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Das Erbe des Wiener Kongresses und der Wert von Friedensstiftern – Essay | Wiener Kongress | bpb.de

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Das Erbe des Wiener Kongresses und der Wert von Friedensstiftern – Essay

Stella Ghervas

/ 16 Minuten zu lesen

Eine Betrachtung des Wiener Kongresses und des "Kongresssystems" von 1815 bis 1822 entlang ihrer (Miss-)Erfolge bei der Bewahrung des Friedens zeigt fünf "Lektionen" auf, die heute noch angewandt werden könnten – vor allem mit Blick auf eine tragfähige Beziehung zwischen der Europäischen Union und Russland.

Mit der seit 2014 schwelenden Ukraine-Krise steht Europa heute erneut am Scheideweg zwischen Krieg und Frieden. Wie ist diese Situation zu lösen – durch Diplomatie, Waffengewalt oder eine Mischung aus beidem? Der Wiener Kongress, der vor genau zweihundert Jahren stattfand, kann bei der Beantwortung dieser Frage der Inspiration dienen: Er beendete nicht nur eine Periode schwerer Krisen, sondern schuf auch für fast vier Jahrzehnte Frieden zwischen den Großmächten – bis zum Ausbruch des Krimkrieges 1853. Bei einem solchen Vergleich ist angesichts der Unterschiede in Zeit und Kontext selbstverständlich Vorsicht geboten. Dennoch können wir tatsächlich ebenso viel aus den Fehlern der damaligen Herrscher lernen wie aus ihren Erfolgen.

Wiener Kongress (1814/15)

Nach der Niederlage Napoleons luden die siegreichen Großmächte Russland, Großbritannien, Österreich und Preußen die anderen Staaten Europas ein, Bevollmächtigte zu einem Kongress nach Wien zu schicken. So drängten im Spätsommer 1814 Kaiser, Könige, Fürsten, Minister und Repräsentanten in die befestigte Stadt, um über eine neue Ordnung auf dem Kontinent zu beraten. Lange war Europa entlang zweier Militärbündnisse geteilt gewesen – ein seinerzeit als "Mächtegleichgewicht" bezeichnetes Phänomen. Nach der Französischen Revolution, der Herrschaft Napoleons und zwanzig Jahren Krieg waren viele Staaten unterjocht, beliebig verändert oder sogar ganz verschwunden. Der Kontinent und insbesondere das Gebiet des heutigen Deutschland befanden sich im politischen Chaos. Darüber hinaus zeichnete sich schnell eine neue Bedrohung ab, als unter den Staaten fast sofort wieder Misstrauen und Rivalitäten aufkamen.

Die Krise brach im Winter 1814/15 aus, als Zar Alexander I. vorschlug, das nach mehreren Teilungen von der Landkarte getilgte Polen wiederherzustellen – allerdings unter russischer Herrschaft. Als Ausgleich für den Verlust seiner polnischen Gebiete bot er Preußen das von russischen Truppen besetzte Sachsen an. Dieser Plan, der die Grenzen Russlands weiter nach Westen verschoben hätte, versetzte Großbritannien und Österreich in helle Aufregung. Beide gingen sogar so weit, dem gerade erst besiegten Frankreich eine geheime Allianz vorzuschlagen. Die Gefahr war real, dass Alexanders Vorhaben zu einer neuerlichen Teilung des Kontinents in zwei Blöcke ausarten könnte, womöglich sogar zu einem Krieg. Die Großmächte wussten dies jedoch zu vermeiden – durch geschickte diplomatische Verhandlungen, aber auch, weil beide Seiten eine friedliche Lösung anstrebten. Das Letzte, was der Zar wünschte, war ein erneuter europäischer Konflikt. Er erkannte, wohin sein Vorhaben führen würde, und ruderte zurück. Daraufhin kehrten die Mächte im freundschaftlichen Einvernehmen an den Verhandlungstisch zurück, und Polen wurde erneut aufgeteilt.

