Soziale Debatten, die in den vergangenen Jahren in Deutschland über Menschen am unteren gesellschaftlichen Rand geführt worden sind, brachten Umschreibungsformeln wie die "Neue Unterschicht" oder das "abgehängte Prekariat" hervor. In diesem Zusammenhang war unter anderem auch die Rede vom "Sozialhilfeadel", dessen "Selbstbedienungsmentalität" und "anstrengungslosem Wohlstand", oder es wurden, in auffallender begrifflicher Unbekümmertheit, gar "asoziale" Verhaltensweisen dieser Personengruppe diagnostiziert. Die häufig generalisierende und stereotype Darstellung komplexer Lebensverhältnisse beförderte die Entstehung eines monolithischen Bildes von als "arm" definierten beziehungsweise gesellschaftlich "unten" verorteten Menschen. Sie wurden als faule und dreckige, passiv-lethargische und von affektiven Trieben gesteuerte, häufig kinderreiche und oftmals kriminelle Sozialcharaktere gezeichnet und wiesen als soziokulturelle Schnittmenge ein vermeintlich identisches Moral- und Wertesystem auf. Derartige Versuche, das Phänomen "Armut" in einer der weltweit wohlhabendsten, zumal wohlfahrtsstaatlich verfassten Industriegesellschaften plastisch greifbar zu machen, sind heute in verlässlicher, ja konjunktureller Regelmäßigkeit zu beobachten.
Wenig berücksichtigt bei diesen aktuellen Aushandlungen sind die (zeit)historischen Dimensionen solcher Zuschreibungsmuster, nach deren Relevanz für das geteilte Deutschland im Folgenden gefragt wird. Für die westdeutsche Seite kann dazu auf mehrere sozialwissenschaftliche Arbeiten zurückgegriffen werden, in denen die bundesrepublikanische Armutsthematisierung rekonstruiert wurde; spärlicher gestaltet sich der Forschungsstand zu Armut im sozialistischen Deutschland. Sparte man jedoch die DDR aus solchen Überlegungen aus, resultierte daraus nicht nur eine unvollständige deutsche Zeitgeschichte, sondern würden auch die zeitgenössischen Lesarten wie die einer erfolgreichen "Überwindung von Klassenunterschieden" im Sozialismus unhinterfragt bleiben. Um einerseits dieses Postulat sozialer Gleichheit zu entmythologisieren, andererseits aber auch, um Einsichten in den Umgang mit sozialer Unterprivilegierung in Ost und West zu erhalten, ist es geboten, auf beide deutsche Staaten gleichermaßen zu blicken.
Die bisherigen konzeptionellen Überlegungen zu einer integrativen deutschen Zeitgeschichte aufgreifend, wird ein innerdeutscher Vergleich hinsichtlich der sozialstaatlichen Ausformung und der Logiken sozialer Selbstbeschreibungsformen als lohnenswertes Untersuchungsfeld angenommen: Ausgehend von gemeinsamen sozialstaatlichen Traditionen taugen insbesondere Fragen der Sozialpolitik für einen Vergleich, hatte man doch hier wie dort auf ähnliche Herausforderungen zu reagieren. Das Ergebnis waren zwar systembedingt voneinander abweichende, grundsätzlich und "faktisch aber parallele Politiken und Legitimationsmuster". Gewiss hat es einiges für sich, die "doppelte Nachkriegsgeschichte anhand ausgewählter thematischer Ausschnitte als vergleichende Problemgeschichte" zu konzipieren. Die hierfür von Christoph Kleßmann vorgeschlagene und zwischenzeitlich produktiv ergänzte komparatistische und asymmetrisch aufeinander bezogene Parallelgeschichte wird dabei jedoch an einer entscheidenden Stelle erweitert.
