"Man kann Geschichte überhaupt nicht machen. Aber man kann immer aus ihr lernen, wie man das politische Leben eines großen Volkes seiner Entwicklung und historischen Bestimmung entsprechend zu leiten hat."
Vor fünfzig Jahren stellte der Historiker Theodor Schieder anlässlich des 150. Geburtstages Otto von Bismarcks die immer wieder kontrovers diskutierte Frage, "was von diesem Tage und von einem Manne als erinnerungswürdig gelten kann, dessen Werk – die nationalstaatliche Einheit Deutschlands – im Jahre 1918/19 schwer angeschlagen worden und 1945 zerbrochen ist".
Es ist nicht einfach, Bismarck im 21. Jahrhundert zu vergegenwärtigen. Wir müssen heute eigene, anders legitimierte politische Wege gehen, als sie im 19. Jahrhundert beschritten wurden. Wir können jedoch – wie im Folgenden geschehen soll – Aspekte betrachten und Grundfragen aufwerfen, die auf uns übertragen wurden oder die wir übernommen haben, und dabei einen Rückbezug auf Bismarck zulassen. Seit Jahrzehnten wird die bereits oben angedeutete Frage bemüht, ob Bismarck am Untergang seines eigenen Reiches in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts Anteil hatte.
Parteien
Aufgrund eines latenten Antiparteienaffektes wurden Parteien in der Bismarck-Ära weder in der Verfassung, noch in der Verfassungswirklichkeit als tragende Institutionen der Demokratie angesehen. Bismarck respektierte zwar den Frühparlamentarismus, verschaffte dem Parlament Geltung und arrangierte Bündnisse mit nationalliberalen und konservativen Parteien. Zugleich ließ er aber keinen Zweifel daran, dass ein wirkliches Mitregieren von Parteien außerhalb des Möglichen lag beziehungsweise eine parlamentarische Regierung seinem monarchischen Grundsatz diametral entgegenstand. Das deutsche Parteiwesen konnte sich entsprechend nur verquast entwickeln: eine prekäre Nachwirkung.
Mit Otto von Bismarck ist keine Partei oder auch nur eine Tradition verbunden, an die ohne Weiteres im 21. Jahrhundert angeknüpft werden kann. Ein parteipolitisches Erbe Bismarcks gibt es nicht. Weder die Konservativen noch die Nationalliberalen sind als Formation heute noch existent. Stattdessen finden sich Anhängerinnen und Anhänger der politischen Grundsätze Bismarcks, die im politischen Spektrum wohl eher etwas rechts der Mitte zu verorten sind als links. Konservative gibt es vor allem in den Unionsparteien, soweit sie mittlerweile nicht zur AfD abgedriftet sind, wobei der konservative Gedanke im Kaiserreich und in der heutigen Bundesrepublik kaum mehr zu vergleichen sind. Insofern die CDU als Partei der deutschen Wiedervereinigung gelten kann, da die SPD zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung unter dem Einfluss des damaligen Vorstandsmitglieds Oskar Lafontaine der Deutschen Einheit distanziert gegenüberstand,
Um jedoch behaupten zu können, die Unionsparteien hätten das Erbe Bismarcks angetreten – und vor allem welches, abgesehen von der Wiedervereinigungspolitik? –, müsste noch viel Bismarck-Traditionsbildung organisiert werden, was bisher nicht zu erkennen ist. Hinzu kommt für die Mitte-rechts-Parteien, dass es über Jahrzehnte inopportun war, sich zu Bismarck zu bekennen. Auch heute bestehen große Reserven insbesondere angesichts einer in der deutschen Bevölkerung verbreiteten pazifistischen Grundhaltung, aufgrund derer der Uniformträger Bismarck und seine kriegerische Reichseinigungspolitik von 1864 bis 1871 weitab vom gegenwärtigen politischen Spielfeld angesiedelt werden, obgleich diese Haltung unfair, vielleicht geschichtsvergessen ist: "Das Wort von ‚Blut und Eisen‘, die drei Kriege der Reichsgründungszeit haben allzu oft vergessen lassen, dass Bismarck nach 1871 eine ausgesprochene Friedenspolitik trieb", so der Historiker Wilhelm Mommsen.
