Politische Krisensituationen mit gewaltsamen und kriegerischen Konflikten in verschiedenen Ländern lösen aktuell hohe Fluchtwellen aus. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind weltweit noch nie so viele Menschen auf der Flucht gewesen, und die syrische Flüchtlingskrise gilt schon jetzt als Jahrhundertkatastrophe. Auch im Irak ist es aufgrund des Terrors des "Islamischen Staates" zu neuen großen Fluchtbewegungen gekommen.
Die aktuelle Unterbringungssituation für Flüchtlinge in Deutschland in Sammellagern oder in provisorisch hergerichteten Sporthallen ist besonders prekär. Ein Viertel der Asylantragsteller in Deutschland sind dazu traumatisierte "Menschen, die die Schrecken im Herkunftsland, die Traumata der illegalen Flucht und noch dazu Erfahrungen mit Inhaftierung, Obdachlosigkeit oder Hunger in Randstaaten Europas mit sich herumgetragen und Angst vor der Rückschiebung haben".
Ein neuer Problembereich ist der rasante Anstieg unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge, die von der Jugendhilfe in Obhut genommen und sowohl pädagogisch als auch psychologisch betreut werden. Die Anzahl der Inobhutnahmen unbegleitet einreisender Jugendliche stieg im Zeitraum von 2005 (602 Fälle) bis 2013 (6584 Fälle) um das Zehnfache an. Dies entspricht knapp 16 Prozent aller Inobhutnahmen 2013.
Engagement für Flüchtlinge
Bürgerschaftliches oder ehrenamtliches Engagement hat in Deutschland im Vergleich zu früheren Jahren insgesamt nicht merklich zugenommen und ist im Zeitverlauf eher stabil geblieben. Laut Freiwilligensurvey von 2009 ist der Anteil freiwillig Engagierter an der Bevölkerung ab 14 Jahren in Deutschland in den Jahren zwischen 2004 und 2009 mit einer Engagementquote von gut einem Drittel (36 Prozent) stabil geblieben, während unter den bis dahin nicht Engagierten ein steigender Anteil zum Engagement bereit ist.
Beim Engagement in der Flüchtlingshilfe zeichnet sich jedoch eine positive Entwicklung ab: Verschiedene Bezugs- und Betreuungsstellen im Bereich der Flüchtlingshilfe sowie aktuelle örtliche Pressemeldungen berichten bundesweit über eine deutlich gestiegene Hilfsbereitschaft und reges Engagement seitens der deutschen Bevölkerung. So sind laut Günther Burkhardt, Geschäftsführer und Mitbegründer von ProAsyl, derzeit Tausende freiwillige Helfer und zahlreiche neu gegründete Initiativen zu beobachten: "Täglich melden sich derzeit bei ProAsyl, den Flüchtlingsräten der Länder und den lokalen Asylvereinen in der ganzen Republik engagierte Menschen, die Flüchtlinge unterstützen möchten. (…) In der breiten Gesellschaft wachsen derzeit die Solidarität und der Impuls, Menschen in Not beizustehen."
Nach meinen Erfahrungen in der Flüchtlingssozialarbeit haben sich auch kreativ-therapeutische Freiwilligenprojekte für traumatisierte Flüchtlinge (Gymnastikkurs als Bewegungstherapie, Massagekurs oder Yoga als Entspannungstherapie, Musik-, Kunst- und Tanztherapie) bei entsprechender Qualifikation der Freiwilligen als außerordentlich nützlich für die Integration herausgestellt.
Mit Blick auf die aktuelle Situation der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge rege ich in einem gesonderten Abschnitt eine ehrenamtliche Patenschaftsbeziehung an, in welcher der/die Ehrenamtliche als dauerhafte Bezugsperson und Bildungsbegleiter fungiert. Für eine weitere Mobilisierung ehrenamtlichen Engagements reicht es nicht, dies allein im Sinne der gesellschaftlichen Mitverantwortung der Bürger zu begründen. Vielmehr muss die besondere Bedeutung der Ehrenamtlichkeit für die Integration der Gesellschaft neu beleuchtet werden, um hieraus geeignete Praxisempfehlungen für ein breiteres Engagement in der Flüchtlingshilfe abzuleiten.
