Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges am 8. Mai 1945, der totalen Niederlage Deutschlands, seiner Besetzung und seiner Aufteilung in Besatzungszonen, in denen die vier Siegermächte die oberste Gewalt innehatten, dauerte es zwanzig Jahre, bis in der Bundesrepublik Deutschland eine vorwiegend durch die Nachkriegsgeneration vorangetriebene "Erinnerungswende" einsetzte. Dem ersten Auschwitz-Prozess – der "Strafsache gegen Mulka u.a. (4 Ks 2/63)"
Erst weitere zwanzig Jahre nach der Frankfurter Urteilsverkündung war die Beschäftigung der Deutschen mit ihrer Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die mühsame und schmerzhafte Aufarbeitung der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen durch Justiz, Literatur und Wissenschaft, Presse, Film und Fernsehen so weit gediehen, dass Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 vor dem Deutschen Bundestag in seiner Gedenkrede zum 40. Jahrestag der deutschen Kapitulation sagen konnte: "Der Blick ging zurück in einen dunklen Abgrund der Vergangenheit und nach vorn in eine dunkle Zukunft. Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft."
In den ersten Jahren nach dem 8. Mai 1945 – der damals fast nur von den Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager der Nationalsozialisten als Tag der Befreiung empfunden wurde – waren die Menschen damit beschäftigt, ihre Toten zu betrauern, die Kriegsfolgen zu überwinden und sich ein neues bürgerliches Leben aufzubauen. Die Deutschen fühlten sich fast ausnahmslos als Kriegsopfer, vom Schicksal geschlagen, ohne darüber nachzudenken, wie es zu alldem gekommen war. Dass es der 30. Januar 1933 war, der Tag der Machtübernahme der Nationalsozialisten, mit dem die dunkelste Phase der neueren deutschen Geschichte begann, wurde ihnen erst allmählich bewusst.
Langer Weg zum Prozess
Gewiss, dem von Hitler am 30. April 1945 als sein Nachfolger eingesetzten Großadmiral Karl Dönitz, der nach eigenen Angaben dem Autor gegenüber erst am 7. Mai 1945 "von den Untaten der SS-Schergen in den Konzentrationslagern erfahren" haben will, war damals "grundsätzlich klar, dass hier Verbrechen begangen worden waren". Mit dem damaligen Finanzminister Graf Schwerin-Krosigk war er der Meinung, "dass das höchste deutsche Gericht, das Reichsgericht in Leipzig, die einzige Instanz wäre, diese Verbrechen anzuklagen und abzuurteilen". Am 15. Mai, so Dönitz, habe er diesen Vorschlag den Alliierten unterbreitet. Doch die hätten nicht reagiert. "Wir haben damals die Idee gehabt, diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu untersuchen und zu bestrafen, und zwar ohne Ansehen der Person. Hier war die Menschlichkeit offensichtlich schwer verletzt, und dieses zu ahnden hielt ich für die deutsche Pflicht. Ich war der festen Überzeugung, dass eine Institution wie das Reichsgericht nach dem geltenden deutschen Recht befähigt war, diese Verletzung der Humanität zu ahnden."
Die alliierten Siegermächte übernahmen es jedoch selbst, die deutschen "Hauptkriegsverbrecher" – die sich nicht wie Adolf Hitler, Heinrich Himmler und andere durch Selbstmord der Verantwortung entzogen hatten – in Nürnberg, der Stadt der "Reichsparteitage", 1945/46 vor ein Internationales Militärgericht zu stellen und gemäß einem von ihnen geschaffenen Statut, das zur Grundlage eines neuen Völkerstrafrechts werden sollte, zu verurteilen. Viele Deutsche empfanden die insgesamt 13 Nürnberger Prozesse sowie die folgenden Strafverfahren im Rahmen der Entnazifizierung als rächende "Siegerjustiz". Sie versuchten, sich durch allerlei Tricks ("Persilscheine") vor den deutschen Spruchkammerverfahren – denen ein automatischer "Arrest" von Funktionsträgern und die Internierung aller Verdächtigen durch die Alliierten vorausgingen – eine weiße Weste zu verschaffen.
