1945 war das Jahr, in dem die größten Fortschritte in der Geschichte der Menschheit erreicht werden konnten. Dieses Jahr brachte den Sieg über das faschistische Deutschland, es brachte das Ende der bösartigen Herrschaft Japans. Und es brachte einen bedeutenden Auftakt für die Organisation des Weltfriedens."
In der Tat markiert das Jahr 1945 eine tiefe Zäsur in der Geschichte der internationalen Beziehungen der Neuzeit. Hier erfolgten wesentliche Weichenstellungen, die die Entwicklung der Gesellschaften in Ost- und Westeuropa, aber auch in Asien und Teilen Afrikas für die folgenden Jahrzehnte dauerhaft beeinflussen sollten. Dabei basierte die Nachkriegsordnung nach 1945 nur zu Teilen auf positivem Recht in Gestalt von Friedensverträgen; mehr als nur eine Frage der internationalen Politik hingegen wurde fürs Erste durch die normative Kraft faktischer Entwicklungen entschieden. Wie ist diese Nachkriegsordnung aus heutiger Perspektive einzuschätzen? Inwieweit führte sie ältere Traditionen der Konfliktbeendigung fort und ist mit früheren großen Friedensschlüssen vergleichbar? Inwiefern setzte sie neue Akzente in den internationalen Beziehungen? Wie haltbar war diese Ordnung, und was ist von ihr übrig geblieben? Diesen Fragen widmet sich dieser Essay, in dem ich den Schwerpunkt auf Europa und die westliche Welt lege, damit jedoch immer globale Perspektiven zu verbinden suche. Der Fokus richtet sich auf die jeweiligen grundlegenden ordnungspolitischen und normativen Entscheidungen, hinter die eine gründliche Analyse territorialer und sonstiger Bestimmungen der jeweiligen Vereinbarungen an dieser Stelle zurücktreten muss.
1648 – 1815 – 1919 – 1945: Neuzeitliche Nachkriegsordnungen
Die 1945 begründete Nachkriegsordnung reiht sich ein in eine lange historische Linie von Bemühungen, nach kriegerischen Auseinandersetzungen die internationalen Beziehungen zu restabilisieren. Als neuzeitlicher Auftakt derartiger Bemühungen ist ohne Zweifel der Westfälische Friede von 1648 anzusehen, der den Schlusspunkt des Dreißigjährigen Krieges markiert. In den Friedensverträgen von Münster und Osnabrück sowie den in Nürnberg 1649/50 ausgehandelten Rezessen wurde das Fundament der modernen Staatenbeziehungen gelegt. In der historischen Forschung wird der Westfälische Friede durchaus kontrovers gedeutet, wie im Übrigen auch der Charakter der ihm vorangegangenen kriegerischen Auseinandersetzungen umstritten ist – waren sie Ausdruck eines primär (macht)politischen oder eher eines religiösen Konflikts?
Insbesondere durch das Instrumentum Pacis Osnabrugense, den Osnabrücker Friedensvertrag vom 24. Oktober 1648, wurden konfessionelle Konflikte entschärft; protestantische und katholische Kurfürsten, Fürsten und Stände wurden gleichgestellt. Man kann die langfristige Bedeutung dieser Regelung kaum überschätzen, beendete sie doch nicht nur die über ein Jahrhundert währenden, immer wieder blutigen Auseinandersetzungen, sondern begründete darüber hinaus eine Tradition des paritätisch organisierten Interessenausgleichs, die sich in Deutschland bis in die (neo)korporatistischen Arrangements des späten 20. Jahrhunderts verfolgen lässt.
Mochte der Westfälische Friede auf der einen Seite langfristig friedensstiftende Wirkungen erzielt haben, so fällt seine Bilanz auf der anderen Seite gemischter aus, wenn wir auf die zweite Entwicklung sehen, die sich mit ihm Bahn brach. Die Friedensverträge von 1648 begründeten den modernen souveränen Staat; das Westphalian system spielt auch in der aktuellen politikwissenschaftlichen Forschung noch eine gewichtige Rolle.