Bedeutung des Ehrenamts im Bereich der Flüchtlingshilfe
Aufgrund der Ergebnisse einer im Rahmen meiner Dissertation vorgenommenen empirischen Studie
Dieses zunächst nicht ins Auge gefasste Integrationsziel ehrenamtlicher therapeutischer Hilfestellung erweist sich als ihre besondere Leistung, die ganz wesentlich mit den dem Ehrenamt zugrunde liegenden intrinsischen Motiven
So werden Flüchtlinge, die aufgrund ihrer extrem schwierigen seelischen und strukturellen Ausgangssituation und negativer Erfahrungen mit der Aufnahmegesellschaft eine nur geringe oder gar keine Motivation zur Integration hatten und sogar negativ voreingestellt oder blockiert waren, erst durch die mit ehrenamtlicher Hilfe überwundene seelisch-emotionale Blockade zu weiterführenden Integrationsschritten in den beiden anderen Dimensionen aufgeschlossen. Damit leistet das Ehrenamt einen entscheidenden, seelisch-emotional vorbereitenden ersten Schritt zur kognitiv-kulturellen und sozial-strukturellen Integration. In diesem Sinne versteht sich das Ehrenamt als ein unverzichtbarer Baustein zur Integration.
Die integrationsförderlichen Beziehungen zwischen Ehrenamtlichen und Flüchtlingen lassen sich ihrer Funktion nach als Ersatz-, Kompensations-, Lernbeziehung sowie Kapitalbeziehung typisieren:
Ersatzbeziehung:
Die Flucht als eine von außen aufgezwungene Entscheidung unterbricht abrupt den sozialen und vielfach auch familiären Lebenszusammenhang. Durch die Kontakte zu den Ehrenamtlichen können verloren gegangene soziale Bindungen teilweise ersetzt werden. Das trägt dazu bei, soziale Bezugssysteme für Flüchtlinge familienähnlich zu vergrößern und zu stabilisieren. Dadurch wird die soziale Integration gefördert. Darüber hinaus spielen die Ehrenamtlichen insbesondere für Flüchtlingskinder oder -jugendliche eine elterliche Rolle oder fungieren als Elternersatz. Gerade diese ehrenamtlichen Ersatzbeziehungen dürften im Hinblick auf die drastisch zunehmende Zahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge nach Deutschland von besonderem Interesse für die Praxis sowohl bei der Unterbringung als auch bei der Betreuung dieser Flüchtlingsgruppe sein.
Therapiebeziehung:
Die durch Kriegs- und Fluchterlebnisse traumatisierten Flüchtlinge leiden unter deren Spätfolgen, weil ihnen in ihrer neuen Lebensumwelt keine oder nur unzureichende therapeutische Möglichkeiten für die angemessene Verarbeitung ihrer Traumaerfahrungen geboten werden. Wenn aber Flüchtlinge zu Ehrenamtlichen langsam eine Vertrauensbeziehung aufbauen, sich ihnen gegenüber allmählich öffnen und ihnen dabei nicht selten ihre oftmals leidvolle Geschichte anvertrauen, hilft ihnen das bei der Bewältigung ihrer Vergangenheit. In diesem Sinne wird dem Ehrenamt eine therapeutische Funktion zugeschrieben, wobei die Ehrenamtlichen durch ihre persönliche Begleitung
Kompensationsbeziehung:
Die interviewten Flüchtlinge haben aufgrund ihres rechtlichen Status zwingend häufige Kontakte zu Behörden. Die Mehrheit macht dabei mit den Verwaltungsbeamten negative Erfahrungen, die zu neuen Traumata führen können. Sie fühlen sich nicht willkommen oder als Menschen wertgeschätzt, man begegnet ihnen nicht selten unhöflich und sogar im Befehlston. Auch im Umgang mit der einheimischen Bevölkerung kommt es zu Diskriminierungserfahrungen. Da sie ansonsten kaum positiv gestaltete Kontakte haben, entsteht ein eher negatives Bild der Aufnahmegesellschaft. Die Beziehungen zu den Ehrenamtlichen kompensieren dieses einseitige und negative Bild von Deutschland. Das Gefühl, abgelehnt zu werden, kann durch die Beziehung zu Ehrenamtlichen kompensiert und in ein Gefühl des Angenommenseins umgewandelt werden, das entscheidend für eine seelisch-emotionale Integration und die Bereitschaft zur sozialen Integration ist.