Aber die drei westlichen Alliierten erlahmten bereits nach wenigen Jahren in ihren Bemühungen um die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit der Deutschen – die sie im aufkommenden Kalten Krieg als Verbündete zu gewinnen suchten – und begnadigten vorzeitig die von ihnen Verurteilten, die sie nicht hingerichtet hatten. Zudem bestimmte der zwischen der Bundesrepublik und den Westalliierten geschlossene "Überleitungsvertrag"
Deutsche Gerichte hatten 1945 in den drei Westzonen unter Aufsicht und unterschiedlichen Vorgaben der jeweiligen Besatzungsmacht zaghaft begonnen, Prozesse wegen "Kriegsverbrechen" – wie nationalsozialistische Gewaltverbrechen oft pauschal genannt wurden – gegen Einzeltäter zu führen. Ihr Eifer schwand jedoch spürbar, als 1951 durch das Ausführungsgesetz zu Artikel 131 des Grundgesetzes all jenen, die am 8. Mai 1945 im öffentlichen Dienst standen und "verdrängt" wurden, die Wiedereingliederung ermöglicht wurde – also auch Angehörigen von Polizei, Strafverfolgungsbehörden und Gerichten im "Dritten Reich". Prozesse wegen Massenverbrechen, die nach Gründung der Bundesrepublik und dem Besatzungsstatut von 1949 möglich gewesen wären, fanden nicht statt, darunter auch ein im Ermittlungsstadium befindliches Verfahren gegen Angehörige des Reichssicherheitshauptamtes. Der Politikwissenschaftler Joachim Perels spricht deswegen von einer über ein halbes Jahrzehnt dauernden "Suspendierung des Legalitätsprinzips".
Bewegung kam erst wieder in die "Periode des Schweigens", in der ganz allgemein mit einem "Schlussstrich" unter die Verbrechen des Nationalsozialismus gerechnet wurde, als der ehemalige Polizeidirektor von Memel, SS-Oberführer Bernhard Fischer-Schweder, der nach Kriegsende untergetaucht war, in Baden-Württemberg Klage auf Wiedereinstellung in den öffentlichen Dienst erhob. Aufgrund der Zeitungsmeldungen informierte ein Zeuge aus Memel die Staatsanwaltschaft über Massenerschießungen zu Beginn des Russland-Feldzuges, an denen der Kläger beteiligt gewesen war. Daraufhin kam es 1958 zum Ulmer Einsatzgruppen-Prozess, in dem bis dahin unbekannte Verbrechen an Juden im litauischen Grenzgebiet zur Sprache kamen.
Das Zustandekommen des großen Frankfurter Auschwitz-Prozesses ist neben der Arbeit der Zentralen Stelle in Ludwigsburg vor allem zwei Männern zu verdanken: dem damaligen Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer
Prozessverlauf
In der am 16. April 1963 erhobenen, 700 Seiten starken Schwurgerichtsanklage zum Auschwitz-Prozess
Während der Beweisaufnahme wurden 359 Zeugen aus 19 Ländern gehört. 211 von ihnen waren ehemalige Häftlinge, darunter 100 aus Osteuropa, vor allem aus Polen und der Tschechoslowakei, aber auch aus Rumänien, der Sowjetunion und der DDR. Nach zwanzig Jahren standen sie ihren Peinigern wieder gegenüber, mussten die Schrecken von Auschwitz in ihrer Erinnerung noch einmal durchleben. Für viele von ihnen wirkte es bedrohlich, wenn sie allein der Phalanx der gut gekleideten Angeklagten und ihren Verteidigern in den schwarzen Roben gegenüberstanden und "wahrheitsgemäß" berichten mussten, was sie in Auschwitz erlebt hatten. Da wurde etwa das Folterinstrument des Angeklagten Boger von der "Politischen Abteilung", der Lager-Gestapo, beschrieben, die "Boger-Schaukel", auf der er bei "verschärften Vernehmungen" Häftlinge fast zu Tode prügelte. Bezeugt wurde auch, wie der SS-Sanitäter Josef Klehr Hunderte von Häftlingen mit Phenolinjektionen direkt ins Herz tötete. "Abspritzen" nannte man das in Auschwitz. Ausführlich wurden die "Selektionen" auf der Rampe von Birkenau beschrieben, wo SS-Ärzte und SS-Offiziere Arbeitsfähige aus den ankommenden jüdischen Häftlingstransporten aussonderten und ins Lager einwiesen, die übergroße Mehrzahl aber direkt in den Tod in die Gaskammern schickten. Mord nannte man "Sonderbehandlung".
