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Was bleibt von Bismarck? | Bismarck | bpb.de

Bismarck Editorial Warum Bismarck? Bismarck und das Problem eines deutschen "Sonderwegs" Der Mythos Bismarck und die Deutschen Bismarck-Bilder in Frankreich und Europa Was bleibt von Bismarck? Bismarck und der Kolonialismus

Was bleibt von Bismarck?

Tilman Mayer

/ 12 Minuten zu lesen

Es ist nicht einfach, Bismarck im 21. Jahrhundert zu vergegenwärtigen. Wir können jedoch Aspekte des heutigen Deutschlands wie das Parteiensystem, die Stellung des Kanzlers oder die geopolitischen Herausforderungen betrachten und dabei einen Rückbezug auf Bismarck zulassen.

"Man kann Geschichte überhaupt nicht machen. Aber man kann immer aus ihr lernen, wie man das politische Leben eines großen Volkes seiner Entwicklung und historischen Bestimmung entsprechend zu leiten hat."

Vor fünfzig Jahren stellte der Historiker Theodor Schieder anlässlich des 150. Geburtstages Otto von Bismarcks die immer wieder kontrovers diskutierte Frage, "was von diesem Tage und von einem Manne als erinnerungswürdig gelten kann, dessen Werk – die nationalstaatliche Einheit Deutschlands – im Jahre 1918/19 schwer angeschlagen worden und 1945 zerbrochen ist". Seine Antwort war eindeutig: Bismarck habe geschichtliche Fundamente hinterlassen, die nach wie vor sichtbar seien; Bismarck bilde eine geschichtliche Macht, der man sich nicht entziehen könne, selbst wenn man ihm feindlich begegne. "Das Thema ist ein historisches und ein aktuelles in dem Sinn, in dem alle Geschichte aktuell ist. Wir fragen sie nach dem, was uns angeht", so auch der Historiker Golo Mann.

Es ist nicht einfach, Bismarck im 21. Jahrhundert zu vergegenwärtigen. Wir müssen heute eigene, anders legitimierte politische Wege gehen, als sie im 19. Jahrhundert beschritten wurden. Wir können jedoch – wie im Folgenden geschehen soll – Aspekte betrachten und Grundfragen aufwerfen, die auf uns übertragen wurden oder die wir übernommen haben, und dabei einen Rückbezug auf Bismarck zulassen. Seit Jahrzehnten wird die bereits oben angedeutete Frage bemüht, ob Bismarck am Untergang seines eigenen Reiches in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts Anteil hatte. Respice finem – "bedenke das Ende" – taucht also stets als Imperativ auf, wenn wir das Erbe Bismarcks bedenken wollen, um daraus Inspirationen für die Gegenwart zu ziehen. Leitende Idee ist uns dabei das bekannte Wort des Soziologen John R. Seeley von 1896: "Political science without History has no root. History without Political Science bears no fruit."

Parteien

Aufgrund eines latenten Antiparteienaffektes wurden Parteien in der Bismarck-Ära weder in der Verfassung, noch in der Verfassungswirklichkeit als tragende Institutionen der Demokratie angesehen. Bismarck respektierte zwar den Frühparlamentarismus, verschaffte dem Parlament Geltung und arrangierte Bündnisse mit nationalliberalen und konservativen Parteien. Zugleich ließ er aber keinen Zweifel daran, dass ein wirkliches Mitregieren von Parteien außerhalb des Möglichen lag beziehungsweise eine parlamentarische Regierung seinem monarchischen Grundsatz diametral entgegenstand. Das deutsche Parteiwesen konnte sich entsprechend nur verquast entwickeln: eine prekäre Nachwirkung.