Bezogen auf das Thema "Armut" ist es wenig zielführend, scheinbar "harte" Daten wie Warenpreise oder die Höhe von Existenzminima und Einkommen schlicht nebeneinanderzustellen. Eine Konzentration auf diese Kennzahlen würde auf die DDR bezogen allzu schnell zu einem Urteil einer "nach unten nivellierten Gesellschaft" führen. Unberücksichtigt bliebe dabei unter anderem die Tatsache, dass diese Faktoren aufgrund der Verstaatlichung des Produktionssystems keine auch nur annähernd so starke Rolle wie in westlichen Marktgesellschaften spielten. Um sich dem deutsch-deutschen "Unten" zu nähern, erscheint es gewinnbringender, die Etablierung und Vermittlung von Sinndeutungen in den Blick zu nehmen. Ausgehend von einem sozialkonstruktivistischen Verständnis von "Armut" als Kategorie, die als Ergebnis öffentlicher Wahrnehmung, gesellschaftlicher Reaktionen und Definitionen zu verstehen ist, lassen sich dominante Sprach- und Visualisierungsformen sowie hegemoniale Kategoriensysteme, Zuschreibungsformen, Deutungsweisen, Wertungen und damit Charakterisierungen des/der "Armen" in deutsch-deutscher Perspektive herausarbeiten. Die nachstehende, schlaglichtartig verdichtete historische Analyse von Deutungsformen zeigt auf, welche Erwartungen und Ängste im geteilten Deutschland mit nach unten abweichenden sozialen Lebensformen verbunden waren.Auf diese Weise können die Leitlinien zeitgenössischer Sozialvorstellungen und Deutungssujets erfasst und davon ausgehend die sozialsymbolische Ordnung beider deutschen Gesellschaften dekonstruiert werden. Letztlich wird so ein deutsch-deutscher Erfahrungs- und Kommunikationsraum des Sozialen fassbar.
Nachkriegsordnung(en): Neubeginn und Tradition
Die unmittelbaren Folgen des Zweiten Weltkrieges wie Hunger, Not, Arbeits- und Wohnungslosigkeit, die Ströme von Flüchtlingen und Vertriebenen und weitere Problemlagen führten in der Besatzungszeit sowie in den ersten Jahren nach den beiden deutschen Staatsgründungen auf sozialpolitischem Terrain zu "beträchtliche(n) Übereinstimmungen im Handlungsbedarf". Im Westen Deutschlands war diese Situation sozialer Not Ausgangspunkt und wesentlicher "Kern des nach 1945 in vielen europäischen Staaten kraftvoll umgesetzten Sicherungsversprechens". Der wohlfahrtsstaatliche Anspruch wurde von einem ganzen Maßnahmenbündel pragmatischer Sozialpolitik (Soforthilfegesetz, Lastenausgleich, sozialer Wohnungsbau, Institutionalisierung des "Warenkorbes", Rentenreform) flankiert und ebnete so die rasche Transformation der "Zusammenbruchsgesellschaft" (Christoph Kleßmann) hin zu wachsendem gesellschaftlichen Wohlstand. Eingängige Egalitäts- und Selbstbeschreibungspostulate wie das der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" (Helmut Schelsky) und die Verabschiedung des Bundessozialhilfegesetzes von 1961/62 sorgten dafür, Armut im öffentlichen Raum als etwas Überwundenes (oder prinzipiell Überwindbares) anzusehen.