Lernbeziehung:
Die Flüchtlinge lernen durch die Kontakte zu Ehrenamtlichen Sprache, Verhalten, Normen, Werte und Erwartungen der aufnehmenden Gesellschaft kennen. Dieser Lerneffekt fördert zweifellos am stärksten die kognitiv-kulturelle Integration der Flüchtlinge. Deutsche mit ihren Verhaltensweisen und menschlichen Regungen einschätzen zu können, erhöht die allgemeine Kontaktbereitschaft und führt nachweislich zur besseren sozialen Integration. Die Lernbeziehung ist keinesfalls einseitig. Auch die Ehrenamtlichen haben positive Lernerfahrungen. Sie lernen Menschen aus anderen Kulturkreisen kennen und verstehen es, zwischen den Flüchtlingen und der einheimischen Bevölkerung zu vermitteln und als Meinungsmultiplikator eine aufklärende Rolle in der Gesellschaft zu übernehmen.
Kapitalbeziehung:
Ehrenamtsbeziehungen können auch als eine Art von Sozialkapital betrachtet werden. Die Beziehungen zu Ehrenamtlichen werden in bestimmten Situationen, beispielsweise bei behördlichen Schwierigkeiten oder bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, nutzbringend und vorteilhaft für Flüchtlinge eingesetzt. So konnten durch Interventionen von Ehrenamtlichen die Abschiebetermine für Flüchtlinge verschoben werden oder durch ihre Vermittlung Mietwohnungen und Arbeitsstellen für Flüchtlinge besorgt werden. Dadurch wird auch die strukturelle Integration verbessert.
Die Integrationswirkung der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe variiert abhängig von der rechtlichen und psychosozialen Situation der Flüchtlinge:
Ehrenamtliches Engagement in der Flüchtlingshilfe trägt nicht nur zur Integration der Flüchtlinge als Ehrenamtsadressaten bei, sondern hat auch in besonderer Weise eine integrierende Wirkung auf die an ehrenamtlichen Prozessen Beteiligten
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (umF) sind zu einem festen Bestandteil der Migration geworden. Sie stellen ein ganz eigenes Problemfeld dar, für das nach neuen Lösungsansätzen gesucht wird. Hierbei kann ehrenamtliche Unterstützung insbesondere in Form einer Patenschaftsbeziehung – unterlegt mit geeigneten Ehrenamtskonzepten – eine Erfolg versprechende Rolle spielen.
Die unbegleiteten jugendlichen Flüchtlinge haben nicht selten traumatische Fluchterfahrungen gemacht und sehen sich jetzt in Deutschland vor neue Probleme gestellt. "Aufgrund ihres Alters, ihrer Herauslösung aus dem vertrauten Umfeld und wegen des fehlenden Schutzes durch die eigene Familie zählen umF zur Gruppe der besonders verletzlichen und daher besonders schutzbedürftigen Flüchtlinge."
Intrinsisch motivierte Ehrenamtliche können nachhaltige patenschaftsähnliche Beziehungen – im Sinne der Ersatz- und Therapiebeziehung – zu jungen Flüchtlingen aufbauen, sie seelisch-emotional stabilisieren und dann auf allen weiteren Stufen des Integrationsprozesses wirkungsvoll begleiten und unterstützen. Hierfür muss ein konzeptioneller Rahmen geschaffen werden, der eine professionelle Zusammenarbeit der Ehrenamtlichen mit den hauptamtlichen Flüchtlingsbetreuern ermöglicht. Mit Blick auf die prekäre Unterbringungslage wäre zu erwägen, ob die unbegleiteten Minderjährigen nicht auch in die Lebensgemeinschaft der Ehrenamtlichen – analog den Pflegefamilien und individualpädagogischen Betreuungsstellen – aufgenommen werden können, wenn ehrenamtliche Betreuer dies wünschen, entsprechend qualifiziert sind und die räumlichen Möglichkeiten vorweisen können. Das hier vorgeschlagene Konzept müsste durch den Staat mit rechtlicher Weichenstellung eingeführt und finanziell und fachlich unterstützt werden.