Einige Verteidiger nahmen bei ihren bohrenden, gelegentlich mit drohendem Unterton gestellten Fragen keine Rücksicht auf die physische und psychische Verfassung der ehemaligen Häftlinge. Stockend berichteten diese über die Höllenqualen, die sie im Lager – ständig den Tod vor Augen – durchleben mussten, über das grausige Geschehen an dieser Stätte des industriell betriebenen Mordens. Manche der stets zahlreichen Zuhörer konnten die Tränen angesichts der erschütternden Schilderungen der Überlebenden von Auschwitz nicht zurückhalten.
Die Angeklagten zeigten sich dagegen von diesen Zeugenaussagen wenig beeindruckt. Sie, die Täter und Mordgehilfen, die als SS-Angehörige zur Elite des NS-Staates zu gehören meinten, und sich "aus dem Krieg heimgekehrt" bereits wieder in bürgerlicher Wohlanständigkeit eingerichtet hatten, beriefen sich auf Führerbefehle und Anordnungen ihres obersten Chefs Heinrich Himmler, dem "Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei", dem mit dem Reichssicherheitshauptamt die Gestapo und mit dem Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt der SS die "Inspektion der Konzentrationslager" unterstanden.
Die Angeklagten, die weder Scham noch Reue zeigten, behaupteten, sie seien Soldaten gewesen, hätten nur Befehle ausgeführt und im Verweigerungsfall harsche Konsequenzen fürchten müssen. Im Übrigen könnten sie sich an nichts mehr erinnern. Am dreistesten verhielt sich der Angeklagte Mulka, der anfänglich behauptete, er habe als Adjutant von Höß das "Schutzhaftlager" nie betreten, mit den Häftlingen nichts zu tun gehabt. Er sei Chef der Ehrenkompanie, aber ein Kompaniechef ohne eigentliche Befehlsgewalt gewesen. Niemandem habe er etwas getan, er sei schließlich alter Soldat gewesen. Aus dem jungen Staatsanwalt Kügler brach es daraufhin heraus: "Sie waren kein Soldat, Sie haben einem uniformierten Mordkommando angehört."
Neben überlebenden Häftlingen trat noch eine weitere Kategorie von Zeugen im Prozess auf. Ehemalige SS-Angehörige sollten über einzelne Angeklagte, die sie kannten, aussagen. Es erschienen aber auch hohe SS-Offiziere. Einige waren von den Alliierten verurteilt und begnadigt, andere bisher nicht von der deutschen Justiz behelligt worden. Sie wurden vom Gericht, den Staatsanwälten, den Vertretern der Nebenkläger und nicht zuletzt von den Verteidigern auch als "sachverständige Zeugen" vernommen – vor allem zum Entschuldungsargument des "Befehlsnotstands". Auf diese Weise kamen folgende SS-Chargen zu Wort: die ehemaligen Amtsleiter im Reichssicherheitshauptamt, SS-Obergruppenführer Karl Werner Best und SS-Gruppenführer Bruno Streckenbach, der SS-Brigadeführer und Chef des Einsatzkommandos 5 der Einsatzgruppe C, Erwin Schulz, sowie der Abteilungsleiter im Reichssicherheitshauptamt und Chef des Einsatzkommandos 12 der Einsatzgruppe D, Obersturmbannführer Gustav Nosske
Auch Sachverständige kamen im Verlauf der Beweisaufnahme zu Wort. So bemühten sich Hans Buchheim, Helmut Krausnick, Martin Broszat und Hans-Adolf Jacobsen vom Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) um eine Kontextualisierung der Auschwitz-Verbrechen, um "den Richtern (…) schon vor der Vernehmung der Zeugen eine Vorstellung von den historischen und politischen Zusammenhängen an die Hand zu geben".
Die Staatsanwaltschaft forderte für 16 der Angeklagten die Höchststrafe – lebenslanges Zuchthaus. Für zwei weitere wurden je zwölf Jahre Zuchthaus gefordert. Zwei Angeklagte sollten freigesprochen werden. Während des Prozesses und danach wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass es nur die "Kleinen" seien, die hier vor Gericht stünden. Diejenigen aber, die das Gesamtgeschehen an den Schreibtischen des Reichssicherheitshauptamtes und des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes der SS geplant und befohlen hatten, waren damals zum großen Teil nicht mehr unter den Lebenden, konnten untertauchen, sich anderweitig der gerechten Strafe entziehen, oder waren wegen des "Überleitungsvertrages" von 1952/55 für die deutschen Strafverfolgungsbehörden tabu.