Die SPD hat es da heute viel leichter, steht sie doch in der Tradition der Partei August Bebels
Kanzlerfrage
Auf den ersten Blick hat das bundesrepublikanische Format der Kanzlerdemokratie nichts mit der Stellung des Kanzlers im Bismarck-Reich gemein. Hinzu kommt, dass zwischen Bismarck und den Bundeskanzlern beziehungsweise der Bundeskanzlerin von heute noch ein österreichisch gebürtiger Kanzler kam, was zu einer überbetonten Distanz zu Bismarcks Amtszeit geführt hat.
Die Kuriosität der Stellung Bismarcks als Kanzler liegt darin, dass er gerade nicht dem Reichstag gegenüber verantwortlich war, sondern einzig und allein seinem König beziehungsweise Kaiser, als dessen Diener er sich gerierte. Der große Staatsmann Bismarck war in ein enges Verantwortungskorsett gezwängt, aus dem er sich 1890 nicht mehr befreien konnte, sodass er seinem um Jahrzehnte jüngeren Kaiser im powerplay unterlag.
Die monumentale Entwicklung von Bismarcks Kanzlerschaft führte dazu, dass kleinformatigere Nachfolger angesichts eines kontrollbedürftigen Hohenzollerns mit dieser Herausforderung nicht zurechtkamen. Das Deutsche Reich nach 1890 scheiterte schließlich aber an der Machtanmaßung des Throninhabers, der in neoabsolutistischer Manier selbst Politik betreiben wollte – und dies auf die verhängnisvollste Weise, die mit dem Stichwort "Wilhelminismus" umschrieben werden kann. Bismarck brachte dies in seinen Memoiren so auf den Punkt: "Die heutige Politik eines Deutschen Reiches, mit freier Presse, parlamentarischer Verfassung, im Drange der europäischen Schwierigkeiten, läßt sich nicht im Stile einer durch Generäle ausgeführten Königlichen Ordre betreiben."
Gesellschaft
In der Bismarck-Zeit prägten militärische Wertvorstellungen weite Teile der deutschen Gesellschaft, der Einfluss der sogenannten Junker war groß.
Zugleich steht der Name Bismarcks bis heute unstrittig für seine europaweit beispielhafte sozialgesetzgeberische Reformpolitik. Zwar kam es dazu nicht ohne Friktionen und ließen sich manche Vorstellungen Bismarcks nicht realisieren, aber diese tief greifenden sozialen Reformen gehören zweifelsfrei zu dem, was bis heute von Bismarck geblieben ist. Wie neuere, bestehende Urteile hinterfragende Forschungen zeigen,
Nationalstaat
Bis 1989 war der Begriff Nationalstaat in Westdeutschland verpönt. Selbst Bundeskanzler Helmut Kohl sprach vom sogenannten klassischen Nationalstaat des 19. Jahrhunderts. Damit wollte er sich von einer Souveränität abgrenzen, die Bonn nicht kannte und von der viele meinten, dass sie grundsätzlich schlecht sei. Diese Aburteilung hatte eine europaeuphorische Kehrseite. Die heutigen europäischen Nationalstaaten sind zwar eingebettet in den europäischen Integrationsprozess, zugleich aber als solche selbst dann noch identifizierbar, wenn ihre Währung nicht mehr nationalstaatlich präfiguriert wird. Insofern haben auch wir Deutschen das Erbe Bismarcks angetreten, denn unser Nationalstaat moderner Prägung ist, intergouvernemental gesehen, noch immer Träger des europäischen Integrationsprozesses.
Der Blick auf eine Karte zeigt, dass der bestehende deutsche Nationalstaat mit jenem Bismarcks vergleichbar ist – auch, wenn sein Umfang nicht mehr derselbe ist. Bismarcks nationalstaatliches Projekt ist trotz der fundamentalen Erschütterungen Deutschlands im 20. Jahrhundert und trotz einer langen Teilung des Nationalstaates noch klar erkennbar. Ganz wie zu Zeiten Bismarcks ist Berlin eine politische Adresse, an der man in Europa nicht vorbeikommt und die auch international Geltung hat. Und der neue deutsche, europakompatible Nationalstaat hat sich anerkanntermaßen auch moralisch als Verantwortungsgemeinschaft für das Unrechtsregime des "Dritten Reiches" und den Holocaust behauptet. Das nationalstaatliche Erbe Bismarcks anzutreten war also ab 1990 für die vor allem westdeutsche politische Führungsriege ein nachzuholender Lernprozess. Inwiefern man seiner nüchternen Interessenpolitik folgen will, also nach Bismarckschen Maßstäben politikfähig ist, bleibt eine offene Frage.