Auch mit Blick auf die Bildungssituation der jungen Flüchtlinge kann die ehrenamtliche Unterstützung hilfreich sein. Sie schaffen in der Regel die Eingliederung in das reguläre deutsche Schulsystem nicht, andere unterstützende Angebote stehen nicht flächendeckend zur Verfügung. Oftmals findet für 16- bis 17-Jährige keine Beschulung statt, da sie nicht mehr der allgemeinen Schulpflicht unterliegen. In diesem Zusammenhang halte ich qualifizierte Ehrenamtliche als Ausführer des Bildungsauftrages für sehr geeignet. Denn gutes Lernen setzt gute Lernbeziehungen voraus, man lernt in und an der Beziehung zu den Lehrenden. Zu Flüchtlingsjugendlichen, die aufgrund ihrer belastenden Situation in ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit beeinträchtigt sind, können die Ehrenamtlichen eine von Anteilnahme, Respekt und Anerkennung geprägte empathische Beziehung aufbauen und eine gute Lerngrundlage für die kognitiv-kulturelle Integration schaffen. Von daher könnten insbesondere die betroffenen Schulen (oder andere Organisationen, Kirchengemeinden) bewusst Ehrenamtliche aus dem Gemeinwesen, Freiwilligenagenturen oder der Eltern- und Schülerschaft rekrutieren und in die Arbeit einbinden.
Ich möchte deshalb eine Debatte darüber anregen, ob und wie ein professionell gestaltetes Ehrenamtskonzept für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge die jetzigen staatlichen Lösungen verbessern und ergänzen kann und welche infrastrukturellen, personellen und finanziellen Rahmenbedingungen hierfür zu schaffen wären. Kurzfristig ist es wichtig und notwendig, hauptamtliche Flüchtlingsbeauftragte auf die Möglichkeiten ehrenamtlicher Unterstützung bei der Inobhutnahme der Jugendlichen hinzuweisen, über Motivation und spezifische Einsatzmöglichkeiten Ehrenamtlicher zu informieren und Konzepte für eine professionelle Zusammenarbeit zu entwickeln.
Erfolgsrezept für die Praxis des Engagements
Angesichts der konstant hohen Flüchtlingszahlen aus den verschiedensten Kulturkreisen und den damit verbundenen Integrationsanforderungen darf ehrenamtliches Engagement in diesem Bereich nicht dem Zufall überlassen werden, wie es vielfach in der Praxis geschieht. Das Engagement muss vielmehr zum Gegenstand eines planvollen systematischen Handelns bei den Flüchtlingsbehörden und anderen mit der Integration von Flüchtlingen befassten Organisationen werden.
Auch muss das Engagement adäquat durch interkulturelle Bildung getragen werden, damit es ohne Nebenwirkungen die Flüchtlingsintegration erfolgreich voranbringen kann. Interkulturelle Kontakte führen, auch wenn sie mit wohlwollender Bereitschaft erfolgen, nicht automatisch zum Abbau von Vorurteilen oder zu mehr Toleranz. Es können sich durch interkulturelle Missverständnisse und Irritationen oder im Konfliktfall die ablehnenden Einstellungen eher noch verfestigen, wie Empirie und Praxis zeigen.
Ausschlaggebend für den Erfolg ist jedoch eine neue Ehrenamtskultur, die die organisationsspezifische Kultur der Anerkennung und die Bewusstseinsveränderung bei den hauptberuflich tätigen Mitarbeitern dieser Institutionen und Organisationen umfasst, sei es in Vereinen, Verwaltungen, Kirchengemeinden oder Schulen. Hauptamtliche sind in der Regel diejenigen, die durch Direktansprache potenzieller Ehrenamtlicher diese für den Beginn oder das Weiterführen eines Engagements motivieren und durch Wertschätzung, Anerkennung und gute Begleitung entlohnen. Doch bestehen nicht selten Vorbehalte gegenüber den Ehrenamtlichen verbunden mit Desinteresse an einer Zusammenarbeit mit ihnen. Es ist daher dringend erforderlich, bei den Hauptamtlichen eine Bewusstseinsänderung über die Bedeutung des Ehrenamts und seine integrativen Wirkungen auf das Individuum und die Gesellschaft herbeizuführen. So sollten die Hauptamtlichen als Schlüsselfiguren für den Erfolg der Ehrenamtsprojekte (an)erkannt werden und ihre Handlungskompetenzen für den adäquaten Umgang mit Ehrenamtlichen durch kontinuierliche Aus- und Fortbildung gefördert werden. Hierzu gehört die Vermittlung von Kenntnissen über Motive, Wirkmechanismen und Potenziale von Ehrenamtlichen und wie man sie rekrutieren, einsetzen und professionell begleiten kann.