Mit Otto von Bismarck ist keine Partei oder auch nur eine Tradition verbunden, an die ohne Weiteres im 21. Jahrhundert angeknüpft werden kann. Ein parteipolitisches Erbe Bismarcks gibt es nicht. Weder die Konservativen noch die Nationalliberalen sind als Formation heute noch existent. Stattdessen finden sich Anhängerinnen und Anhänger der politischen Grundsätze Bismarcks, die im politischen Spektrum wohl eher etwas rechts der Mitte zu verorten sind als links. Konservative gibt es vor allem in den Unionsparteien, soweit sie mittlerweile nicht zur AfD abgedriftet sind, wobei der konservative Gedanke im Kaiserreich und in der heutigen Bundesrepublik kaum mehr zu vergleichen sind. Insofern die CDU als Partei der deutschen Wiedervereinigung gelten kann, da die SPD zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung unter dem Einfluss des damaligen Vorstandsmitglieds Oskar Lafontaine der Deutschen Einheit distanziert gegenüberstand, hat sie natürlich auch eine Schwäche für Bismarck. Zwischen Helmut Kohl und Otto von Bismarck als "Kanzler der Einheit" gibt es durchaus Parallelen, wie der Politikwissenschaftler Hans-Peter Schwarz eindrucksvoll aufzeigt. Und die bayerische CSU sah sich in ihrer Geschichte schon öfter als Erbin preußischer Traditionen, etwa als sie als Kritikerin der Entspannungspolitik 1973 das Bundesverfassungsgericht anrief, um eine Wiedervereinigungsperspektive aufrechtzuerhalten.

Um jedoch behaupten zu können, die Unionsparteien hätten das Erbe Bismarcks angetreten – und vor allem welches, abgesehen von der Wiedervereinigungspolitik? –, müsste noch viel Bismarck-Traditionsbildung organisiert werden, was bisher nicht zu erkennen ist. Hinzu kommt für die Mitte-rechts-Parteien, dass es über Jahrzehnte inopportun war, sich zu Bismarck zu bekennen. Auch heute bestehen große Reserven insbesondere angesichts einer in der deutschen Bevölkerung verbreiteten pazifistischen Grundhaltung, aufgrund derer der Uniformträger Bismarck und seine kriegerische Reichseinigungspolitik von 1864 bis 1871 weitab vom gegenwärtigen politischen Spielfeld angesiedelt werden, obgleich diese Haltung unfair, vielleicht geschichtsvergessen ist: "Das Wort von ‚Blut und Eisen‘, die drei Kriege der Reichsgründungszeit haben allzu oft vergessen lassen, dass Bismarck nach 1871 eine ausgesprochene Friedenspolitik trieb", so der Historiker Wilhelm Mommsen. Dementsprechend werden auch Versuche außerhalb des Parlaments, Bismarck zu vereinnahmen, ihm schon im Ansatz nicht gerecht.

Die SPD hat es da heute viel leichter, steht sie doch in der Tradition der Partei August Bebels – vielleicht noch immer in Opposition zu Bismarck, auch wenn sie dessen diplomatische und einigungspolitische Leistung sicher längst nicht mehr infrage stellt. Die Verfolgung der Sozialdemokratie sowie der sogenannten ultramontanen Katholiken hat natürlich zur innergesellschaftlichen Feindbildung beigetragen.

Kanzlerfrage

Auf den ersten Blick hat das bundesrepublikanische Format der Kanzlerdemokratie nichts mit der Stellung des Kanzlers im Bismarck-Reich gemein. Hinzu kommt, dass zwischen Bismarck und den Bundeskanzlern beziehungsweise der Bundeskanzlerin von heute noch ein österreichisch gebürtiger Kanzler kam, was zu einer überbetonten Distanz zu Bismarcks Amtszeit geführt hat.

Die Kuriosität der Stellung Bismarcks als Kanzler liegt darin, dass er gerade nicht dem Reichstag gegenüber verantwortlich war, sondern einzig und allein seinem König beziehungsweise Kaiser, als dessen Diener er sich gerierte. Der große Staatsmann Bismarck war in ein enges Verantwortungskorsett gezwängt, aus dem er sich 1890 nicht mehr befreien konnte, sodass er seinem um Jahrzehnte jüngeren Kaiser im powerplay unterlag. Versuchsweise könnte man die Stellung Bismarcks im Kaiserreich durch das Konstrukt der Kanzlermonarchie charakterisieren. Auch bei dieser Struktur wird der Unterschied zur Kanzlerdemokratie deutlich, weil bei Letzterer der Kanzler unter Führungsgesichtspunkten eine mächtigere Position innehat. Dennoch war es zweifelsfrei so, dass der Kanzlermonarch Bismarck zwar formal unter seinem Kaiser die Regierungsgeschäfte erledigte, aber im Deutschen Reich nicht nur innenpolitisch die beherrschende Figur schlechthin darstellte, sondern eben auch außenpolitisch, wo "das Europa zwischen 1870 und 1890 nach Berlin gravitierte". Einmal mehr zeigt sich, dass die institutionelle Einordnung für sich genommen noch nicht die eigentlichen Machtverhältnisse offenbart. Die herausgehobene Stellung Bismarcks als Kanzler hatte im Deutschen Reich im Sinne des Westminster-Systems Potenzial. Es fehlte jedoch die entscheidende Parlamentarisierung, die damals allerdings außer der Sozialdemokratie kaum jemand forderte. Auch der Soziologe Max Weber kam erst spät zu dieser Einsicht.