Andere dringende Angelegenheiten waren zu regeln: die Gründung eines neuen deutschen Staatenbundes anstelle des untergegangenen Heiligen Römischen Reiches, die Wiedereinsetzung des königlichen Adelsgeschlechts der Bourbonen in Frankreich, Spanien und Neapel, eine Verfassung für die Schweiz sowie das diplomatische Rangsystem; auch soziale und wirtschaftliche Fragen galt es zu besprechen, etwa die Rechte deutscher Juden, die Abschaffung des Sklavenhandels und die Freiheit der Rheinschifffahrt. Inmitten dieser Verhandlungen kehrte Napoleon im März 1815 völlig unerwartet aus seinem Exil in Elba nach Frankreich zurück, wo er für die "Herrschaft der Hundert Tage" erneut den Thron bestieg. Die aufgebrachten Alliierten schlossen sich erneut zusammen und besiegten Napoleon in der Schlacht von Waterloo am 18. Juni 1815 endgültig – jedoch nicht ohne neun Tage zuvor die Schlussakte des Wiener Kongresses unter Dach und Fach gebracht zu haben. Das abermals besiegte Frankreich wäre fast von der Landkarte verschwunden: Um zu verhindern, dass es jemals wieder eine Bedrohung für Europa werden könnte, spielten die Siegermächte kurze Zeit mit dem Gedanken, das Land aufzuteilen. Letztlich kam es jedoch mit einer mehrere Jahre währenden militärischen Besatzung und enormen Reparationszahlungen davon. Der gestürzte französische Kaiser wurde vor den Augen Europas im Zweiten Pariser Frieden vom 20. November 1815 angeklagt und für den Rest seines Lebens nach St. Helena verbannt, eine einsame britische Insel im Südatlantik.

Kongresssystem (1815–1823)

Die Aushandlung einer Nachkriegsordnung war für sich genommen schon ein komplexes Unterfangen. Doch die Großmächte verfolgten eine viel breitere Agenda: die Schaffung einer neuen politischen Ordnung in Europa. Die Fundamente der vorherigen waren hundert Jahre zuvor mit dem Frieden von Utrecht von 1713 gelegt worden. Auf dem Prinzip des Mächtegleichgewichts beruhend, gründete es auf zwei einander gegenüberstehenden Militärbündnissen, die ursprünglich von Frankreich und Österreich angeführt wurden. Durch die enorme taktische Überlegenheit seiner Armeen hatte Napoleon das Gewicht jedoch vollständig zu seinen Gunsten verlagert; die Alliierten hatten erst dann die Oberhand gewonnen, als es ihnen endlich gelungen war, ihre Truppen gleichzeitig gegen ihn ins Feld zu führen.

1815 wollten sie diese Erfahrung nicht wiederholen. Im September desselben Jahres schlug der Zar den anderen Mächten eine "Heilige Allianz" vor. Dieses Bündnis war insofern neuartig, als dass sein Ziel nicht darin bestand, Frieden zu schaffen, sondern ihn zu bewahren. Die Heilige Allianz trug zur Entstehung des sogenannten Kongresssystems bei: Über einige Jahre trafen sich Vertreter der Großmächte regelmäßig, um gemeinsame Sicherheitsfragen und andere Angelegenheiten zu besprechen. Dieses bis 1822 bestehende System markierte den Beginn der Konferenzdiplomatie in den internationalen Beziehungen und wurde zum Vorbild für das Zueinanderfinden von Mächten mit unterschiedlichen Interessen. Für drei weitere Jahrzehnte, bis zum Beginn des Krimkrieges 1853, war Europa nicht in zwei Bündnisse gespalten, sondern bildete einen einzigen Block, der als das "Europäische Konzert" bekannt wurde. In dieser Zeit erfreute sich der Ausdruck "Europäische Familie" beispielloser Beliebtheit. Schließlich handelte es sich um den ersten Versuch in der Geschichte, innerhalb eines einzigen Bündnisses größerer Staaten eine friedliche, auf aktiver Zusammenarbeit beruhende europäische Ordnung aufzubauen.

Diese politische Ordnung wies allerdings auch Mängel auf, da sie auf die Bewahrung der Prinzipien des Status quo und der dynastischen Legitimität angelegt war – um jeden Preis. Innenpolitisch führte dies zu Unruhen und der Unterdrückung bürgerlicher Freiheiten; die Presse wurde zensiert und Parlamente aufgelöst – ein als "Reaktion" bezeichnetes Phänomen. Das Ergebnis war eine endlose Abfolge nationaler Aufstände während der 1820er Jahre bis hin zu den Revolutionen von 1848.

Das Erbe von Wien: Prinzipien internationaler Beziehungen

Was ist vor diesem Hintergrund das Erbe des Wiener Kongresses? Sind aus dem Geschehen von damals allgemeine, heute möglicherweise noch relevante Prinzipien abzuleiten? Ich werde fünf "Lektionen" vorstellen, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch angewandt werden könnten – vor allem, wenn es darum geht, eine tragfähige Beziehung zwischen der Europäischen Union und Russland aufzubauen.

