Bundeskanzlerin Angela Merkel betreibe eine "Bismarck-Politik", kommentierte der französische Politiker der Sozialistischen Partei und zukünftige Minister Arnaud Montebourg am 30. November 2011 die deutsche Währungspolitik in Europa. Diese Bemerkung war und ist kein Einzelfall, sondern vielmehr bezeichnend für den vermehrten Bezug auf den ersten deutschen Kanzler durch französische Politiker und Publizisten angesichts einer empfundenen "Rückkehr" der deutschen Macht seit der zweiten deutschen Einheit. Arnaud Montebourg wurde für seine Tirade stark kritisiert, galt manchen gar als Populist und Germanophob. Dennoch wäre es zu simpel, diese kritische Bismarck-Referenz auf einen einfachen nationalen Konflikt zu reduzieren.
Wie schon nach der ersten deutschen Einheit dient Bismarck, der als Akteur und Sinnbild deutscher Macht wahrgenommen wird, in erster Linie als Projektionsfläche für die Ängste vor einem Niedergang Frankreichs sowie für die politischen Unstimmigkeiten in Frankreich und Europa. Davon zeugt auch Montebourgs Rechtfertigung, die er einen Tag später auf seinem Blog veröffentlichte: "Bismarck traf die politische Entscheidung, die deutschen Fürstentümer zu vereinen, indem er die europäischen Länder und insbesondere Frankreich zu dominieren suchte. In frappierender Ähnlichkeit sucht die deutsche Kanzlerin Angela Merkel ihre innenpolitischen Probleme zu lösen, indem sie die Wirtschafts- und Finanzordnung der deutschen Konservativen dem ganzen übrigen Europa aufzwingt." Durch die Figur Bismarck wird also weniger Deutschland im Allgemeinen infrage gestellt, als gewisse wirtschafts- und sozialpolitische Entscheidungen sowie eine "autoritäre" Konzeption Europas. Ausgehend von diesen Spannungen werde ich die Wahrnehmung Bismarcks in Europa und insbesondere in Frankreich untersuchen und analysieren, wie Bismarck für die Europäerinnen und Europäer einerseits das "schlechte", konservative und kriegerische Deutschland verkörpern konnte und andererseits den die europäischen Gleichgewichte respektierenden "Schmied" der neuen Nation, bevor ich die rein europäische Dimension Bismarcks diskutiere.
Dämon der Deutschen
Als Bismarck in den 1860er Jahren erstmals im politischen Betrieb Frankreichs in Erscheinung trat, herrschte unter den französischen Eliten noch ein positives, gar engelsgleiches Bild des gespaltenen und schwachen Deutschlands vor. Die Deutschen galten im Sinne Madame de Staëls als ein kosmopolitisches und progressives Volk von Dichtern und Denkern. Für republikanische Intellektuelle wie den Historiker Jules Michelet und die Philosophen Henri Taine und Ernest Renan war Deutschland das Land der Aufklärung, waren die deutschen Universitäten Orte der Freiheit des Geistes. Vor diesem Hintergrund galt Bismarck nach dem Sieg Preußens bei der Schlacht von Königgrätz zunächst weitgehend als Verteidiger von Fortschritt und Freiheit gegen den von Österreich verkörperten katholischen Obskurantismus.
Dennoch wurden angesichts der Brutalität der preußischen Armee zugleich besorgte Stimmen laut. In der liberalen "Revue des deux Mondes" wurde mehrfach betont, dass in Wahrheit der Eroberungswille überwiege. Der Journalist Emile de Girardin sah in Bismarck eine Gefahr für das Deutschland der Aufklärung: "Mit der einen Hand schmeichelt der Oger von Berlin Deutschland, mit der anderen droht er, es gewaltsam zu verschlingen." Diese Einschätzung äußerte 1870 auch der Germanist Alfred Mezières: "Das friedliche, gemäßigte Deutschland, das wir für das große, wahre Deutschland hielten, von dem wir dachten, dass es mehrheitlich das Land ausmache, wurde von Preußen überwältigt. Dann sahen wir ein ehrgeiziges, gieriges, eroberungslustiges Deutschland, wie es letztlich von Herrn von Bismarcks Hand geformt worden war, sich auf uns stürzen." Dieses Bild eines guten und sanften, westlichen und rheinischen Deutschlands, das durch Bismarck, den preußischen Menschenfresser slawisch vermuteter Herkunft, verroht worden war, überwog nach der Schlacht von Sedan und der Belagerung von Paris im deutsch-französischen Krieg 1870/71 deutlich.
