Von dem US-amerikanischen Soziologen George Herbert Mead stammt die Aussage, dass "jede Generation ihre Geschichte neu" schreibt. Hinzuzufügen wäre, dass dies vor dem Hintergrund jeweils unterschiedlicher "Erfahrungsräume" und "Erwartungshorizonte" geschieht.
Jahrestage allein sind also noch kein zwingender Grund für die Beschäftigung mit einer historischen Person. Die Aktivitäten rund um Bismarcks zweihundertsten Geburtstag am 1. April 2015 zeigen jedoch einmal mehr das fortbestehende Interesse an ihm. Sie reichen von wissenschaftlichen Konferenzen und Publikationen über wissenschaftlich begleitete Ausstellungen bis hin zur Sonderbriefmarke und zum Tourismusangebot. In der Presse war zum Jahreswechsel 2014/15 mit Blick auf Ersteres süffisant von "Historiker-Festspielen" die Rede, fand sich die Überschrift "Ein Mann des Jahres?" oder wurde gar lakonisch konstatiert: "Worauf auch immer wir in der deutschen Geschichte stolz sein können, er war dagegen."
Schlüsselfigur des 19. Jahrhunderts
Betrachtet man Bismarcks biografisches Grundgerüst, so liegt die Aufmerksamkeit, die er gegenwärtig genießt, nicht unbedingt auf der Hand. Er war ein preußischer Adliger, dessen aus der Stadt Stendal stammende Vorfahren seit 1562 als Gutsherren im altmärkischen Schönhausen lebten. 1846 übernahm er dort als Deichhauptmann ein für den Landadel gängiges erstes öffentliches Amt und trat 1847 im preußischen Vereinigten Landtag als hochkonservativer Nachwuchspolitiker in Erscheinung, ehe er vier Jahre später preußischer Diplomat wurde und 1862 Ministerpräsident von Preußen. Seit 1847 war er verheiratet mit Johanna von Puttkamer, wurde Vater dreier Kinder und schließlich Besitzer dreier Landgüter. Auf einem davon, Friedrichsruh, starb er am 30. Juli 1898 und wurde dort auch beigesetzt.
Dass Bismarcks Leben und Werk auch im 21. Jahrhundert noch als bedeutsam und daher erinnerungsrelevant eingestuft werden, resultiert aus seinem letzten Karriereschritt vom preußischen Ministerpräsidenten zum deutschen Reichskanzler. Eng verbunden mit dieser Phase seines Wirkens ist die Gründung des Kaiserreiches von 1871, die nach wie vor als ein klassischer Markstein der deutschen Geschichte und Geschichtsschreibung gilt. Denn mit ihr waren fraglos grundlegende Weichenstellungen verbunden, leitete die Reichsgründung doch zugleich einen langfristigeren Transformationsprozess ein. Eine politische Schlüsselfigur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Bismarck darum gewiss, nicht nur für Deutschland, sondern auch für Europa. Außenpolitisch bezieht sich dies auf die Neuordnung der europäischen Kräfteverhältnisse. Innenpolitisch trieb er den Auf- und Ausbau des neugegründeten Staates voran und stellte mit Justiz- und Wirtschaftsreformen sowie in Verwaltungsstruktur und Sozialverfassung die Weichen für den Durchbruch der Moderne. Diese Schlüsselrolle in der deutschen wie in der europäischen Politik ist ohne Zweifel ein Grund, sich anlässlich seines zweihundertsten Geburtstages mit dem Wirken des Staatsmannes Otto von Bismarck auseinanderzusetzen.
Neue Perspektiven
Dabei gilt die Aufmerksamkeit zugleich dem 19. Jahrhundert und damit einer Zeit, die in praktisch allen Lebensbereichen eine des Umbruchs und des Übergangs war. Diese kombinierte Betrachtung von Person und Zeit hat sich unterdessen in der geschichtswissenschaftlichen Forschung durchgesetzt. Bismarck und sein politisches Werk werden in ihren historischen Zusammenhängen verortet, wodurch er – jenseits kultischer Erhöhung – "eine normalmenschliche Dimension" annimmt.