Erstens: Ein Kriegssystem führt zu Krieg, ein Friedenssystem führt zu Frieden. Für die Heilige Allianz ließ sich Zar Alexander I. zum Teil von dem französischen Philosophen Charles Irénée Castel de Saint-Pierre inspirieren, der 1713 das "Traktat vom ewigen Frieden in Europa" veröffentlicht hatte. Darin hatte er argumentiert, dass eine allein auf einem Mächtegleichgewicht zwischen zwei Militärbündnissen beruhende politische Ordnung neue Kriege in Europa nicht verhindern könne, sondern dem Krieg sogar zuträglich sei. Er bezeichnete sie daher als "Kriegssystem". Alternativ plädierte Saint-Pierre für die Schaffung eines auf Schlichtung und Respekt vor territorialer Integrität basierenden "Friedenssystems". Ein "Europäischer Bund" von Staaten, den er auch "Föderation" oder "Union" nannte, solle einen Gerichtshof zur Schlichtung von Streitigkeiten einrichten. Eine gewöhnliche Armee solle nur als Ultima Ratio eingesetzt werden, gewissermaßen als eine Polizeitruppe gegen widerspenstige Staaten, die Entscheidungen des Gerichts nicht anerkennen.

Saint-Pierres Idee sollte im 18. Jahrhundert nie konkrete Form annehmen; tatsächlich wurde er nicht einmal wirklich ernst genommen. Und doch ließen sich die Monarchen und Diplomaten 1815 von ihm inspirieren, auch wenn sie mit der Heiligen Allianz und dem Kongresssystem nicht ganz so weit gingen. Demgegenüber war der Kalte Krieg ein extremes Beispiel für ein militärisches Mächtegleichgewicht – auch "Gleichgewicht des Schreckens" genannt, da beide Supermächte über Nuklearwaffen verfügten. Obwohl ihm häufig gutgeschrieben wird, einen offenen Konflikt verhindert zu haben, war Europa über vier Jahrzehnte durch eine militärisch gesicherte Grenze geteilt. Heute würde eine durch verstärkte Feindseligkeiten zwischen NATO und Russland bewirkte sowie durch militärische Rhetorik geschürte Eskalation in der Ukraine-Krise eine Rückkehr zum "Kriegssystem" darstellen und Europa erneut spalten. Einmal mehr wäre Frieden in Europa ein "bewaffneter Waffenstillstand" mit dem erhöhten Risiko eines offenen Konflikts.

Zweitens: Verhandlungen kosten weniger als Krieg. Gespräche zwischen zwei Parteien können zu probateren Ergebnissen führen als Konfrontation, und dies bei geringerem Aufwand. Der erfolgreiche Ausgang der Sachsen-Polen-Krise im Winter 1814/15 war darauf zurückzuführen, dass eine der Parteien nachgab und so Raum für Verhandlungen schuf. Selbst im hoffentlich unwahrscheinlichen Fall, dass um die Südostukraine ein Krieg ausbricht, müssten letztlich Diplomaten eine neue politische Ordnung aushandeln. Seit 1815 und erst recht seit 1918 haben sich die Regeln der internationalen Politik in Europa jedoch verändert. Weder einzelne Staaten noch die internationale Gemeinschaft verzeihen mehr einen einseitigen Bruch zuvor vereinbarter Regeln. Dies kann nicht nur die Aussöhnung zwischen Völkern verhindern, sondern auch zukünftiges Leid verursachen. Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor Deutschland noch mehr Gebiete und Einfluss in Osteuropa als 1919. Nach dem Kalten Krieg zerfiel die Sowjetunion, was zu einer Zeit der Wirren (smuta) in Russland und nicht zuletzt auch zu seinem gegenwärtigen politischen Dilemma führte. Falls die jüngere Geschichte ein Anhaltspunkt ist, wird die militärische Besetzung der Krim die Krise nicht lösen, sondern eher der Auftakt für weitere Not sein – sowohl für die Menschen vor Ort als auch für Russland. Beim Scheitern einer demokratischen, durch ein internationales Abkommen untermauerten Einigung könnte der Konflikt noch über Jahrzehnte hinweg gären. Heute könnten nur eine Deeskalation der bewaffneten Drohungen sowie Verhandlungen ohne militärischen Druck den Weg für eine friedliche Lösung ebnen.