Mit der Französischen Revolution gegen Ende des 18. Jahrhunderts veränderte sich der Charakter des Krieges in Europa fundamental. Er war nun nicht mehr eine Angelegenheit der Fürsten und Dynastien, sondern mit der französischen levée en masse, der massenweisen Einziehung junger Männer in die Armee, brach sich erstmals der Volkskrieg Bahn. Die Eindämmung der Revolution war daher eines der zentralen Themen des Wiener Kongresses von 1814/15, auf dem sich die Staatsmänner und Diplomaten Europas über eine neue Ordnung nach den Erfahrungen der Revolutions- und napoleonischen Kriege zu verständigen suchten. Indem die Dominanz der vier, ab 1818 wieder fünf Großmächte zementiert wurde, bestätigte die Wiener Kongressakte einerseits eine Struktur der internationalen Beziehungen, wie sie sich seit dem Hubertusburger Frieden von 1763 herausgebildet hatte. Andererseits bereitete sie mit dem System europäischer Kongresse Formen der kooperativen Konfliktbearbeitung den Weg, der durchaus zukunftsträchtig schien. Bevor Konflikte eskalierten, sollten Zusammenkünfte der europäischen Staatsmänner sie auf dem Verhandlungsweg entschärfen. Tatsächlich ließen sich auf diese Weise einige Erfolge erzielen, ehe ab 1820 Differenzen zwischen den europäischen Großmächten über die Frage aufbrachen, inwieweit das von allen geteilte Interesse an Revolutionsprophylaxe gemeinsame (oder gemeinsam veranlasste) Interventionen in anderen Staaten notwendig und legitim erscheinen ließen. Dies diskreditierte die Wiener Ordnung nicht nur in den Augen der erstarkenden liberalen und nationalen Bewegungen in Europa; im Zeitalter der Nationalstaaten trat mehr und mehr die Verfolgung nationaler Eigeninteressen gegenüber Formen kooperativer Konfliktregulierung in den Vordergrund.
Spätestens nach der Gründung des Deutschen Reiches und des bald folgenden Einsetzens imperialer Konkurrenzen zwischen den europäischen Mächten erodierten die Instrumentarien kooperativer Konfliktaustragung zusehends. Zwar ließen sich koloniale Streitigkeiten gelegentlich durch Absprachen zwischen den europäischen Mächten – auf Kosten Afrikas und Asiens – klären,
Die Protagonisten der Pariser Vorortkonferenzen standen vor immensen Herausforderungen, als sie sich 1919/20 an die Aushandlung einer neuen Nachkriegsordnung machten. Was am Ende der Verhandlungen festgeschrieben wurde, hatte von allen hier behandelten Friedensordnungen die kürzeste Geltungsdauer und die am heftigsten umkämpfte Legitimation. War im Westfälischen Frieden die Souveränität von Staaten die Leitvorstellung gewesen, so nahm in Paris das Selbstbestimmungsrecht der Völker einen vergleichbaren Rang ein. Sein wichtigster Advokat war der US-amerikanische Präsident Woodrow Wilson, der mit seinen "14 Punkten" vom 8. Januar 1918 markante Konturen der kommenden internationalen Ordnung gezeichnet hatte.
Es wäre gewiss zu deterministisch argumentiert, würde man die Nachkriegsordnung von 1919 als von Anbeginn zum Scheitern verurteilt sehen; doch lassen sich die schweren Belastungen, die zu jeder Zeit auf ihr lagen, nicht leugnen. Als die Verwerfungen infolge der Weltwirtschaftskrise hinzutraten, etablierte sich allerorten eine nationalfixierte Interessenpolitik, die durch die weithin bestehende Bereitschaft, für deren Durchsetzung auch Kriege zu führen, zusätzlich angeheizt wurde.
Als der Zweite Weltkrieg sechs Jahre später zu Ende ging, hatte sich die Welt grundstürzend gewandelt. An eine Rückkehr zum status quo ante bellum war nicht zu denken, keiner der an Kapitulation und anschließenden Verhandlungen Beteiligten konnte sich vorstellen, dass man die alte Welt würde wiederherstellen können. Dazu waren die Verheerungen, die Verbrechen, die moralischen Verwüstungen zu gewaltig. Daraus zogen die Architekten der Nachkriegsordnung von 1945 ihre Konsequenzen: Mochten auch nicht alle dem Optimismus Franklin D. Roosevelts mit seiner One-world-Formel folgen (also der Einsicht, dass alle Staaten voneinander abhingen und folglich kooperieren sollten), so bestand doch Einigkeit darin, eine Rückkehr des entfesselten Nationalismus zu verhindern und möglichem Revanchismus der Kriegsverlierer von Anfang an den Boden zu entziehen, indem man sie dauerhaft militärisch schwächte und unter internationale Kontrolle stellte.
