Als Otto von Bismarck Anfang März 1871 von Versailles nach Deutschland zurückkehrte, befand er sich im Zenit seiner Popularität. In der Vergangenheit viel kritisiert, bisweilen verspottet und von nicht wenigen gehasst, wurde er nun – nach dem siegreichen Feldzug gegen Frankreich und der Proklamation des Deutschen Kaiserreiches – mit Ehrungen überhäuft. Bismarck galt als größter Staatsmann seiner Zeit, und es gab nur wenige, die fortfuhren, ihn öffentlich zu kritisieren.
Zu ihnen gehörte Georg Gottfried Gervinus, Veteran der Paulskirche, der das Scheitern von 1848 nie verwunden hatte und seine Hoffnungen auf eine demokratische Bewegung setzte. Während die meisten Liberalen jubelten, unterzog Gervinus die Ereignisse von 1866 bis 1871 schneidender Kritik. Bismarck verkörperte für ihn mehr denn je "Deutschlands bösen Genius", und von der sich abzeichnenden Reichsgründung erwartete er das Schlimmste: "Wir werden in Bahnen gerissen, die uns nicht, die der ganzen Zeit nicht anstehen. Was sollen wir in diesem Jahrhundert mit einer höchst überspannten Erneuerung der Militärstaaten des 17.–18. Jh.? Das war nicht die Mission dieses Jahrhunderts, u. am wenigsten dieses Deutschlands."
Gervinus’ Kritik am Reichsgründungsgeschehen verband sich also mit einem vernichtenden Urteil über die Person Bismarcks. Unabhängig davon, ob dies einem eher vordergründigen Gesinnungsidealismus entsprang oder ob er eine tatsächliche Abweichung der deutschen vom Hauptstrom der westeuropäischen Geschichte analytisch erfasste: Mit seiner Haltung wurde Gervinus zum ersten Vertreter der "Sonderwegsthese". Für die Mehrheit der deutschen Historiker stand hingegen die positive Wertung des Bismarck-Reiches außer Frage. Dessen historische Mission schien es zu sein, eine neue Synthese aus Kultur und Macht, aus Autorität und Freiheit, aus Tradition und Moderne zu schmieden, der die Zukunft gehören würde. Die ideologische Klammer dieser Synthese bildete die Nation: Ihre Einheit galt es in einem starken Staat zu sichern, um kommende Herausforderungen zu meistern und am Ende den Deutschen auch ihren wohlverdienten "Platz an der Sonne" zu sichern. Überdies hegten große Teile der deutschen Eliten ein tiefes Misstrauen gegen den Interessenpluralismus der modernen industriellen Massengesellschaft. Nur eine Minderheit hielt die Methoden der westlichen Demokratie für geeignet, um die Probleme der modernen Gesellschaft in Deutschland politisch zu steuern, sie sozial und kulturell zu bewältigen. Die Mehrheit hielt dagegen die westliche Zivilisation für dekadent, materialistisch und maßlos. Seine schärfste Zuspitzung erhielt dieses Denken in den "Ideen von 1914". Sie bildeten die affirmative Form einer Sonderwegsideologie, welche die deutsche Kultur und Machtentfaltung in einen dezidierten und positiv gewendeten Gegensatz zur "westlichen" Entwicklung seit der Französischen Revolution setzte.
Sonderweg zum Jahr 1933?
Auch nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg blieb die große Mehrheit der deutschen Historiker dem Ideal des Bismarck-Reiches verpflichtet und sah in ihm trotz Niederlage und Revolution den Höhepunkt der nationalen Geschichte und den Fixpunkt der politischen Identität der Deutschen. Für die Geschichtswissenschaft ergaben sich daraus als "nächstliegende und dringendste Tagesaufgaben" die "Kriegsschuld- und die Bismarckforschung."
Nur eine kleine Minderheit der deutschen Historiker blickte tiefer und legte strukturelle Widersprüche der Bismarckschen Schöpfung selbst offen. Insbesondere Arthur Rosenberg betrachtete es als "historischen Fehler von ungeheurem Ausmaß", dass Bismarck die Verfassung geradezu auf seine Person zugeschnitten hatte.
Was Rosenberg verfassungsgeschichtlich diagnostizierte, suchte Eckart Kehr strukturgeschichtlich zu erhärten. Die Flottenrüstung, die Außenpolitik und den wilhelminischen Imperialismus begriff er ebenso kritisch wie systematisch von ihren inneren sozialen, ökonomischen und kulturellen Voraussetzungen her.