Um dies zu erreichen, muss eine hohe Hürde überwunden werden. Allem Anschein nach bedarf es einer starken politischen Position und wohl auch Mutes, um die friedliche Lösung einer Krise herbeizuführen. Regierungen, die sich in einer moralisch oder faktisch schwachen Verhandlungsposition sehen, neigen eher dazu, ein militärisches Vorgehen als Ausweg zu sehen. Oft verbirgt sich hinter kriegerischen Tönen in politischen Kreisen ein Gefühl der Angst. Bei der Sachsen-Polen-Frage 1814/15 hatte der preußische König die Krise durch Drohungen verschärft – wie nicht anders zu erwarten, war das von Napoleon schmachvoll besiegte und sich davon kaum erholende Preußen der schwächste Staat unter den Großmächten. Im Gegensatz dazu konnte Alexander I. Ruhe bewahren und Zugeständnisse machen, denn er genoss das Privileg militärischer Überlegenheit und allgemeinen Respekts, den er sich zwischen 1812 und 1815 durch seine verblüffenden Siege über Napoleon verdient hatte. Daraus folgt drittens: Frieden ist für Starke, Krieg ist für Schwache.

Mit Blick auf die Ukraine-Krise ist die Feststellung interessant, dass beide Seiten – EU und NATO einerseits und Russland andererseits – aus einer Position der Schwäche heraus verhandeln, jedoch aus unterschiedlichen Gründen. Nach dem Kalten Krieg sah Russlands politische Klasse ihr Land besiegt und im Chaos; dazu mischte sich das Gefühl, historisch zum russischen Kaiserreich und zur Sowjetunion gehörende Gebiete verloren zu haben, insbesondere die Ukraine beziehungsweise den Nordosten des Schwarzmeergebietes einschließlich der Krim. Russlands Präsident Wladimir Putin sieht sich heute vermutlich nicht in einer ausreichend starken Position, um bei der Ukraine Zugeständnisse zu machen – ganz im Gegenteil befindet sich sein Land in einer wirtschaftlichen Rezession, und ein Scheitern seiner Außenpolitik könnte eine innenpolitische Krise und seinen eigenen politischen Niedergang herbeiführen. Die EU hat ihrerseits die Praxis aus dem Kalten Krieg beibehalten, ihre Verteidigung größtenteils der NATO zu überlassen. Sie ist daher noch nicht zu einer unabhängigen und effektiven Außen- und Sicherheitspolitik imstande. Tatsächlich scheint der Fortbestand der NATO, die seinerzeit als Militärbündnis gegen die Sowjetunion entstand und nach dem Kalten Krieg in Zentralasien intervenierte, ein Problem für die "gemeinsame Sicherheit" in Europa zu sein – ein Konzept, das zunächst eine Aussöhnung zwischen den osteuropäischen Staaten und Russland erfordern würde. In diesem Zusammenhang könnte sich der unlängst von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker geäußerte Vorschlag einer gemeinsamen europäischen Armee als sinnvoll erweisen, was auch eher im Einklang mit den heutigen Sicherheitsbedürfnissen stünde. Eine EU-Armee würde vermutlich auch nur ein militärisches Mächtegleichgewicht mit Russland herstellen, zumindest wäre sie jedoch rein defensiv ausgerichtet. Folglich würde Russland sie wohl nicht als potenziellen Casus Belli betrachten.

Viertens: Die Vertretung des Volkes zum Schweigen zu bringen, ist gefährlich. In der Tat können stabile politische Ordnungen in Europa ohne die freiwillige Unterstützung der Bevölkerung nicht existieren. Die postnapoleonische Zeit hat in der kollektiven Erinnerung zwei widersprüchliche Eindrücke hinterlassen. In den internationalen Beziehungen wird sie als Beginn der Moderne gepriesen, für National- oder Sozialhistoriker ist sie hingegen häufig der Inbegriff politischer Arroganz und sozialen Rückschritts. In der Tat heißt diese Zeit die "Reaktion." Die Vorwürfe sind alles andere als aus der Luft gegriffen: Russland, Österreich und Preußen waren Kaiserreiche, deren Monarchen Parlamenten misstrauten und deren Adelshäuser versuchten, verlorenen Boden wieder gut zu machen. Der Ausschluss zahlreicher Stimmen aus dem Kongresssystem führte überall in Europa zum Ausbruch von Unruhen. Den Großmächten blieb wenig Zeit für Geplänkel, da ihr drängendstes Problem darin bestand, das Streben ihrer Untertanen nach politischer Repräsentation einzudämmen. Routinemäßig liehen sich die Staaten in großem Umfang gegenseitig Polizeikräfte, um die Ordnung auf den Straßen wiederherzustellen. Statt abzuklingen, schwoll der öffentliche Unmut jedoch weiter an und kulminierte in den Revolutionen von 1848. Der Esprit de Corps zwischen den autokratischen Herrschern und ihren geschlossenen aristokratischen Kreisen ist im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerungen, die am meisten darunter litten, in schlechter Erinnerung geblieben.