Eine Historisierung von Person und Werk wird nicht nur durch die seit Bismarcks Leben verflossene Zeitspanne begünstigt, sondern auch durch den zu Beginn des 21. Jahrhunderts gewandelten Blick auf Deutschland, Europa und die Welt. Während im 19. Jahrhundert noch Nationalstaaten die größten vorstellbaren "politischen Ordnungseinheiten menschlichen Zusammenlebens" waren und abgesehen davon um 1900 auch die einzigen, "die weltweit ins Gewicht fielen",
Überdies haben sich sowohl die Fragestellungen als auch die methodischen Herangehensweisen der Geschichtsschreibung enorm verändert und aufgefächert. Verbunden mit der transnationalen beziehungsweise vergleichenden Perspektive – die auch die Zusammenarbeit von Historikerinnen und Historikern aus verschiedenen Ländern einschließt – leistet dies einen weiteren Beitrag zu einer nüchterneren Betrachtung Bismarcks.
Aus dem beschriebenen Perspektivwandel und den damit zusammenhängenden neuen Interessengebieten und Fragestellungen resultiert auch eine neu ausgerichtete, intensivierte Grundlagenforschung.
Unfreiwillig fortschrittlich
Gleichwohl besteht kein Zweifel daran, dass Probleme wie Lösungen in Deutschland und Europa in diesem Zeitalter des Übergangs mit der Person Bismarcks aufs Engste verknüpft waren. Als historische Leistung bleibt festzuhalten, dass Bismarck in dieser Umbruchphase die Umsicht besaß, auf Kernprobleme mit Initiativen zu reagieren, die weit über seine Zeit hinaus für Politik und Gesellschaft nicht an Bedeutung verloren. Eine "List der Geschichte" ist es indessen, dass er mit eben diesen Maßnahmen konsequent das Ziel verfolgte, das hergebrachte Gesellschaftsideal einer vergangenen Epoche zu bewahren, stattdessen aber – einem "Zauberlehrling" gleich – unbeabsichtigt in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft der Moderne zum Durchbruch verhalf.
Dieses Paradox gilt vor allem für zwei der wichtigsten zukunftsweisenden innenpolitischen Errungenschaften. Zum einen war etwa die Verfassung von 1867/71 sein Werk und sah ein Parlament vor, das auf einem allgemeinen und gleichen (Männer-)Wahlrecht basierte. Vergeblich versprach sich Bismarck davon jedoch nicht zuletzt die Mobilisierung der konservativen, königstreuen Wählerschichten gegen das liberale Bürgertum. Zum anderen sollte die Sozialgesetzgebung mit ihren Facetten einer Kranken-, Unfall-, Invaliditäts- und Altersversicherung freilich der "Daseinsvorsorge" dienen – und zwar, was neu war, als Aufgabe des gerade erst geschaffenen bürokratischen Interventionsstaates. Seine Bemühungen, den offensichtlichen Herausforderungen des Zeitalters der Industrialisierung und der Urbanisierung zu begegnen, verband Bismarck jedoch mit dem Ziel, der Sozialdemokratie durch Staatsbindung das Wasser abzugraben. Die dahintersteckenden Polarisierungsabsichten sowie jene, die auch den Kulturkampf gegen den politischen Katholizismus oder das "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" begleiteten, blieben nicht ohne langfristige Nachwirkungen. Noch 1988 betonte der Historiker Lothar Gall, dass all jene, "auf denen der politische Grundkonsens der Bundesrepublik" beruhe – er meinte damals Christdemokraten, Liberale und Sozialdemokraten –, "bei aller gelassenen Distanz nicht vergessen, dass ihre politischen Vorväter Bismarcks ‚Reichsfeinde‘ waren".
Die außenpolitische Bilanz fällt aus heutiger Sicht besser aus, wenn auch nicht in Bezug auf die Reichsgründung "durch Eisen und Blut" infolge dreier Kriege (gegen Dänemark 1864, Österreich 1866 und Frankreich 1870/71), sondern auf die nachfolgende Politik des Maßhaltens und den damit verbundenen Appell an die Solidarität der Mächte für Frieden und Sicherheit in Europa. Dem Historiker Jürgen Osterhammel zufolge sind in allen Zivilisationen die "Stifter und Bewahrer des Friedens" im Urteil der Nachwelt stets Eroberern vorgezogen worden. Doch "wem beides gelang, dem war das höchste Ansehen gewiss: ein Reich erobert und ihm dann Frieden gebracht zu haben."