Doch als es an die konkrete Ausgestaltung der internationalen Sicherheitsarchitektur ging, wurde deutlich, dass die Einigkeit der Kriegskoalition schon bald enden würde.
Transformation der Nachkriegsordnung von 1945
Die Nachkriegsordnung von 1945 trug einerseits den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges Rechnung, indem sie, geradezu im klassischen Verständnis von Friedensverträgen, territoriale Veränderungen, Bestrafung der Kriegsverursacher und -verlierer sowie Kompensationen für die Sieger festschrieb. Mit den anderen Nachkriegsordnungen seit 1648 vergleichbar sind auch die Bemühungen, neue Formen der Stabilisierung zu definieren. Andererseits aber war die Nachkriegsordnung von 1945, weit deutlicher als ihre historischen Vorläufer, von Anbeginn immer auch eine Kriegsordnung: Sie setzte den Rahmen für den seit 1943/44 in Konturen erkennbaren, bis 1947 vollends durchbrechenden Kalten Krieg, dessen Logiken und Konjunkturen die internationale Politik auf vielen – keineswegs aber auf allen – Feldern bis 1990 folgte. Dabei lassen sich verschiedene, durchaus auch gegenläufige Prozesse, Formen und Ausmaße der Transformation dieser Ordnung erkennen – vor allem aber auch ihre unterschiedliche Leistungskraft bei der Schaffung von "Weltfrieden". An sechs Beispielen globaler, europäischer und deutscher Entwicklungen sei dies näher ausgeführt.
Erstens lässt sich in der Nachkriegszeit einerseits die Fortdauer einer traditionellen Mächtekonkurrenz beobachten, die mehr denn je globale Dimensionen besaß. In ihr waren zunächst vor allem die großen Staaten und Kriegsgewinner treibende Kräfte, die ihre Positionen zu verbessern beziehungsweise sich als Großmächte zu behaupten suchten. In dieser Hinsicht wandelte sich die Nachkriegsordnung von 1945 bis zu den frühen 1960er Jahren grundlegend, als die europäischen Großmächte in ihren Versuchen scheiterten, ihre Kolonialgebiete zu sichern oder wieder einzunehmen.
Wie prekär die Nachkriegsordnung von 1945 war – und im Grunde blieb –, lässt sich, zweitens, in der weiteren Entwicklung der nuklearen Frage erkennen. Auch unter dem Dach der Vereinten Nationen gelang es nicht, eine alle Parteien befriedigende Lösung zu finden; im Gegenteil stand die internationale Politik ab 1949, als das US-amerikanische Atomwaffenmonopol gebrochen wurde, bis in die späten 1980er Jahre im Zeichen eines nuklearen Rüstungswettlaufs, der die Welt mehr als einmal an den Rand eines Nuklearkrieges brachte und Ressourcen immensen Ausmaßes verschlang. Erst in den 1970er Jahren, in einer Phase vorübergehender Entspannung, dann vor allem nach 1987, konnten sich die beiden Supermächte auf Maßnahmen zur Rüstungsbegrenzung beziehungsweise Abrüstung verständigen.
Drittens: Stabilität gewann die Nachkriegsordnung vor allem in Europa, wenngleich auch hier Transformationen der Ordnung von 1945 zu beobachten sind. In Westeuropa vollzog sich nach 1945 ein Prozess der Integration, der dem Wiederaufleben traditioneller Mächtekonkurrenz zuwiderlief. Angeregt und kräftig gefördert durch die US-amerikanische Europapolitik seit 1947, namentlich durch den Marshallplan, und in der Folgezeit eingebettet in die amerikanisch dominierte Weltwirtschaftsordnung entwickelten die westeuropäischen Staaten ein Politikmodell, das Kooperation an die Stelle nackter Konkurrenz setzte. Dies schloss keineswegs aus, dass genuin nationale Interessen befriedigt oder die europäischen Nationalstaaten durch supranationale Zusammenschlüsse gestärkt wurden.