Die Angeklagten stellten – abgesehen vom fehlenden Kommandanten – ein Abbild der Lagerhierarchie in dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz dar: von Adjutanten der Kommandanten über Schutzhaftlagerführer, Rapport- und Blockführer, Angehörige der sogenannten Politischen Abteilung, Lagerärzte und -apotheker und Sanitätsdienstgrade bis zum Funktionshäftling. Dies verdeutlicht, worum es ging: Es wurde kein politischer Prozess, schon gar kein Schauprozess geführt, sondern die Wahrheit und Wirklichkeit des Verbrechenskomplexes Auschwitz mit Hilfe von Zeugenaussagen, Dokumenten und zeitgeschichtlichen Gutachten erforscht und in einem rechtsstaatlichen Verfahren die jeweils individuelle strafrechtliche – nicht moralische oder ethische – Schuld der Angeklagten festgestellt. Hier urteilte ein deutsches Gericht nach dem deutschen Strafgesetzbuch und den Regeln der Strafprozessordnung über Deutsche. Dass es Beschränkungen unterlag, die durch Handlungen der Siegermächte vor der Erlangung der Souveränität der Bundesrepublik Deutschland 1955 verursacht wurden, schmälert das Bemühen des Gerichts um Gerechtigkeit nicht.
Urteil und Folgerungen
Das Schwurgericht unter dem Vorsitzenden Richter Hans Hofmeyer – zu Beginn des Prozesses Landgerichtsdirektor, während seiner Dauer zum Senatspräsidenten befördert – verurteilte sechs Angeklagte zu lebenslanger Zuchthausstrafe und einen, der als Schüler und SS-Unterführer im Dezember 1940 nach Auschwitz versetzt worden war und sich 1941/42 für einige Monate beurlauben ließ, um Abitur zu machen, zur Höchststrafe von zehn Jahren Jugendstrafe. Diese sieben Angeklagten wurden als Täter verurteilt, denn ihnen konnte zweifelsfrei Mord zwischen fünf (Blockführer Baretzki) und mindestens 475 Fällen (SS-Sanitäter Klehr) nachgewiesen werden. Boger wurde wegen Mordes in mindestens 114 Fällen, Schutzhaftlagerführer Hofmann (bereits 1961 wegen Mordes in zwei Fällen im KZ Dachau in München zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt) in 34 und der Rapportführer Kaduk in zwölf Fällen verurteilt. Dem einstigen Häftling und Blockältesten Bednarek wurden 14 Morde angelastet, die er aus Mordlust und gegen den Befehl begangen hatte.
Zehn Angeklagte erhielten lediglich als Gehilfen Zuchthausstrafen. Ihre aktive Mitwirkung am staatlich organisierten Massenmord, vor allem durch "Rampendienst" bei "Selektionen" für die Gaskammern und "Lagerselektionen" für die tödlichen Giftinjektionen sowie bei Erschießungen, wurde als "gemeinschaftliche Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord" in jeweils mehreren Fällen an je mehreren Hundert bis zu mehreren Tausend Menschen gewertet. Sie erhielten Zuchthausstrafen zwischen 14 Jahren (Mulka) und drei Jahren und drei Monaten (Lucas).
Manche hielten dieses Urteil für zu milde. Zu groß war die Diskrepanz zwischen dem Geschehen in den Vernichtungslagern und den von bundesdeutschen Gerichten verhängten Strafen. Hier musste staatlich organisierter Massen- und Völkermord von solchem Ausmaß, dass der menschliche Verstand ihn nicht zu begreifen vermag, mit einem für diese Art von Verbrechen inadäquaten Mordparagrafen konfrontiert werden, der fordert, dass das Gericht für jeden Angeklagten den individuellen Tatnachweis führen muss.