Bismarck wurde zum Sinnbild eines feudalen und barbarischen Preußens. Während der Bonapartist Victor de Persigny ihn 1850 als "schönen Mann mit angenehmen Umgangsformen" beschrieben und der Republikaner Jules Favre ihm 1870 noch "eine natürliche Unkompliziertheit beinahe bis zur Bonhomie" zugeschrieben hatte, war Bismarck im großen republikanischen Geschichtsbuch von 1929 zu einem "Koloss" geworden, "aus dessen geradem und kühnem Blick seiner blauen Augen die Stärke sprach, der Mut, die Kämpfernatur", sowie zu einem "(s)krupellose(n) Mann der Tat und des Kampfes, (…) mit einzigem Glaube und Ziel die Macht; Preuße bis ins Mark". Mitunter wurde er als Menschenfresser betitelt, wie 1898 nach seinem Tod in dem Lied "Der Oger von Berlin ist tot", oder als Tier: "Der erste Vergleich, der einem in den Sinn kommt, ist die Bulldogge." "Bismarck" war im Paris der 1870er Jahre tatsächlich ein Hundename. Die Grausamkeit, die er beim Frankreichfeldzug bewiesen habe – er habe sogar den Geruch der Leichen mit dem gebratener Zwiebeln verglichen – galt als Zeugnis seiner Unmenschlichkeit. Viele Republikaner und Liberale in Frankreich wie in ganz Europa und auch in Deutschland führten selbst diese Grausamkeit auf den preußischen Konservatismus und Militarismus zurück, die Bismarck verkörperte.
Die Rezeption seiner Politik als Reichskanzler im Laufe der von Kulturkampf und Sozialistengesetz geprägten 1870er Jahre nährte dieses negative Bild. In den Augen der Mehrheit der französischen Politiker betrieb der Junker Bismarck eine autoritäre und brutale Politik nach der Formel "Macht vor Recht". Diese Wahrnehmung teilten die meisten liberalen, sozialistischen und katholischen Kreise in Europa. Die bedeutende liberale Tageszeitung "Le Temps", die als "Zeitung der Republik" galt, und ihr kompromissloses katholisches Pendant "L’Univers" waren trotz ihrer gegensätzlichen Weltanschauungen in diesem Falle einer Meinung: Die zeitgenössischen Artikel beider Zeitungen zeugen von der Entstehung einer Art "antibismarckschen" Konsenses in der französischen Öffentlichkeit. In beiden Zeitungen spielte das politische Geschehen in Deutschland unter Bismarck nur eine bescheidene Rolle, und beide schenkten den im Zuge des Kulturkampfes und des Sozialistengesetzes ergriffenen repressiven Maßnahmen die meiste Aufmerksamkeit. Obwohl die liberalen Journalisten des "Temps" zuvor eine starke Abneigung gegenüber den politischen Leitlinien des Papstes an den Tag gelegt hatten, betrachteten sie die gegen die Katholiken ergriffenen Maßnahmen als schwerwiegende Verletzung der Grundfreiheiten und bedauerten, dass nur eine Minderheit der deutschen Liberalen sich dagegen widersetzte. In diesem "Verrat" der Liberalen sahen sie das Ergebnis des grundsätzlich korrumpierenden Einflusses Bismarcks auf die deutsche Politik, dessen autoritäres Verhalten die gesamte Gesellschaft anstecke.
Ähnlich interpretierten die liberale und die katholische Presse auch das Sozialistengesetz. Die Liberalen warfen Bismarck in diesem Zusammenhang vor, die Integration der Sozialdemokratie in den deutschen Politikbetrieb zu blockieren: "Ausnahmezustand und Parlamentarismus sind inkompatibel. Vom Kaiserreich geächtet können sich die Führer des Sozialismus nicht auf Verfassungsebene positionieren." Für die französischen Liberalen, die in dieser Hinsicht einem Teil der deutschen liberalen Linken sehr nahe standen, verhinderte die autoritäre Politik Bismarcks die Entwicklung Deutschlands zum Parlamentarismus sowie jeglichen Fortschritt hin zu einer freien und demokratischen politischen Kultur. Bismarcks Sozialpolitik der 1880er Jahre und insbesondere die Gesetze zur Versicherungspflicht der Arbeiter stießen bei den französischen und europäischen Kommentatoren ebenso wenig auf Zustimmung und wurden vielmehr als Ausdruck des Autoritarismus und des politischen "Rückstandes" Deutschlands wahrgenommen. "Le Temps" lieferte anlässlich der Eröffnung der Internationalen Arbeitsschutzkonferenz in Berlin 1890 folgende Interpretation, die mit jener britischer Beobachter übereinstimmte: "Der Staatssozialismus ist die jüngste Form des Feudalismus. Es handelt sich um den feudalen Schutz der Untertanen durch den Lehnsherren." Erst um die Jahrhundertwende waren in der sozialliberalen und sozialistischen Bewegung Stimmen zugunsten verpflichtender Sozialversicherungen nach "Bismarcks Modell" zu vernehmen.