Die monumentale Entwicklung von Bismarcks Kanzlerschaft führte dazu, dass kleinformatigere Nachfolger angesichts eines kontrollbedürftigen Hohenzollerns mit dieser Herausforderung nicht zurechtkamen. Das Deutsche Reich nach 1890 scheiterte schließlich aber an der Machtanmaßung des Throninhabers, der in neoabsolutistischer Manier selbst Politik betreiben wollte – und dies auf die verhängnisvollste Weise, die mit dem Stichwort "Wilhelminismus" umschrieben werden kann. Bismarck brachte dies in seinen Memoiren so auf den Punkt: "Die heutige Politik eines Deutschen Reiches, mit freier Presse, parlamentarischer Verfassung, im Drange der europäischen Schwierigkeiten, läßt sich nicht im Stile einer durch Generäle ausgeführten Königlichen Ordre betreiben." Bismarcks Kanzlerschaft bedeutete schließlich stets auch die Kontrolle eines Monarchen, dessen Meinungen durch die Urteilskraft Bismarcks zum Vorteil des Reiches ausgeglichen werden konnten. Die Bundesrepublik Deutschland kann heute auch mit "schwachen" Kanzlern regierungsfähig bleiben. Aber aus der geopolitischen Konstellation heraus richtet sich eine Erwartung an die Bundeskanzler, der sie sich hoffentlich gewachsen zeigen: Europa nicht hegemonial bestimmen zu wollen, aber der objektiven Dominanz Deutschlands in Europa verantwortungsvoll gerecht zu werden. Diesem gesamteuropäischen Erbe zu entsprechen, bleibt eine Herausforderung.

Gesellschaft

In der Bismarck-Zeit prägten militärische Wertvorstellungen weite Teile der deutschen Gesellschaft, der Einfluss der sogenannten Junker war groß. Einen Einfluss des Militärs auf die Politik hat Bismarck bekanntlich öfter klar und eindrucksvoll zurückgewiesen. Ein serviler Geist, geprägt von Befehl und Gehorsam, war jedoch eine eingeübte Tradition – ganz im Gegensatz zur Akzeptanz von Opposition und Widerspruch. Obrigkeitliches Denken und Attitüden einer standesorientierten, agrarisch bestimmten Gesellschaft prägten eine politische Kultur, die uns heute absolut fremd ist. Dieser Befund ist insbesondere deshalb wichtig, weil sich damit Unterschiede in der Legitimation von Herrschaft damals und heute herauskristallisieren, die die heutige Entfernung zum Bismarck-Reich markieren. Max Webers 1918 allzu spät erfolgte Kritik am Zustand der Nation, dass sie ohne jede politische Erziehung sei, ohne politischen Willen und gewohnt, dem großen Staatsmann an der Spitze zu folgen, bleibt richtig und in heutiger Terminologie eine Kritik der politischen Kultur des Bismarck-Reiches.

Zugleich steht der Name Bismarcks bis heute unstrittig für seine europaweit beispielhafte sozialgesetzgeberische Reformpolitik. Zwar kam es dazu nicht ohne Friktionen und ließen sich manche Vorstellungen Bismarcks nicht realisieren, aber diese tief greifenden sozialen Reformen gehören zweifelsfrei zu dem, was bis heute von Bismarck geblieben ist. Wie neuere, bestehende Urteile hinterfragende Forschungen zeigen, war das soziale Reformwerk Bismarcks ihm selbst ein primäres Anliegen. Die Behauptung, dass es einzig im Zuge der Bekämpfung der Sozialdemokratie dazu gekommen sei, kann als widerlegt angesehen werden. Die sozialen Verwerfungen in den Industrieregionen der Gründerzeit hatten Missstände offen gelegt, die Bismarck Anlass zum Handeln waren. Durch diese Reformen gelang es ihm sogar, das geeinte Reich stärker zu integrieren. Allerdings wurde durch die Art der Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie diese Integrationsleistung auf der politischen Ebene belastet.