Die "nationalstaatliche Einheit" erreichte er in "einem begrenzten Rahmen", der "für das europäische Umfeld gerade noch verträglich war".
Mythos und Dämon
Was bei seiner Entlassung niemand vermutet hätte: Länger noch als Bismarcks Amtszeit dauerte sein Nachleben als Mythos.
Friedrichsruh war schon zu Bismarcks Lebzeiten Schauplatz des Kultes um seine Person gewesen und nach dem Untergang der Monarchie vermehrt ein Ort antirepublikanischer Bekenntnisse.
Mittlerweile sind Friedrichsruh (seit 1997) und Schönhausen (seit 2007) Standorte der Otto-von-Bismarck-Stiftung, eine der fünf Politikergedenkstiftungen des Bundes, die am historischen Ort unter dem Motto "Biografien erzählen – Geschichte entdecken" einen Bildungsauftrag erfüllen und sich gleichzeitig der wissenschaftlichen Forschung widmen. Allesamt informieren sie vor dem historischen Hintergrund der jeweiligen geschichtlichen Epoche über Lebenswege, politisches Denken und Wirken sowie das jeweilige "historische Erbe" der einzelnen Staatsmänner.
Bismarck in der historisch-politischen Bildung
Was als Wissenschaftsstandard oben beschrieben wurde, wird als Kompetenzorientierung zum "Paradigma des 21. Jahrhunderts" im Schulunterricht. Dort wie in der historisch-politischen Bildung insgesamt hat sich mittlerweile der nüchterne historisierte Blick auf Bismarck durchgesetzt.
Ein Beispiel für eine im Schulunterricht realisierte transnationale Perspektiverweiterung bietet das in Deutschland und Frankreich parallel erscheinende deutsch-französische Geschichtsbuch. Der zweite Band vergleicht die politische Entwicklung Frankreichs und Deutschlands zwischen 1870 und 1914 und integriert darin die Betrachtung Bismarcks. Gefragt wird beispielsweise einerseits, wie sich die republikanische Ordnung in Frankreich in der Praxis bewährte, sowie andererseits, welche Grenzen der politischen Partizipation im Kaiserreich gesetzt waren. Dossiers setzen sich mit den Herausforderungen des 19. Jahrhunderts auseinander, wie etwa die Einführung einer Verfassung, die soziale Frage, das Verhältnis von Staat und Religion oder Nation und Nationalismus.
Nichtsdestotrotz bleibt zu konstatieren, dass Bismarcks innen- wie außenpolitisches Agieren als Repräsentant des deutschen "Machtstaats vor der Demokratie"
Bedarf an einer Entmystifizierung Bismarcks besteht also nach wie vor. Ein prüfendes Erinnern an Werk und Person an ihrem runden Jahrestag kann dabei hilfreich sein. Im Sinne des eingangs zitierten George Herbert Mead wird Bismarcks Geschichte 2015 "neu geschrieben", wenn der Blick in die Vergangenheit in Form einer differenzierten Auseinandersetzung mit Leistungen und Defiziten erfolgt und Zwänge ebenso wie Handlungsspielräume einer Einzelperson in ihrer Zeit zur Kenntnis genommen werden. So gewendet vermag das Wissen um die Geschichte dazu beizutragen, künftig an gefährlichen Irrwegen wie etwa dem Aufbau von Feindbildern im Innern vorbeizusteuern und außenpolitisch die Verbindung von Augenhöhe und Augenmaß beizubehalten – nicht zuletzt angesichts der Umbrüche und Krisen, mit denen Deutschland, Europa und die Welt derzeit konfrontiert sind. Warum also Bismarck? Weil insofern die "Akte Bismarck" noch lange nicht "geschlossen" werden kann.