Nationalgenie
Obwohl die französische Rezeption der Bismarckschen Politik von einem negativen Bismarck-Bild dominiert war, entwickelte sich in einzelnen Kreisen auch ein anderes. Bereits Anfang der 1870er Jahre gab es einige französische Intellektuelle, die die Niederlage mit gewissen französischen Schwächen erklärten und in Deutschland eine Inspirationsquelle sehen wollten. "Die Barbaren genannten Deutschen sind in der Tat viel gebildeter als wir", merkte etwa der protestantische Schriftsteller Agénor Etienne de Gasparin an. In bestimmten liberalen und sozialistischen Kreisen sah man in einzelnen politischen Maßnahmen Bismarcks wie der Schulpolitik und später der Sozialgesetzgebung durchaus ein Vorbild für die Regeneration Frankreichs. Diese positive Wahrnehmung verbreitete sich Ende der 1880er Jahre, als Stabilität und Macht des Bismarck-Reiches außer Frage standen. 1899 ging der Germanist Charles Andler sogar so weit zu behaupten, Bismarck habe für seine Politik und auch für die Sozialgesetzgebung seine Inspiration in Frankreich gefunden.
Verbreitet war der Konsens darüber, dass Bismarck als einziges großes Ziel die Einigung Deutschlands verfolgt und erreicht hatte. In diesem Zusammenhang wurde er überall in Europa, insbesondere aber in Italien, als großer Patriot anerkannt. Die Schriftstellerin Marie Dronsart räumte ein: "Es sind bei Bismarck gewisse Eigenschaften anzuerkennen, von denen man sich inspirieren lassen sollte: Disziplin, unbeugsamer Patriotismus (…)." Insbesondere Bismarcks Nationalismus wurde in den 1880er Jahren in ultranationalistischen Schriften gepriesen, einige französische Nationalisten empfahlen den Franzosen gar "Nationalismusunterricht" bei Bismarck. Um die Jahrhundertwende drückten manche nationalistische Intellektuelle und Politiker, die die Niederlage von 1870 nicht selbst erlebt hatten, sogar ihre Bewunderung für ihn aus, wie beispielsweise der Historiker und Politiker Charles Benoist: "Bismarck verkörpert 28 Jahre lang zum größten Ruhm Preußens in Deutschland den von Machiavelli beschriebenen Fürsten."
Manche französische Liberale zollten Bismarcks Realpolitik Anerkennung, seinem diplomatischen Genie und seiner politischen Kunstfertigkeit. "Nachdem er Preußen durch Eroberungen vergrößert und die deutsche Einheit begründet hatte, kümmerte sich Herr von Bismarck lediglich um die Erhaltung der durch sein Geschick und seine Kühnheit erworbenen ruhmreichen Vorteile für sein Land (…). Seine Vision entsprach völlig den Erwartungen der Nation, die, fest entschlossen, alles Erworbene zu behalten, ebenfalls zu keinen neuen Abenteuern bereit war und in Frieden ihren Ruhm und ihr Glück genießen wollte", lobte etwa Bismarcks vormaliger Verleumder Victor Cherbulliez, alias M.G. Valbert, Bismarcks gemäßigte Außenpolitik. So war der einstige Eroberer Frankreichs bis 1890 in den Augen mancher französischer Liberaler zum besten Garanten für den Frieden geworden. Als Bismarck von Wilhelm II. entlassen wurde, schrieb Cherbulliez: "Die persönliche Regierung eines Genies mit außergewöhnlicher Erfahrung wurde soeben ersetzt durch einen unternehmungslustigen und hektischen jungen König, der ungeduldig ist, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen und Sporen zu gewinnen."
So entstand allmählich das Bild des "guten Europäers" Bismarck. Tatsächlich hatte er es verstanden, die europäischen Rivalitäten auszunutzen. Wenn man jedoch seinen eigenen Aussagen glaubt, war Europa für ihn bereits seit den 1850er Jahren nie etwas anderes als eine geografische Tatsache gewesen. Er behauptete, die berühmte "europäische Solidarität" sei nur ein Spiel der Gleichgewichte zwischen den Mächten, das er zugunsten Preußens zum Funktionieren gebracht habe.
Europäer?
