aufgebaut. Zwar erfüllen die Diplomaten und ihre Botschaften für die vielen zwischenstaatlichen Probleme des Alltags von der Visaerteilung bis zur Hilfe bei der Akkreditierung von Einrichtungen des Entsendestaates weiterhin ihre Funktion, aber die großen Stunden der Diplomatie scheinen der Vergangenheit anzugehören – so zumindest die Kritiker und Skeptiker, die sich nicht zuletzt an den immensen Kosten reiben. Andererseits sind auf die Diplomaten im Ausland heute neue Aufgaben zugekommen, etwa im Bereich der Vorbereitung von Konferenzen oder auch der Betreuung nicht nur der Hauptstadt, sondern des gesamten Gastlandes. Die nationale Diplomatie wird sich, so ist zu prognostizieren, weder entbehrlich machen noch entbehrlich werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Johann Ludwig Klüber (Hrsg.), Acten des Wiener Congresses in den Jahren 1814 und 1815, Bd. 6, Erlangen 1816, S. 204–207.

  2. Dazu aus der rasch zunehmenden Spezialliteratur u.a. Milos Vec, Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat, Frankfurt/M. 1998.

  3. Viel Material zu diesen Prozessen bei Pietro Gerbore, Formen und Stile der Diplomatie, Reinbek 1964. Vgl. zudem Wilhelm Janssen, Die Anfänge des modernen Völkerrechts und der neuzeitlichen Diplomatie, Stuttgart 1965.

  4. Vgl. u.a. Abraham van Wicquefort, L’ambassadeur et ses fonctions, Den Haag 1681; François de Callières, De la manière de négocier avec les souverains, Paris 1716.

  5. P. Gerbore (Anm. 3), S. 87.

  6. Siehe Samuel Pepys, Tagebuch aus dem London des 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1980, S. 96f.

  7. Vgl. bspw. Anja Stiglic, Ganz Münster ist ein Freudental …, Münster 1998.

  8. Vgl. bspw. Matthias Köhler, Strategie und Symbolik. Verhandeln auf dem Kongress von Nimwegen, Köln–Weimar–Wien 2011.

  9. Lucien Bély, L’art de la paix en Europe, Paris 2007; Christoph Kampmann et al. (Hrsg.), L’art de la paix. Kongresswesen und Friedensstiftung im Zeitalter des Westfälischen Friedens, Münster 2011.

  10. Vgl. Mark Hengerer, Kaiserhof und Adel in der Mitte des 17. Jahrhunderts, Konstanz 2004.

  11. Johann Ludwig Klüber, Uebersicht der diplomatischen Verhandlungen des wiener Congresses, Erlangen 1816, S. 163.

  12. Vgl. zum Folgenden insb. Jürgen Hartmann, Staatszeremoniell, Köln u.a. 20003, Kapitel 4.9.

  13. Vgl. Linda S. Frey/Marsha L. Frey, The History of Diplomatic Immunity, Columbus 1998.

  14. Erstaunlicherweise blendet die völkerrechtsgeschichtliche Studie von Robert Rie, Der Wiener Kongress und das Völkerrecht, Bonn 1957, das Thema völlig aus.

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Dr. phil. habil., Dr. h.c., geb. 1943; Professor em. für Neuere Geschichte; bis 2011 Direktor des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte, bis 2015 Präsident der Max Weber Stiftung. E-Mail Link: heidu43@web.de