In der Ukraine-Krise mag der seit dem Ende des Kalten Krieges angesichts kultureller Diversität herrschende ukrainische Nationalismus nicht hilfreich gewesen sein. Doch ein Fehler korrigiert keinen anderen: Das jüngste "Referendum" auf der Krim, das in einer kriegerischen Atmosphäre und unter russischer Besatzung durchgeführt wurde, erschien in erster Linie als demokratischen Riten folgende politische Förmlichkeit ohne deren Substanz. In diesem Sinne wurde die Volksvertretung zum Schweigen gebracht. Wenn die russische Intervention auf der Krim überhaupt etwas bewirkt hat, so hat sie die Not der Bevölkerung verschärft, die nun unter einem Wirtschaftsembargo leidet. Die freiwillige Unterstützung der Bevölkerung für eine politische Ordnung erfordert ein effektives System politischer Repräsentation, in dem sich unterschiedliche politische Stimmen ausdrücken können und gehört werden. Der relative Erfolg der EU bei der Befriedung des ehemaligen Jugoslawiens trotz der dort jahrhundertelang herrschenden nationalen Feindschaften weist darauf hin, dass das Prinzip der "Einheit in Vielfalt" das einzige konkrete Gegenmittel ist, das in Europa Wirkung zeigt.

Fünftens: Staaten und Bevölkerungen sind kein Eigentum. Territoriale Umgestaltungen etwa durch Unabhängigkeit oder die Vereinigung mit einem anderen Land mögen bisweilen unvermeidbar sein – solange sie den zweiten Präliminarartikel aus Immanuel Kants "Zum ewigen Frieden" befolgen:

"Es soll kein für sich bestehender Staat (klein oder groß, das gilt hier gleichviel) von einem andern Staate durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung erworben werden können."

Eine Reihe von Klauseln in der Wiener Schlussakte wie die erneute Aufteilung Polens und die Besetzung Norditaliens durch Österreich verstießen eindeutig gegen dieses Prinzip – ein weiterer Mangel der in Wien ausgehandelten Ordnung. Dies hatte mit dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommenden Irredentismus eine verhängnisvolle Auswirkung. Dem italienischen Ausdruck irredento (etwa: nicht befreit, unerlöst) entlehnt, handelte es sich um die Ideologie, Gebiete "zurückzuholen", die aufgrund eines "historischen Anrechts" als einer Nation "zugehörig" betrachtet wurden. Es hatte sich die fragwürdige Idee entwickelt, eine "Nation" könne ein Eigentumsrecht für Gebiete und Menschen außerhalb ihres Staates geltend machen. Jenseits von Europa mündete dies in den Kolonialismus, innerhalb Europas nahm die Idee etwa in Italien, Deutschland und auch Russland als Irredentismus Gestalt an. Der "Besitzer" von Gebieten und Menschen war nun kein Monarch mehr, sondern ein abstraktes Konzept namens "Nation" – in der Praxis führte dieser Gebietsanspruch jedoch genauso zum Krieg: Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt von 1939 hatte "Interessensphären" des Deutschen Reiches und der UdSSR definiert; auch die 1945 zwischen der Sowjetunion einerseits und den USA und Großbritannien andererseits getroffenen Vereinbarungen wurden über die jeweiligen Völker hinweg getroffen und führten letztlich zum Kalten Krieg und der Teilung Europas. Ebenso entbehrt auch die Idee, Russland sei berechtigt, im Namen der in der Ukraine lebenden russischsprachigen Bevölkerung zu sprechen, jeder Grundlage internationalen Rechts.