Dennoch schien sich ein Jahrhundert später die Europäisierung der Person Bismarcks durchgesetzt zu haben. 1990 eröffnete das Deutsche Historische Museum eine Ausstellung mit dem vielsagenden Titel "Bismarck: Preußen, Deutschland und Europa", die Bismarck nicht in erster Linie als "Schmied" der deutschen Einheit darstellte, sondern vielmehr als aufgeklärten Zeugen spezifischer Entwicklungen im Europa seiner Zeit, wie des Übergangs von einer ruralen, landwirtschaftlich geprägten zu einer urbanen, industriell geprägten Welt, der Entwicklung der sozialen Frage und der Einrichtung parlamentarischer Institutionen. Anlässlich der Feierlichkeiten zu seinem hundertjährigen Todestag 1998 betonten der Bundesinnenminister Manfred Kanther sowie der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger erneut die europäische Dimension des Werkes und der Person Bismarcks. Im selben Jahr veröffentlichte der französische Historiker Joseph Rovan ein Buch, in dem er Bismarck einen Anteil an der europäischen Einigung zuschrieb. Inwiefern ist es über diesen eindeutigen Versöhnungswillen hinaus möglich, in Bismarck eine Art "europäischen Erinnerungsort" als Identitätsbezug für Europäer zu sehen?
Bismarck ist in erster Linie ein deutscher Politiker und erscheint nicht in den "Ahnengalerien" anderer europäischer Nationen. Anders als der Italiener Giuseppe Garibaldi, der Ungar Lajos Kossuth oder später der Brite Winston Churchill, die alle als Freiheitskämpfer gelten, gehört Bismarck, dessen Name übrigens weder in Frankreich noch in anderen europäischen Ländern Straßen bezeichnet(e), nicht in ein republikanisches Pantheon. Dennoch nimmt Bismarck in der Geschichte großer europäischer Politiker in vielerlei Hinsicht einen wichtigen Platz ein.
Bismarcks Taten wurden schon zu seinen Lebzeiten von Politikern, Journalisten und Publizisten überall in Europa ausgiebig kommentiert. Interessanterweise war er auch Gegenstand sehr vieler Karikaturen – eine für die Herausbildung der öffentlichen Meinung im Europa des 19. Jahrhunderts charakteristische politische Ausdrucksform. Nun weisen die vielen karikierenden Darstellungen Bismarcks in europäischen Zeitungen wie beispielsweise im französischen "Charivari" oder im britischen "Punch" oder "Puck" darauf hin, dass es über die rein nationalen, mit dem jeweiligen spezifischen politischen Zusammenhang verbundenen Wahrnehmungen hinaus sehr wohl eine "europäische" Darstellung Bismarcks gab. Überall verkörperte er, oft mit Pickelhaube versehen, in erster Linie den Soldaten und Machtmenschen. Er wurde aber auch als gerissener Balancierkünstler dargestellt und nach seiner Entlassung schließlich als verlassener alter Mann und Universalfigur der Nichtigkeit der Dinge.
Das Bild von Bismarck als europäischem Staatsmann entstand vor allem postum. Nach seinem Tod wurde Bismarck in Deutschland regelrecht verehrt, was sich in der Errichtung unzähliger Denkmäler durch Bürgerinitiativen widerspiegelte. Obwohl das Bismarck-Denkmal seinerzeit zweifellos Ausdruck des deutschen Nationalismus war, reiht es sich in die europaweite Vervielfältigung öffentlicher Denkmäler seit den 1830er Jahren ein, durch die sich die Nationen eine Möglichkeit der Selbstverehrung schafften. Während es in Frankreich jedoch keinen der Monumentalisierung Bismarcks entsprechenden Trend gab oder gibt, ist beispielsweise der Kult um Garibaldi in Italien Ende des 19. Jahrhunderts durchaus vergleichbar.
Auch Bismarcks "Gedanken und Erinnerungen" sind Teil einer europäischen Kultur großer Staatsmänner. Die ersten zwei Bände erschienen 1898 und wurden in den Folgejahren ins Französische, Englische, Italienische und Spanische übersetzt. Diese Memoiren reihen sich ein in eine europäische Tradition der politischen Autobiografie von Julius Caesar bis Winston Churchill und Charles de Gaulle. Gewiss stellte sich Bismarck darin als der "Schmied" des deutschen Nationalstaates dar, der zugleich die europäischen Gleichgewichte wahrte, ebenso wie Churchill sich in seinen zwischen 1948 und 1954 erschienenen Memoiren "Der Zweite Weltkrieg" als Beschützer Europas gegen Adolf Hitler präsentierte. So folgte Bismarck der Tradition des großen Europäers, der über die Nation hinauswächst, die ihn emporgetragen hat, um eine Art europäische Universalität zu verkörpern.