Damit war die Frage nach einem deutschen "Sonderweg" in neuer Form auf die Tagesordnung gesetzt worden. Ihren eigentlichen Stachel erhielt sie durch den Blick auf die Jahre 1933 bis 1945. Bis in die 1960er Jahre hinein bestand ja durchaus die Versuchung, den Nationalsozialismus durch eine Überbetonung des "Dämonischen" bei Hitler, durch allgemeine europäische Kräfte der "Vermassung" und Säkularisierung oder auch durch die Vorstellung eines "Betriebsunfalls" der deutschen Geschichte zu erklären. Ergaben sich Hitler und der Nationalsozialismus indes aus der Entwicklungslogik des 1871 gegründeten preußisch-deutschen Nationalstaates, wie die Anhänger der Sonderwegsthese überwiegend argumentierten, dann wandelte sich das Bild fundamental.
Diese Diskussion beschäftigte die westdeutsche Geschichtswissenschaft während der späten 1970er und der 1980er Jahre intensiv. Argumente pro und contra hielten sich dabei in etwa die Waage: Vertreter der Sonderwegsthese beharrten darauf, dass die Geschichte des Bismarck-Reiches und der durch sie geformten "verspäteten Nation" (Helmuth Plessner) durch eine strukturelle Gleichzeitigkeit von industriewirtschaftlicher Moderne, sozialer Hierarchisierung und verfassungspolitischer Rückständigkeit gekennzeichnet war. Zusammen mit dem antiwestlichen Sonderbewusstsein der deutschen Eliten sei das damit gegebene Modernisierungsdefizit eine wichtige strukturelle Ursache für den Aufstieg des Nationalsozialismus gewesen.
Solche Gegensätze waren auch methodisch begründet. Dezidiert strukturgeschichtlich (und auch normativ) argumentierende Wissenschaftler wie Hans-Ulrich Wehler, Jürgen Kocka oder Hans-Jürgen Puhle
Von Bismarck selbst und seiner Persönlichkeit war im Kontext dieser eher generalisierend-interpretatorischen Debatten kaum mehr die Rede. Es blieb daher der großen, eigentlich ersten modernen Bismarck-Biografie von Lothar Gall vorbehalten, den preußischen Staatsmann wieder ins Rampenlicht zu rücken. Seine Biografie zeichnete sich durch ein souveränes, stets balanciertes Urteil aus. Gall verdeutlichte, wie stark Bismarck den tief in seiner Zeit wurzelnden geschichtlichen Widersprüchen verhaftet blieb, und wie es ihm immer schwerer fiel, sie in einer gestaltenden Politik aufzuheben. Am Ende erscheint Bismarck denn auch keineswegs mehr als der "große", vorausschauende Staatsmann, sondern schlicht als der "Zauberlehrling", dem die gewaltigen nationalstaatlichen Kräfte, die er gerufen hatte, über den Kopf wuchsen.
Mithin gelang Gall eine methodisch bedeutsame Synthese von biografisch-individualisierender und strukturgeschichtlich informierter Betrachtungsweise. Sie nahm im Grunde auch der Sonderwegsdiskussion viel von ihrer Schärfe. Und seit dem Ende der 1980er Jahre ist diese Diskussion verstummt. Seinen Grund hatte das zum einen in der seit 1989/90 historisch veränderten Situation der Deutschen. Leicht ließ sich nun davon ausgehen, die Deutschen hätten mit der Wiedervereinigung und der Restitution des deutschen Nationalstaates ihren "Sonderweg" beendet und seien nunmehr im "Westen" angekommen.
Macht vor Recht
Zwei Aspekte seien allerdings hervorgehoben, die nach wie vor aktuell und auch aus heutiger Sicht bedenkenswert sind, wenn man über die Person Bismarcks und mögliche deutsche Sonderentwicklungen bis 1914 und darüber hinaus diskutiert. So ist zum einen schon häufig beobachtet worden, dass Bismarcks Politik dazu tendierte, zumindest dann der Macht vor dem Recht den Vorzug zu geben, wenn sich damit der Nutzen Preußens, Deutschlands und nicht zuletzt des Hauses Hohenzollern steigern ließ.
Aber in Deutschland bekam die Parole "Macht vor Recht" doch eine grundsätzlichere, gleichsam systematische Schärfe. Sie hatte entscheidend damit zu tun, wie im Liberalismus das als traumatisch empfundene Scheitern der Revolution von 1848 gedeutet wurde. Vor diesem Hintergrund stellten August Ludwig von Rochaus "Grundsätze der Realpolitik" aus dem Jahre 1853 für viele nicht weniger als eine Offenbarung dar. In dem, was der Publizist Rochau als "das dynamische Grundgesetz des Staatswesens" bezeichnete, verhielt sich das Recht zur Macht wie die "Idee" zur "Tatsache". Anders gesagt: Rechtsbezogene "Idealpolitik" hatte im Zweifelsfall der machtbezogenen "Realpolitik" zu weichen. Es entbehrt nicht der Ironie, dass sich Rochau im Hinblick auf Bismarck fundamental irrte, wenn er 1862 über ihn urteilte, mit ihm sei der "schärfste und letzte Bolzen der Reaktion von Gottes Gnaden verschossen".