Heute geht die Tendenz bei Juristen dahin, in so außergewöhnlichen Fällen industriell vorgenommener Massentötungen wie in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern auf den individuellen Tatnachweis zu verzichten und die Täter als "Teil der Vernichtungsmaschinerie" zu verurteilen. So geschah es vor wenigen Jahren im Münchner Prozess gegen den aus der Ukraine stammenden Iwan Demjanjuk, der als Kriegsgefangener von der SS zum "fremdvölkischen Hilfswilligen" umgeschult worden war und 1943 einige Monate als "Wachmann" im Vernichtungslager Sobibor Dienst getan hatte. Aufgrund der Tatsache, dass während seiner Dienstzeit in Sobibor laut der Transportlisten rund 228000 Menschen getötet worden seien, wurde er am 11. Mai 2011 zu fünf Jahren Haft wegen Beihilfe zum massenhaften Mord verurteilt. Er hätte sich nicht beteiligen dürfen, sondern fliehen müssen,
Das ist das Bedeutsame: Vor fünfzig Jahren wurden die außergewöhnlichen, einmaligen Verbrechen eines Unrechtsregimes ohne Sondertribunale mit dem geltenden Schuldstrafrecht ohne Sondergesetze in einem fairen rechtsstaatlichen Verfahren abgeurteilt. Zwanzig Jahre nach dem Untergang der NS-Diktatur hat der Auschwitz-Prozess entscheidend dazu beigetragen, dass die Deutschen die Notwendigkeit erkannten, sich mit ihrer jüngsten Vergangenheit ernsthaft auseinanderzusetzen. Die Gesellschaft der 1950er und 1960er Jahre hatte die Mitverantwortung der funktionellen Eliten des Militärs, der Polizei, der Justiz, der Wirtschaft und der Universitäten für das Funktionieren der Herrschaft der Nationalsozialisten und ihrer Verbrechen fast vollständig verdrängt.
Schon während des Prozesses hatten die Medienvertreter, die den Verhandlungen des Gerichts beiwohnten, der Öffentlichkeit vom Alltag im "Zentrum der Endlösung der Judenfrage" berichtet und wachsende Teile der Öffentlichkeit zu neuem Nachdenken über die NS-Vergangenheit angeregt. Nun stellte die Nachkriegsgeneration bohrende Fragen an die Generation der Väter und Mütter: Was habt ihr damals gedacht und getan? Wie konnte so etwas geschehen? Wie konntet ihr wegsehen und euer Gewissen beruhigen, wenn Mitbürger erniedrigt, ausgesondert und vernichtet wurden? Warum seid ihr einer Ideologie nachgelaufen, die weder Menschlichkeit noch Recht kannte, die fanatisch Stärke, Gewalt, Verdrängung und Ausmerzung, Verderben und Tod predigte?
Das Schwurgericht sei nicht berufen gewesen, die Vergangenheit zu bewältigen, sagte der Vorsitzende Richter in der mündlichen Urteilsbegründung. Auch wenn das Verfahren weit über die Grenzen des Landes Beachtung gefunden und den Namen "Auschwitz-Prozess" erhalten habe, sei es für das Gericht doch ein Strafprozess geblieben. Für das Urteil sei nur die jeweils individuelle Schuld der Angeklagten maßgebend gewesen. Gewiss: Aufgabe des Gerichts war es nicht, Volkshochschule für die Aufarbeitung der Vergangenheit zu sein. Dennoch war der Auschwitz-Prozess mehr als nur die auf die Angeklagten bezogene Wahrheitsfindung und Rechtsprechung. Er war eine Mahnung und Warnung zugleich vor jeglicher Beruhigung des Gewissens, wenn Zivilcourage und Widerstand gegen gewaltverherrlichende Ideologien und Weltanschauungen oder religiösen Fanatismus und Rassenwahn geboten ist. Er war aber auch eine bedeutende Geschichtsquelle, lieferte Material für die historische Forschung und bewirkte nicht zuletzt wegen der Aufmerksamkeit, die er in der Öffentlichkeit fand, moralische und politische Aufklärung der Bevölkerung, die sich, je länger der Prozess dauerte, desto schwerer vor dem verschließen konnte, was im Gerichtssaal zur Sprache kam.
Auch nach fünfzig Jahren kann der Berichterstatter nur wiederholen, was er damals zum Urteil im Auschwitz-Prozess schrieb: "Die Schrecken der Apokalypse verblassen angesichts der Todesfabriken von Auschwitz, in denen Millionen von Männern, Frauen und Kindern buchstäblich ausgelöscht wurden: Nicht nur für ihre Habseligkeiten hatte man Verwendung, selbst ihre Haare, ihr Zahngold, ja sogar ihre Knochen oder ihre Asche wurden ‚buchmäßig erfasst, abgerechnet und verwertet‘. Der Frankfurter Auschwitz-Prozeß ist zu Ende. Das aber, wofür der Name Auschwitz steht, werden Menschen kaum vergessen können, Deutsche nie vergessen dürfen."