Geteilte Verantwortung für Frieden in Europa

In der Enzyklopädie der Aufklärung ist unter dem Eintrag "Frieden" zu lesen, Krieg sei für Nationen das, was Krankheiten für den Menschen sind. Das Interesse zivilisierter Staaten, Krieg zu verhindern, sei geradezu lebenswichtig; Krieg sei nur dann gerechtfertigt, wenn er Frieden wiederherstelle. Trotz seiner zahlreichen Fehler könnte Zar Alexander I. nach wie vor eine Inspiration für politische Führer in Brüssel, Moskau und Washington sein. Angesichts einer ernsten internationalen Krise handelte er friedvoll und zügelte seine territorialen Ambitionen. Denn er hatte bereits nachdrücklich bewiesen, dass er – um es mit Winston Churchill auszudrücken – "Im Krieg: Entschlossenheit! In der Niederlage: Trotz! Im Sieg: Großmut!" aufbringen konnte. 1814/15 konnte er glaubhaft argumentieren, er habe zwar ein Problem mit Napoleon, aber nicht mit den Franzosen. Tatsächlich setzte er sich für die Bewahrung der territorialen Integrität Frankreichs ein und trug damit zur Sicherung der Zukunft dieser Nation bei.

Diese Bereitschaft, einem besiegten Land die Hand zu reichen, schlug sich 1918 auch im 14-Punkte-Programm von US-Präsident Woodrow Wilson nieder. Amerika hege keinerlei Missgunst gegenüber deutscher Größe und wolle Deutschland weder schaden noch seinen legitimen Machteinfluss in irgendeiner Form infrage stellen, so Wilson am 8. Januar 1918 in seiner Rede vor dem US-Kongress. Diese weisen Worte beherzigten Briten und Franzosen leider nicht, was 1919 zu den harten Bedingungen des Versailler Vertrags führte. Umgekehrt war es der Brite Churchill, der 1946 in Zürich die Bedeutung des Respekts vor der Würde vormaliger Feinde ebenso unterstrich wie die grundlegende Notwendigkeit, durch eine Versöhnung Frankreichs und Deutschlands die europäische Familie wiederherzustellen. Etwas Vergleichbares geschah zwanzig Jahre nach der russischen Niederlage im Kalten Krieg hingegen nicht. Offensichtlich wittert die russische Regierung heute Missgunst sowie das Bestreben, ihren Einfluss einzuschränken – wie Deutschland 1918. In solchen Fällen ist die beste Vorbeugung, derartige Ängste nicht zu schüren.

Mit Blick auf das postkommunistische Russland haben die US-amerikanische und europäische Führung des frühen 21. Jahrhunderts die Lektionen von 1815 offenbar nicht gelernt, vielmehr scheinen sie die Fehler von 1919 zu wiederholen. Wenn die europäische Geschichte einen Anhaltspunkt gibt, dann sind militärische Muskelspiele und Wirtschaftssanktionen gegenüber einem vormals besiegten Land nicht besonders effektiv. Vielmehr schüren sie Nationalismus, Militarismus und Irredentismus. Dies könnte erklären, warum die russische Öffentlichkeit bereit ist, eine aggressive Politik ihrer eigenen Regierung gegenüber anderen Ländern – kollektiv als "der Westen" bezeichnet – zu akzeptieren. Die Regierungssysteme sind zwar nicht zu vergleichen, aber die russische Regierung und Bevölkerung empfinden womöglich ähnlich wie Deutschland und die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg, und auch aus ähnlichen Gründen. Aber könnte Europa beziehungsweise Russland eine Eskalation der Ukraine-Krise noch verhindern? Die Zukunft ist ein unbeschriebenes Blatt, möglicherweise gibt es jedoch ein Heilmittel:

"Es ist die Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie, oder doch so viel davon, wie möglich ist, indem wir ihr eine Struktur geben, in welcher sie in Frieden, in Sicherheit und in Freiheit bestehen kann. Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten."