Geopolitik
Die Herausforderung, die Deutschlands Lage in der Mitte Europas birgt, beschäftigt deutsche Führungseliten schon seit Jahrhunderten. Stets hieß es, Deutschland sei als Hegemonialmacht in Europa zu schwach, entfalte aber Wirkung als Mittelmacht. "Gleichgewicht oder Hegemonie"
In deutschen Territorien waren die Fürsten zu stark, als dass es hätte gelingen können, über sie hinweg eine Nationalstaatsgründung auf den Weg zu bringen. Als die Demokratie- und Nationalbewegung sich 1848 bottom up abzeichnete, war Preußen jedoch unfähig, das Heft in die Hand zu nehmen. Die ungeklärte Frage des deutschen Dualismus zwischen Wien und Berlin stand noch bis 1866 im Raum.
Als "Staatskunst" qualifizierte der Historiker Gerhard Ritter ein auf eine dauerhafte Friedensordnung gerichtetes politisches Handeln. Bismarck beherrschte diese Kunst in bewundernswerter Weise. Seinen Epigonen in der wilhelminischen Ära, in der es zum Beispiel um den "Platz an der Sonne" im Machtpoker imperialer Mächte gehen sollte, fehlte wiederum die Sensibilität für diese Herausforderung. Allein die "Abwesenheit des Krieges" für eine längere Zeit stelle eine beachtliche Leistung dar, schreibt Theodor Schieder in seinem bereits erwähnten Artikel und fügt den aus heutiger Sicht etwa nach den Jugoslawien-Kriegen oder angesichts des Ukraine-Konflikts bemerkenswerten Satz hinzu: "Daran vor allem muss heute seine Leistung gemessen werden. Den Frieden zu schaffen ist dann uns und denen, die nach uns kommen, aufgegeben, und wir werden es dem Urteil der Geschichte überlassen müssen, ob wir dabei über Bismarck hinauskommen."
Bedauerlicherweise führte Bismarcks Denken global gesehen nicht zu einer Ordnung, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte, etwa in Gestalt der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die aber ihrerseits auch nicht verhindern konnte, dass sich eine klassische Konfliktsituation wie jene zwischen der Ukraine und Russland entwickelte. Das Denken in Weltordnungskategorien hat sich jedenfalls nicht erledigt. Daher ist Bismarcks diplomatische Kunst ein Erbe, das bei aller Abwandlung und Distanz gegenüber der damaligen Zeit dennoch eine Studiervorlage darstellt. Das Schicksal des Bismarck-Reiches, das als aufstrebende Macht in Europa zunächst geduldet, nach Bismarck jedoch aufgrund seines Bramarbasierens zunehmend isoliert wurde, ist von großer Bedeutung für Staaten in einer vergleichbaren Ausgangssituation. Nach wie vor spielt das Gleichgewicht der Kräfte eine wichtige Rolle.
Nach der Wiedervereinigung wurde spekuliert, ob diesem demokratischen, "von Freunden umgebenen" Deutschland geopolitisch überhaupt noch Gefahren drohen können. Die Entwicklung des Euro und die Feindseligkeiten, mit denen im Zusammenhang mit der derzeitigen Krise eine deutsche Regierung im weiteren europäischen Umfeld bedacht wird, zeigen jedoch etwas auf, das mit der ökonomischen Größe selbst dieses im Vergleich zum Kaiserreich geschrumpften Deutschlands zu tun hat: Die wirtschaftlich stark gebliebene Stellung Deutschlands in Europa, die sich nach französischer Vorstellung durch die Einführung des Euro hätte ändern sollen, hat sich sogar verfestigt.
Die Frage, warum das zweite deutsche Reich gescheitert ist und ob es nicht durch die diplomatische Kunst Bismarcks hätte erhalten werden können, ist im Rückblick auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts keine nebensächliche Angelegenheit und keinesfalls eine Frage, die nur Historikerinnen und Historiker interessieren sollte. Wir müssen die alte Frage immer wieder neu aufwerfen. Nur weil die öffentliche Meinung in Deutschland stark friedensorientiert ist, ist damit der Frieden keinesfalls gesichert.