Nicht bestreitbar sind insbesondere die manipulativen Elemente, die Bismarck in seiner inneren Politik anwandte. Er zögerte nicht, mit der Macht der staatlichen Exekutive die liberalen Kräfte in Deutschland zuerst zu instrumentalisieren, um sich sodann, seit 1873, dezidiert gegen sie zu wenden. Ebenso wenig zögerte er, die Rechte oppositioneller Gruppen und Milieus zu beschneiden: zunächst der Katholiken, sodann der Sozialisten – stets mit der Begründung, sie seien "Reichsfeinde", die es aus der hegemonialen politischen Kultur des Kaiserreiches auszugrenzen gelte. In der Forschung sind diese manipulativen Formen, die Bismarck anwandte, um politische Mehrheiten zu gewinnen, als plebiszitär gestärkte, "bonapartistische" Herrschaftsweise bezeichnet worden.
Auch in der Außenpolitik verschmähte der Reichskanzler "realpolitische" Lösungen keineswegs. Schon während seiner Amtszeit als preußischer Ministerpräsident setzte sich Bismarck über Erwägungen der monarchischen Legitimität souverän hinweg, so insbesondere 1866/67 bei der preußischen Annexion des Königreiches Hannover und Schleswig-Holsteins. Zwar gilt Bismarcks Außenpolitik nach 1871 landläufig als auf den Erhalt des Friedens hin orientiert: So betrachtete er das Kaiserreich als "saturiert" und suchte dessen Position dadurch zu schützen, dass er die europäischen Interessen und Konflikte möglichst vom Zentrum an die Peripherie lenkte, das heißt auf den Balkan und in die Kolonien.
Bismarcks Außenpolitik der Mäßigung entsprang also in erster Linie politischen Opportunitätserwägungen. An den Wünschen großer Teile der deutschen Eliten und nicht zuletzt auch an der in der preußischen Militärelite stark verwurzelten friderizianischen Tradition des "Alles oder nichts" ging diese Mäßigung indes vorbei. Die Außenpolitik unter Wilhelm II. entwickelte sich denn auch sprunghaft, aggressiv und unverkennbar vom Wunsch nach imperialistischer Expansion geleitet. Das Kalkül der Mäßigung galt demgegenüber als nicht mehr zeitgemäß.
Dualismus zwischen Militär und Zivilgewalt
In dieser Situation offenbarte sich, dass Bismarcks Schöpfung von 1866/71 an einer folgenreichen Schwäche litt, nämlich an der unzureichenden Integration des Militärischen in das System ziviler Politik. Auch die Diskussion um einen deutschen "Sonderweg" kreiste lange Zeit um den Begriff des "Militarismus". Entsprechende Analysen und Kritik am Militarismus des Kaiserreiches setzten zwar bereits früh ein, blieben aber zunächst den Außenseitern der Geschichtswissenschaft vorbehalten. So lieferte Eckart Kehr in seinem berühmten Aufsatz von 1928 über die Genesis des "Königlich Preußischen Reserveoffiziers" eine gewissermaßen klassische Definition des Militarismus. Militarismus bestehe erstens dort, wo Offiziere sich nicht als Techniker und Funktionäre eines übergeordneten politischen Willens fühlen, das heißt, den Primat des Zivilen nicht anerkennen wollen, und zweitens dort, "wo diese Einschätzung des Militärs freiwillig von einem wesentlichen Teil des Bürgertums bejaht wird und eine Unterordnung unter diesen Militärstand willig vollzogen wird".
Es ist nicht bestreitbar, dass wesentliche Elemente einer solchen Definition in der politischen Kultur des Kaiserreiches anzutreffen waren. Sie sind von der kritischen Literatur zum Teil sehr eingehend herausgearbeitet worden. In der Stellung wie im Denken des preußischen Generalstabs sowie der anderen maßgeblichen Militärs in Preußen war ein solcher Primat des Militärischen langfristig anzutreffen. Die Logik und die militärischen Sachzwänge eines kommenden Krieges spielten in den engeren und engsten Führungszirkeln des Kaiserreiches stets eine besondere, zunehmend sogar herausragende Rolle. Politische Erwägungen, ziviles Denken, die Orientierung an Rechtsprinzipien und auch schlichte außenpolitische Rationalität mussten demgegenüber immer wieder zurücktreten.