Um es erneut an Churchill angelehnt auszudrücken: Es kann kein Wiederaufleben Europas geben, ohne eine geistig große EU und ein geistig großes Russland. Realistischerweise würde auch eine stärkere EU mit einem einzigen Finanzmarkt, einem vereinheitlichten öffentlichen Finanzsystem und einer gemeinsamen Verteidigung Russland auf kurze Sicht nicht einschließen, sie wäre jedoch eine verlässliche Grundlage für eine Versöhnung im östlichen Europa und im Schwarzmeerraum. Wie das Kongresssystem nach 1815 zeigte, sind Friedensarbeit und Diplomatie besonders für starke und geduldige politische Führer geeignet. Generell liegt die Verantwortung für Frieden und Versöhnung auf beiden Seiten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zur Sachsen-Polen-Frage von 1814/15 vgl. Stella Ghervas, Three Lessons of Peace. From the Congress of Vienna to the Ukraine Crisis, in: UN Chronicle, 51 (2014) 3, S. 9ff.; Mark Jarrett, The Struggle for Poland in the Congress of Vienna, in: History Today, 64 (2014) 12, S. 29–34.

  2. Vgl. Friedrich von Gentz, Von dem wahren Begriffe eines politischen Gleichgewichts, in: Fragmente aus der neuesten Geschichte des politischen Gleichgewichts in Europa, St. Petersburg (Leipzig) 1806, S. 1–34; Edward Vose Gulick, Europe’s Classical Balance of Power, New York 1967, S. 30–91.

  3. Zum Bündnis der "Heiligen Allianz", das in Paris von den drei alliierten Mächten Russland, Österreich und Preußen gegründet wurde und dem in der Folge fast alle europäischen Staaten beitraten, vgl. Maurice Bourquin, Histoire de la Sainte-Alliance, Genf 1954; Stella Ghervas, Réinventer la tradition. Alexandre Stourdza et l’Europe de la Sainte-Alliance, Paris 2008; Philipp Menger, Die Heilige Allianz. Religion und Politik bei Alexander I. (1801–1825), Stuttgart 2014.

  4. Unter den jüngsten Arbeiten zum Kongresssystem vgl. Mark Jarrett, The Congress of Vienna and its Legacy. War and Great Power Diplomacy After Napoleon, London 2013; Stella Ghervas, Antidotes to Empire. From the Congress System to the European Union, in: John W. Boyer/Berthold Molden (Hrsg.), EUtROPEs. The Paradox of European Empire, Chicago 2014, S. 49–81.

  5. Vgl. Jacques-Alain de Sédouy, Le concert européen: Aux origines de l’Europe. 1814–1914, Paris 2009; Matthias Schulz, Normen und Praxis. Das Europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat. 1815–1860, München 2009.

  6. Vgl. Stella Ghervas/Mark Jarrett, Wie Frieden geschaffen wird – Der Wiener Kongress, in: Die Zeit vom 11.9.2014, Externer Link: http://www.zeit.de/2014/38/wiener-kongress-europa-frieden (14.4.2015).

  7. Abbé de Saint-Pierre, Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe, Utrecht 1713–1717, Bd. 1ff.; vgl. auch Stella Ghervas, La paix par le droit, ciment de la civilisation en Europe? La perspective du siècle des Lumières, in: Antoine Lilti/Céline Spector (Hrsg.), Penser l’Europe au XVIIIe siècle. Commerce, Civilisation, Empire, Oxford 2014, S. 47–70.

  8. Stella Ghervas, Ten Lessons for Peace in Europe. From the Congress of Vienna and WWI, to the Failure of the G8, in: Felix Dane/Gregory John Ryan (Hrsg.), Multilateral Security Governance, Rio de Janeiro 2014, S. 212–227.

  9. Immanuel Kant, Werke in zwölf Bänden, Bd. 11, Frankfurt/M. 1977, S. 196.

  10. Vgl. Etienne Noël Damilaville, Paix, in: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Paris 1751.

  11. Woodrow Wilson, Rede vor dem US-Kongress am 8.1.1918, Externer Link: http://millercenter.org/president/wilson/speeches/wilsons-fourteen-points (14.4.2015).

  12. Winston Churchill, Europa-Rede in der Universität Zürich am 19.9.1946, Externer Link: http://www.europarl.europa.eu/brussels/website/media/Basis/Geschichte/bis1950/Pdf/Churchill_Rede_Zuerich.pdf (14.4.2015).

  13. Vgl. John J. Mearsheimer, Why the Ukraine Crisis Is the West’s Fault. The Liberal Delusions that Provoked Putin, in: Foreign Affairs, 93 (2014) 5, S. 1–12.

  14. W. Churchill (Anm. 12).

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Ph.D.; Gastdozentin für Geschichte und Internationale Beziehungen am Center for European Studies der Universität Harvard, 27 Kirkland Street, Cambridge, MA 02138/USA. E-Mail Link: sghervas@fas.harvard.edu