Nationalstaat

Bis 1989 war der Begriff Nationalstaat in Westdeutschland verpönt. Selbst Bundeskanzler Helmut Kohl sprach vom sogenannten klassischen Nationalstaat des 19. Jahrhunderts. Damit wollte er sich von einer Souveränität abgrenzen, die Bonn nicht kannte und von der viele meinten, dass sie grundsätzlich schlecht sei. Diese Aburteilung hatte eine europaeuphorische Kehrseite. Die heutigen europäischen Nationalstaaten sind zwar eingebettet in den europäischen Integrationsprozess, zugleich aber als solche selbst dann noch identifizierbar, wenn ihre Währung nicht mehr nationalstaatlich präfiguriert wird. Insofern haben auch wir Deutschen das Erbe Bismarcks angetreten, denn unser Nationalstaat moderner Prägung ist, intergouvernemental gesehen, noch immer Träger des europäischen Integrationsprozesses.

Der Blick auf eine Karte zeigt, dass der bestehende deutsche Nationalstaat mit jenem Bismarcks vergleichbar ist – auch, wenn sein Umfang nicht mehr derselbe ist. Bismarcks nationalstaatliches Projekt ist trotz der fundamentalen Erschütterungen Deutschlands im 20. Jahrhundert und trotz einer langen Teilung des Nationalstaates noch klar erkennbar. Ganz wie zu Zeiten Bismarcks ist Berlin eine politische Adresse, an der man in Europa nicht vorbeikommt und die auch international Geltung hat. Und der neue deutsche, europakompatible Nationalstaat hat sich anerkanntermaßen auch moralisch als Verantwortungsgemeinschaft für das Unrechtsregime des "Dritten Reiches" und den Holocaust behauptet. Das nationalstaatliche Erbe Bismarcks anzutreten war also ab 1990 für die vor allem westdeutsche politische Führungsriege ein nachzuholender Lernprozess. Inwiefern man seiner nüchternen Interessenpolitik folgen will, also nach Bismarckschen Maßstäben politikfähig ist, bleibt eine offene Frage.

Geopolitik

Die Herausforderung, die Deutschlands Lage in der Mitte Europas birgt, beschäftigt deutsche Führungseliten schon seit Jahrhunderten. Stets hieß es, Deutschland sei als Hegemonialmacht in Europa zu schwach, entfalte aber Wirkung als Mittelmacht. "Gleichgewicht oder Hegemonie" lautet ein Dauerthema in der Historiografie und der Politischen Wissenschaft, neuerdings lebt es unter dem Schlagwort "Kampf um Vorherrschaft" wieder auf. Der deutsche "Flickenteppich" der Vor-Bismarck-Zeit war politisch für die umliegenden Mächte ein einladendes Spielfeld. Die westfälische Friedensordnung von 1648 – vom ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger als "Weltordnung" bezeichnet – hätte eigentlich dazu führen können, dass sich in Europa ein Gleichgewichtssystem etabliert.