Überdies eignet sich seine Person für widersprüchliche politische Interpretationen: So formulierte der einflussreiche katalanische Theoretiker und Politiker Enric Prat de la Riba Anfang des 20. Jahrhunderts für die Katalanen einen "preußischen Plan" und stellte Bismarck als denjenigen dar, der Deutschland erfolgreich um Preußen herum geeint hatte und somit einen Weg zur Einigung Spaniens um Katalonien wies. Zur Jahrtausendwende stand weniger die nationale Einheit als vielmehr ihre bundesstaatliche Form im Vordergrund: 1998 sahen mehrere diesbezüglich befragte europäische Journalisten in Bismarck den Meister des Föderalismus und damit ein mögliches Vorbild für die europäische Integration. In dieser Hinsicht ist es interessant zu beobachten, dass die vielfältigen Urteile über Bismarck eher einer politischen Logik folgen als einer rein nationalen. Die sozialistische oder liberale europäische Linke verbindet Bismarck seit jeher mit Autoritarismus, Populismus und politischer Brutalität. Zu seinem 150. Geburtstag 1965 erklärte Willy Brandt: "Bismarck gelang die Einigung nach außen; die Einigung nach innen gelang ihm nicht (…). Für die demokratische Entwicklung in Deutschland war Bismarck mit seinem Vorurteil von einem über den Bürger thronenden Staat leider ein Unglück" – eine von zahlreichen Sozialisten in Europa und auch 2011 von Arnaud Montebourg geteilte Beurteilung. Im Gegensatz dazu betrachteten die spanischen Historiker des Opus Dei der 1950er Jahre Calvo Serer oder Angel Lopez Amo Bismarck als Vorbild für eine elitäre und autoritäre Regierungsform des dritten Weges.
In einem 2002 in der französischen Tageszeitung "Le Monde" erschienenen Artikel hob der liberale Journalist Jean-Claude Casanova die Existenz eines Trios konservativer Realpolitiker bestehend aus Bismarck, Churchill und de Gaulle hervor, zu dem auch der italienische Staatsmann Camillo Benso Graf von Cavour gezählt werden könne. Nach dieser Auffassung verkörpert Bismarck eine Kultur von Realpolitik nach Machiavellis Vorbild in der aristokratischen Tradition des Ancien Régime. Abgesehen von ihrer Zugehörigkeit zur gleichen politischen Tradition vertreten diese Staatsmänner eine Art aristokratische europäische Kultur. In Sachen Aristokratie betrachtete Churchill Bismarck als ebenbürtig, während Letzterer oft behauptete, er wäre gern in den Kleidern eines englischen Adligen geboren. Diese Landadelidentität teilte er wiederum mit Cavour, wie er selbst begeisterter Agronom. Bismarck gehörte zu dieser aristokratischen europäischen Kultur, kannte ihre Sitten, sprach fließend Französisch, schmückte seine Reden im Parlament mit fremdsprachigen Ausdrücken und Bezügen zur politischen Lage Englands, Frankreichs und Russlands – alles Länder, die er aufgrund längerer Aufenthalte gut kannte. Obgleich Bismarck als Persönlichkeit des europäischen Konservatismus gilt, hat er seinen Namen doch auch mit einem Sozialversicherungsmodell verknüpft, das die europäischen Linken lange für sich in Anspruch nahmen.
Schluss
Bismarck, der erste deutsche Kanzler, ist in vielerlei Hinsicht eine interessante historische Persönlichkeit, mit einer multiplen und zersplitterten politischen Identität, die in der Kontinuität zum Ancien Régime steht und zugleich mit ihm bricht, die sich aus Krieg und nationalen Rivalitäten ergibt, aber auch aus der Bekräftigung von Geselligkeit und gemeinsamen politischen und kulturellen Werten. Eine Beschäftigung mit der Wahrnehmung Bismarcks in Europa regt dazu an, dem methodologischen Nationalismus zu misstrauen, der allzu oft eine sehr enge nationale Interpretation der Europa spaltenden Konflikte liefert. Die Rezeption Bismarcks stellt die Existenz sub- und supranationaler politischer Solidaritäten und Gegensätzlichkeiten heraus und hinterfragt die Entstehung eines gemeinsamen europäischen politischen (Gedenk-)Erbes, das sich nicht gegen oder oberhalb nationaler Gesellschaften, sondern nur mit ihnen und durch sie bilden kann.