Mit dem "Aufbau des Sozialismus" und dem damit verbundenen Ende des kapitalistischen Systems der Ausbeutung und Unterdrückung, so lautete die ideologische Prämisse in SBZ und DDR, werde das gesellschaftlich bedingte Phänomen Armut bezwingbar. Die getroffenen soziopolitischen Maßnahmen dienten der Vorbereitung auf die "klassenlose Gesellschaft" – ein Anspruch, der für das gesamte Bestehen der DDR durch unermüdliche Inszenierungen des (gewünschten) Egalitarismus im politisch-öffentlichen Diskurs symbolisiert werden sollte. In der konkreten Umsetzung griff die Parteiführung auf Vorbilder aus der Arbeiterbewegung zurück, indem sie umfangreiche sozialpolitische Maßnahmen mit autoritären Traditionen staatlicher Reglementierung zu kombinieren suchte – ablesbar etwa an der grundlegenden Skepsis gegenüber potenziellen Empfängern staatlicher Gratifikationen. Dieses Herangehen, das die schrittweise Abnahme der Zahl von Fürsorgeempfängern zur Folge hatte, keinesfalls aber soziale Ungleichheit beseitigen konnte, ist einzubetten in den Kontext der Systemkonkurrenz beider deutschen Staaten. Im Rahmen eines Egalitätswettbewerbes waren solche Entwicklungen ebenso wichtige Elemente für die Legitimierung west- wie ostdeutscher Sozialstaatlichkeit, wie auch Erhöhungen von Löhnen und Gehältern, Renten und Fürsorgesätzen auf beiden Seiten der Mauer. Waren Themen wie soziale Ausgrenzung und Elend in den ersten zwei Nachkriegsjahrzehnten ohnehin schlechterdings inkompatibel mit den wohlfahrtsstaatlichen beziehungsweise staatssozialistischen Selbstentwürfen, so trug die beiderseitige Befürchtung, die sozialen Sicherungsversprechen des eigenen Gesellschaftsmodells könnten an Glaubwürdigkeit verlieren, vermutlich nicht unwesentlich zu einer fortschreitenden Vermeidung der Kategorie "Armut" bei. Diese auffällige Strategie des Exterritorialisierens sozialer Problemlagen war im Übrigen nicht nur Resultat des Systemwettkampfs. Als eine Art "Stellvertreterfunktion" war dieses Vorgehen auch in den Folgejahren auf beiden Seiten ein beliebtes Muster, um sich mit Verweisen auf eine "schlimmere Armut" jenseits der eigenen Grenzen über den eigenen Wohlstand beziehungsweise die Ausformung sozialer Not zu vergewissern.
Ungeachtet dieser zeit- und systemimmanenten Besonderheiten fokussierten west- und ostdeutsche Sozialkommentator(inn)en durchaus Formen individueller Vergesellschaftungsdefizite – wenngleich weniger innerhalb einer breiten Öffentlichkeit, sondern eher in Verbindung mit sozial- und fürsorgepolitischen Maßnahmen. Zusammen mit den noch spärlichen medialen Aneignungen zum sozialen "Unten" ist in beiden Nachkriegsgesellschaften frühzeitig eine Reetablierung überkommener sozialer Vorstellungswelten erkennbar. Diese sind allen voran auf personelle beziehungsweise mentale Kontinuitäten aufseiten wichtiger Entscheidungsträger zurückzuführen. Die Nutzung altbewährter Beschreibungsformeln und herabsetzender Sozialklischees beförderte folglich eine Individualisierung sozialer Randständigkeit, sowohl im Zuge des "Aufbaus des Sozialismus" als auch in der westdeutschen Wiederaufbaugesellschaft. Die Orientierung an überkommenen bürgerlichen Werten, um das Soziale zu kategorisieren, zeigte sich in wirkmächtigen Leitnarrativen mit markanten Beschreibungskonstanten, etwa zum "gestörten" Verhältnis zur Arbeit, psychischer Labilität, Bildungs-, Kultur- und Morallosigkeit, normativen Festlegungen zu positiv konnotierten Leitbegriffen, wie "gute", da geregelte Arbeit, stabile Familienverhältnisse, Ordnung, Leistung sowie bezüglich "guter", "verschämter" Armer wie Altersrentner(inne)n oder Kindern.
Darüber hinaus zementierte die zeitweilige (Bundesrepublik) beziehungsweise letztlich dauerhafte (DDR) Renaissance eugenischer und sozialhygienischer Deutungsformen im Rahmen eines tradierten "Asozialen"-Diskurses das Wiederaufleben der Zweiteilung in "würdige" und "unwürdige" Bedürftige. Diese Art der Sozialhierarchisierung in den beiden Nachkriegsgesellschaften konnte wohl vor allem deswegen reüssieren, weil hier wie dort ein "fundamentales Bedürfnis nach Sicherheit und Normalität", nach einer Stabilisierung wie Balancierung sozialer Ordnung herrschte.