Bleiben wir in Westeuropa. Hier zielte, viertens, die Nachkriegsordnung von 1945 vor allem darauf, den Europäern Sicherheit vor Deutschland zu verschaffen. Die Teilung des Landes, die konsequente Demilitarisierung des westdeutschen Staates, internationale Kontrollen sowie die alliierte Besatzung bis 1949/55 bildeten Vorkehrungen gegen ein Wiedererstarken des Landes. In gewissem Sinne wurde die Nachkriegsordnung diesbezüglich schon 1949, spätestens jedoch mit der Wiederbewaffnung 1955 transformiert, jedoch nicht in ihrem Kerngedanken revidiert. Denn die Kontrolle der Deutschen wurde nun durch ihre enge Einbindung in supranationale Militärstrukturen ersetzt, so wie sich die Bundesrepublik im Laufe der 1950er Jahre auch in die europäische Integration einklinken konnte und diese dann zeitweise entscheidend mit vorantrieb. Erst im Laufe der Zeit trat der Kontrollaspekt in den Hintergrund, wozu auch die nachdrückliche Distanzierung aller Bundesregierungen von revanchistischem Gedankengut beitrug. Nicht verhindern konnte die Regierung Adenauer, dass sich trotz des (dem Grundgedanken nach) gesamtdeutschen Ansatzes der Nachkriegsordnung die beiden deutschen Staaten auseinanderentwickelten und die deutsche Frage auf der Agenda der Weltpolitik immer weiter an Bedeutung verlor. Mit dem Mauerbau 1961 wurden gesamtdeutsche Ambitionen für beinahe drei Jahrzehnte unrealistisch, im Schatten der Teilung konnten die Westdeutschen eine "postnationale Identität" ausprägen, die 1945 den Wenigsten vorstellbar gewesen wäre.
Fünftens: Die Nachkriegsordnung von 1945 schloss die US-amerikanische Dominanz in der westlichen Welt mit ein. Auf ihrer Grundlage griffen Vorstellungen vom "Westen" Raum, die normativ zunächst auf dem Konsensliberalismus basierten, sich dann jedoch pluralisierten.
Der langfristig entscheidende und in historischer Perspektive bemerkenswerteste Effekt der Nachkriegsordnung von 1945 mit Blick auf Europa ist, sechstens, der Umstand, dass mit ihr der Krieg für Jahrzehnte aus Europa verbannt wurde. Im Hinblick auf die gewaltvolle, ja desaströse erste Hälfte des 20. Jahrhunderts kann diese Wirkung gar nicht genug gewürdigt werden. Der Historiker James Sheehan hat argumentiert, dass es gerade die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs gewesen sei, die die Westeuropäer dauerhaft pazifiziert hätte.
1945 und wir: Was bleibt?
Der letzte Aspekt ist derjenige, der für die Frage nach den fortdauernden Wirkungen der Nachkriegsordnung von 1945 am relevantesten ist. Seit den 1970er Jahren erodierte die Ordnung von 1945 auch im Hinblick auf ihre Feindvorstellungen zusehends, ehe sie mit dem Ende des Kalten Krieges in Gänze auf den Prüfstand gestellt wurde. Wesentliche Entscheidungen von 1945 wurden nach 1990/91 revidiert:
Die Nachkriegsordnung von 1945 wurde jedoch nicht vollständig aus den Angeln gehoben. Nach wie vor ist es nicht gelungen, die nukleare Frage einzuhegen; im Gegenteil ist ihre Behandlung durch den Aufstieg neuer (Beinahe-)Nuklearmächte weit schwieriger denn je. Die Binarität internationaler Ordnungsvorstellungen ist, wenn auch in veränderter Form, erhalten geblieben oder wurde spätestens nach 2001 wiederhergestellt. An die Stelle des Feindes im Osten trat in den westlichen Gesellschaften die islamistische Bedrohung; manche beschwören freilich auch eine Wiederkehr des Kalten Krieges zwischen Ost und West im Angesicht der aktuellen Krise in der Ukraine und weiterer Interessenkonflikte zwischen Russland und dem Westen.
Vor diesem Hintergrund sei abschließend eine positive Bilanz der Ordnung von 1945 akzentuiert. So wie die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg lebendig geblieben ist, so ist die grundsätzlich friedliche Konfliktaustragung in Westeuropa heute tief verankert. Für Osteuropa gilt dies nicht; ebenso wie in den 1990er Jahren in Südosteuropa sind dort Krieg und Gewalt als Mittel der Politik zurückgekehrt. Es ist an den Westeuropäern, an die Wirkmächtigkeit der Lektionen von 1945 zu erinnern und darauf zu drängen, die richtigen Lehren aus der Geschichte zu ziehen.