In deutschen Territorien waren die Fürsten zu stark, als dass es hätte gelingen können, über sie hinweg eine Nationalstaatsgründung auf den Weg zu bringen. Als die Demokratie- und Nationalbewegung sich 1848 bottom up abzeichnete, war Preußen jedoch unfähig, das Heft in die Hand zu nehmen. Die ungeklärte Frage des deutschen Dualismus zwischen Wien und Berlin stand noch bis 1866 im Raum. Vor diesem Hintergrund blieben die bestehenden Mächte 1871 angesichts der Gründung eines Reiches in der Mitte Europas skeptisch. Hinzu kam der Geburtsfehler der Reichsgründung, dass die nationale Einheit im Dissens mit Frankreich erreicht wurde. Anders als das wiedervereinigte Deutschland 1990 sah sich das neu gegründete Kaiserreich nicht "von Freunden umgeben". Die souveränen Nationalstaaten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren bereit, Bündnisse zu Lasten Dritter einzugehen, die zur Not auch durch Kriege verteidigt wurden. Die geopolitische Lage in dieser potenziell anarchischen Situation der Nationalstaaten untereinander – in der realistischen Theorie der internationalen Beziehungen noch immer elementare Grundlage aller Analysen – war fragil, weil sie aus Bündniskonstellationen bestand. Bismarcks Albtraum war der cauchemar des coalitions, also ein Bündnis gegen das Deutsche Reich, das es isoliert – eine Konstellation, die knapp 25 Jahre nach Bismarcks Abgang tatsächlich durch die russisch-französische Entente und die Weltkriegskonstellation von 1914 zustande kam. Der außenpolitischen Philosophie Bismarcks entsprach es, Optionen offen zu halten, um die Lage des Deutschen Reiches zu stabilisieren – auch mit geheimen Rückversicherungsverträgen wie mit Russland 1887. Die der diplomatischen Kunst Bismarcks entspringende Bündniskonstellation wurde und wird allgemein noch immer bewundert. Die Kehrseite war jedoch die typische bündnisstrategische Volatilität. Nur wer diese Staatskunst beherrschte, konnte reüssieren.

Als "Staatskunst" qualifizierte der Historiker Gerhard Ritter ein auf eine dauerhafte Friedensordnung gerichtetes politisches Handeln. Bismarck beherrschte diese Kunst in bewundernswerter Weise. Seinen Epigonen in der wilhelminischen Ära, in der es zum Beispiel um den "Platz an der Sonne" im Machtpoker imperialer Mächte gehen sollte, fehlte wiederum die Sensibilität für diese Herausforderung. Allein die "Abwesenheit des Krieges" für eine längere Zeit stelle eine beachtliche Leistung dar, schreibt Theodor Schieder in seinem bereits erwähnten Artikel und fügt den aus heutiger Sicht etwa nach den Jugoslawien-Kriegen oder angesichts des Ukraine-Konflikts bemerkenswerten Satz hinzu: "Daran vor allem muss heute seine Leistung gemessen werden. Den Frieden zu schaffen ist dann uns und denen, die nach uns kommen, aufgegeben, und wir werden es dem Urteil der Geschichte überlassen müssen, ob wir dabei über Bismarck hinauskommen."

Bedauerlicherweise führte Bismarcks Denken global gesehen nicht zu einer Ordnung, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte, etwa in Gestalt der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die aber ihrerseits auch nicht verhindern konnte, dass sich eine klassische Konfliktsituation wie jene zwischen der Ukraine und Russland entwickelte. Das Denken in Weltordnungskategorien hat sich jedenfalls nicht erledigt. Daher ist Bismarcks diplomatische Kunst ein Erbe, das bei aller Abwandlung und Distanz gegenüber der damaligen Zeit dennoch eine Studiervorlage darstellt. Das Schicksal des Bismarck-Reiches, das als aufstrebende Macht in Europa zunächst geduldet, nach Bismarck jedoch aufgrund seines Bramarbasierens zunehmend isoliert wurde, ist von großer Bedeutung für Staaten in einer vergleichbaren Ausgangssituation. Nach wie vor spielt das Gleichgewicht der Kräfte eine wichtige Rolle.

Nach der Wiedervereinigung wurde spekuliert, ob diesem demokratischen, "von Freunden umgebenen" Deutschland geopolitisch überhaupt noch Gefahren drohen können. Die Entwicklung des Euro und die Feindseligkeiten, mit denen im Zusammenhang mit der derzeitigen Krise eine deutsche Regierung im weiteren europäischen Umfeld bedacht wird, zeigen jedoch etwas auf, das mit der ökonomischen Größe selbst dieses im Vergleich zum Kaiserreich geschrumpften Deutschlands zu tun hat: Die wirtschaftlich stark gebliebene Stellung Deutschlands in Europa, die sich nach französischer Vorstellung durch die Einführung des Euro hätte ändern sollen, hat sich sogar verfestigt. Deutschland dominiere schon wieder, stellte kürzlich der Bankenexperte David Marsh fest. Im Unterschied zur Bismarck-Zeit wird Deutschland – das Werk Bismarcks – zwar nicht mehr infrage gestellt. Angesichts gewaltiger Finanzierungserwartungen und transeuropäischer Umverteilungsfantasien wäre es aber eine Illusion anzunehmen, dass die gegenwärtige Krise für Deutschland keine Gefahren berge. Deutschland steht heute in gesamteuropäischer Verantwortung.