In jüngerer Zeit ist diese These indes deutlich relativiert und im Kern zurückgewiesen worden. Vergleichende Studien etwa zu Frankreich und Großbritannien haben herausgearbeitet, wie stark das Militär auch in anderen Ländern im Zentrum der nationalen Identitätsbildung stand. Militärfeiern, "Folklore-" und Gesinnungsmilitarismus seien Bestandteile der politischen Kultur und der Gesellschaft der europäischen Staaten im Allgemeinen gewesen. Jedenfalls seien die Gemeinsamkeiten erkennbar stärker sichtbar als die deutschen Besonderheiten.
Damit ist die These vom deutschen "Sonderweg" auch in ihrer "Militarismus"-Komponente zurückgewiesen worden und spielt heute keine signifikante Rolle mehr. Allerdings sollte man darüber eine Grundproblematik der preußisch-deutschen Verfassungsgeschichte nicht außer Acht lassen, die zwar in der Forschung gut bekannt ist, in ihren Wirkungen aber heute unterschätzt wird, wenn es um die Interpretation der deutschen Geschichte seit dem späten 19. Jahrhundert geht. Es handelt sich um den nach 1871 niemals wirklich aufgehobenen Dualismus zwischen Militär- und Zivilgewalt, der dem deutschen Verfassungsleben eingeschrieben blieb. Preußen und seine Armee müssen geradezu als "der harte Kern im Verfassungswerk von 1867/71 angesehen werden".
Mithin waren militärische und Zivilgewalt in der Verfassung des Kaiserreiches zwei getrennte Säulen. Ihre Integration war letztlich nur durch den Kaiser zu leisten. In der Praxis verfügten die Spitzen beider Säulen, der Reichskanzler einerseits und der Chef des Preußischen Generalstabs andererseits, über eine Immediatstellung: Beide besaßen das Recht, dem Kaiser unmittelbar vorzutragen. Bismarck gelang es aufgrund seiner überragenden Stellung 1870/71 gegenüber Generalstabschef Helmuth von Moltke – der bekanntlich einen "Exterminationsfrieden" gegenüber Frankreich forderte – und 1887/88 noch einmal gegenüber dessen Nachfolger Alfred von Waldersee in der Präventivkriegsfrage, die Militärgewalt in Schach zu halten.
Mit dem Abgang Bismarcks 1890 wurde jedoch der eingebaute Dualismus zwischen Militär- und Zivilgewalt immer deutlicher erkennbar. Ohne einen Kanzler von der Statur Bismarcks war Wilhelm II. überfordert, die Vermittlung zwischen beiden Säulen zu vollziehen. Mehr und mehr setzte sich die militärische Eigenlogik durch, in das Kalkül der Politik drangen die vorgeblichen militärischen Sachzwänge eines künftigen Krieges immer nachdrücklicher ein. In der Julikrise 1914 schließlich erhielt die militärische endgültig die Oberhand über die politische Führung. Der wichtigste Sachzwang nämlich, den die Militärführung ins Feld führte, war die sichere Annahme, Deutschland werde einen nächsten großen Krieg als Zweifrontenkrieg führen müssen. Das Ergebnis war der Schlieffenplan, dem 1914 die Politik der Reichsleitung unter Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg alternativlos folgte. Politisch-diplomatische Lösungsmöglichkeiten blieben demgegenüber außer Acht. Somit mutierte die militärstrategische Fixierung auf die sicher erwartete Zweifrontenauseinandersetzung zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Es bleibt daher eine Tatsache: Das deutsche Heer war im Kaiserreich weitaus mehr ein "Königsheer" als ein "parlamentarisches Heer" und beruhte auf absolutistischen Restbeständen im Verfassungsgefüge des Kaiserreiches.
Fazit
Mithin bleibt es bis heute eine wichtige Frage, inwieweit Bismarck die problematische Tendenz in der deutschen Geschichte verstärkte, die Macht über das Recht, das Militärische über das Zivile und die staatliche Exekutive über die parlamentarisch-demokratische Willensbildung des Volkes zu stellen. Zwar wäre es nach fast fünf Jahrzehnten intensiver Forschung inadäquat, aus dieser Tendenz einen einlinigen deutschen "Sonderweg" zu konstruieren oder aus ihr gar eindimensional das Jahr 1933 zu deduzieren. Insofern gibt es keinen direkten Weg von Bismarck zu Hitler. Aber der Stachel, den Nationalsozialismus tatsächlich zu erklären und seine tiefer in der deutschen Geschichte liegenden Ursachen zu erkunden, bleibt für die Geschichtswissenschaft eine unabweisbare Herausforderung.