Scharnierzeiten: Erkundungen und Widersprüche
Steigende Löhne, das anhaltende Wirtschaftswachstum und "Vollbeschäftigung" – einerseits bestätigten die ökonomischen Rahmenbedingungen die sozialeuphorischen Selbstvergewisserungsmodi der Bundesrepublik in den 1960er Jahren. Andererseits ist während dieser sozialstaatlichen Expansionsphase aber auch festzustellen, inwiefern sich im Zuge eines soziokulturellen Wandlungsprozesses die Logiken sozialer Diagnosen veränderten. Hatten sozial Unterprivilegierte, allen voran Wohnungslose, nach verbreiteter Auffassung ihr Schicksal individuellen Verfehlungen zuzuschreiben, so stellten sich seit den frühen 1960er Jahren markante Verschiebungen gerade bezüglich der massenmedialen Kommentierung des Sozialen ein. Eine verstärkte Konzentration auf sozial- und regierungskritische Themen zog eine tendenzielle Perspektivänderung nach sich. Der Blick vieler Medien ging weg von Faktoren mutmaßlichen persönlichen Versagens und betonte deutlich strukturelle Mängel oder politische Versäumnisse. Zudem gerieten mit den gesellschaftlichen Umbrüchen Leitbegriffe wie "Teilhabe" und "Chancengleichheit" auf die soziopolitische Agenda. Damit verband sich die auf Zukunftsoptimismus und Machbarkeitsglaube gründende Vorstellung der westdeutschen Gesellschaft, sozial prekäre Vergesellschaftungsformen steuern und positiv beeinflussen zu können. Im Ergebnis beförderten die nun verstärkt nachzuweisenden differenzierten Deutungsformen und die insgesamt nachlassende Prägekraft des bürgerlichen Leitbildes als Bewertungsschablone eine spürbare öffentliche Solidarisierung mit Angehörigen des sozialen "Unten". Doch nicht nur die Sagbarkeitsregeln wurden in diesem Zusammenhang signifikant erweitert; die um sich greifende Medialisierung ließ soziale Randlagen auch sichtbar werden.
Trotz jener Verständnis und Toleranz bemühenden Lesarten war eine Hierarchisierung nach (imaginierter) gesellschaftlicher Respektabilität weiterhin ausschlaggebend für den kommunikativen Umgang mit sozialer Unterprivilegierung. Augenfällig wird dieser Widerspruch bei dem Blick auf die unterschiedlichen symbolischen Konstruktionen von Altersrentner(inne)n und den an der urbanen Peripherie neu "entdeckten" "Randgruppen". Erfuhren Erstere unumstrittene, häufig mitleidige Anerkennung ihrer sozialen Lage und wurde ihre (in der Regel als unverschuldet gedeutete) soziale Not allen voran mit entmaterialisierten Nöten wie Einsamkeit und Tristesse im Alter verknüpft, so waren nicht wenige mediale Sozialerzählungen über Menschen im Stadtrandgebiet von voyeuristischen und dadurch erniedrigenden Inszenierungsformen geprägt. Obwohl eine grundsätzliche Tendenz zur Entdiskriminierung zu erkennen ist, lassen die immer wieder zu konstatierenden herablassenden Argumentations- und Visualisierungsmodi über die Lebensweise und den (vermeintlichen) Wertehaushalt von Obdachlosen und "Nichtseßhaften" recht deutlich auf die "Überhänge autoritärer und illiberaler Orientierung" schließen. Letztlich ergeben diese Deutungsformen aufgrund der pluralistischen bundesdeutschen (Medien-)Öffentlichkeit ein komplexes Geflecht sozialer Kommentierung, das geprägt sein konnte vom Willen zur Verbesserung sozialer Missstände, der Sorge vor einer intergenerationellen Weitergabe "schädlicher" Verhaltensweisen ("Kultur der Armut"), aber auch dem Wunsch nach intensivierter sozialer, bisweilen strafrechtlicher Disziplinierung. Der zentrale Befund – die Existenz eines soziokulturellen Spannungsverhältnisses zwischen den so imaginierten "unteren" Bevölkerungsteilen und der "Normalgesellschaft" – wurde dadurch, bewusst oder unbewusst, zwangsläufig stetig reproduziert.