Die Frage, warum das zweite deutsche Reich gescheitert ist und ob es nicht durch die diplomatische Kunst Bismarcks hätte erhalten werden können, ist im Rückblick auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts keine nebensächliche Angelegenheit und keinesfalls eine Frage, die nur Historikerinnen und Historiker interessieren sollte. Wir müssen die alte Frage immer wieder neu aufwerfen. Nur weil die öffentliche Meinung in Deutschland stark friedensorientiert ist, ist damit der Frieden keinesfalls gesichert.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Otto von Bismarck, zit. nach: Otto Pflanze, Bismarcks Realpolitik (1958), in: Lothar Gall (Hrsg.), Das Bismarck-Problem in der Geschichtsschreibung nach 1945, Köln–Berlin 1971, S. 222.

  2. Theodor Schieder, Bismarck – gestern und heute, in: APuZ, (1965) 13, S. 1–24.

  3. Golo Mann, Bismarck, in: L. Gall (Anm. 1), S. 328.

  4. Siehe auch Andreas Wirschings Beitrag in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  5. John R. Seeley, Introduction to Political Science, London–New York 1896, S. 4.

  6. Vgl. Daniel Friedrich Sturm, Uneinig in die Einheit: die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90, Bonn 2006.

  7. Vgl. Hans-Peter Schwarz, Reichsgründung und Wiedervereinigung. Variationen zum Thema Vergleichbarkeit und Unvergleichbarkeit von Otto von Bismarck und Helmut Kohl (2010), in: Tilman Mayer (Hrsg.), Bismarck: Der Monolith, Hamburg 2015, S. 328ff.

  8. Wilhelm Mommsen, Der Kampf um das Bismarck-Bild (1950), in: L. Gall (Anm. 1), S. 168.

  9. Vgl. Brigitte Seebacher, Bismarck und Bebel. Ein Spiegelbild, in: T. Mayer (Anm. 7), S. 220ff.

  10. Vgl. Hajo Holborn, Bismarcks Realpolitik (1960), in: L. Gall (Anm. 1), S. 248.

  11. T. Schieder (Anm. 2), S. 15.

  12. Otto von Bismarck, Gesammelte Werke, Neue Friedrichsruher Ausgabe, Abteilung IV: Gedanken und Erinnerungen, Paderborn u.a. 2012, S. 469.

  13. Vgl. Heinz Reif, Arbeit am Feindbild. Bismarck und der altpreußische Adel in der linksliberalen und sozialdemokratischen Polemik, in: T. Mayer (Anm. 7), S. 202ff.

  14. Vgl. Werner Plumpe, Otto von Bismarck und die soziale Frage – Überlegungen zu einem alten Thema der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, in: ebd., S. 178ff.

  15. Ludwig Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte, Darmstadt 1996.

  16. Brendan Simms, Kampf um Vorherrschaft. Eine deutsche Geschichte Europas. 1453 bis heute, München 2014.

  17. Vgl. Henry Kissinger, Weltordnung, München 2014.

  18. Vgl. Ulrich Schlie, Förmlich geschieden? Der deutsche Dualismus, Bismarcks Kalkül und die Folgen des Duells von 1866, in: T. Mayer (Anm. 7), S. 149ff.

  19. T. Schieder (Anm. 2), S. 24.

  20. Vgl. H. Kissinger (Anm. 17).

  21. Arnulf Baring, Scheitert Deutschland?, Stuttgart 1997, S. 240.

  22. Vgl. David Marsh, Auf der Suche nach der wahren Größe, in: Die Welt vom 31.1.2015, S. 1.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Tilman Mayer für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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Dr. phil., geb. 1953; Professor für politische Theorie, Ideen- und Zeitgeschichte am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn, Lennéstraße 25, 53113 Bonn. E-Mail Link: tilman.mayer@uni-bonn.de