Die in Westdeutschland verbreitete Überzeugung, soziale Probleme könnten kontrolliert werden, korrespondierte zumindest auf planungstechnischer Ebene mit den zeitgleich ablaufenden Entwicklungen im Staatssozialismus. Wirtschaftliche Konsolidierung und außenpolitische Erfolge ließen das Selbstbewusstsein der Staats- und Parteiführung steigen, die in puncto sozialtechnologischer Einflussnahme kaum Grenzen zu kennen schien. Die Dominanz propagandistischer Schlagworte wie "soziale Geborgenheit" und "Sicherheit" als "Wesensmerkmal" sozialistischer Gesellschaftsordnung ist jedoch mit den zeitgenössischen verwissenschaftlichten Diagnosen des Sozialen zu kontrastieren. Mit der verstärkten Hinwendung nach innen insbesondere nach dem Mauerbau brachten zahlreiche empirische Studien mannigfache Formen sozialer Randständigkeit zur Sprache. Gerade für Altersrentner(innen), kinderreiche Familien oder Alleinerziehende stellten die in der Regel unter Verschluss gehaltenen Studien gewichtige Abstände zur Durchschnittsbevölkerung sowie materielle Schwierigkeiten fest. Alarmiert waren deren Verfasser(innen) nicht zuletzt von mutmaßlichen kulturell-sozialen Defiziten, wie Bildungs- und Kulturmangel, "falsches" Wirtschaften, "leerer" Konsum und gesellschaftspolitische Indifferenz, gerade bei un- und angelernten Arbeiterfamilien und/oder Vielkinderfamilien. Die auch von der Staatsführung geteilte Befürchtung, diese Rückstände könnten den Weg zur "entwickelten sozialistischen Persönlichkeit" hemmen, führte im Rahmen einer verstärkten Politisierung des Sozialen letztlich dazu, dass bei Beurteilungsformen "abgehängter" Bevölkerungsschichten – besonders bei den Etikettierungen "Dissozialität" und, seit 1968 auch strafrechtlich verankert, "Asozialität" – konservative Ordnungs- und Orientierungsmuster dominierten.
Diese Befunde blieben indes der breiten DDR-Bevölkerung gemeinhin verborgen, denn die politisch offiziell abgesegneten medialen Sozialnarrative sollten dem Publikum vor allem die Erfolge des Regimes veranschaulichen. Populäre, bis zum Ende der DDR weitgehend stabile symbolische Sozialfiguren waren zum einen die bis ins hohe Lebensalter tätigen "rüstigen" Rentner(innen), denen die Gesellschaft aufgrund erworbener Verdienste um Aufbau und Arbeit Dankbarkeit und Demut entgegenzubringen hatte. Auch kinderreiche Familien, die als "anständig", "ordentlich", gut organisiert und politisch aktiv präsentiert wurden, erfuhren ihre symbolische Anerkennung. Formen sozialer Randständigkeit kamen kontrastierend dazu unter anderem in Gerichtsreportagen zur Sprache. Diese überaus pädagogisierten Positiv- und Negativentwürfe dienten nicht nur der Legitimierung des patriarchalischen (Sozial-)Staates, sondern vermittelten gleichzeitig eine zentrale Botschaft an Leser(innen) beziehungsweise Zuschauer(innen). Das Ergebnis war die Festsetzung sozial anerkannter, stark regulativer Lebensnormen, die um Werte wie Tugend und Verzicht, Zuverlässigkeit und Fleiß sowie, fundamental innerhalb der "Arbeitsgesellschaft" DDR (Martin Kohli), um (reguläre, geordnete) Arbeit kreisten. Die so vermittelten Verhaltensregeln festigten das Wunschbild des ehrbaren, sozial respektablen "Werktätigen", der als Pendant zu der aus der Arbeiterbewegung stammenden Kategorie des "Lumpenproletariats" gedacht wurde. Die Etablierung und Stabilisierung symbolisch-sozialer Sinnwelten zeigt zugleich die Bedeutung eines zwar fürsorglichen, immer aber auch misstrauischen sozialistischen Staates, dessen Loyalitätsangebote vordergründig an "Normalbiographien" adressiert waren. Damit impliziert war gleichzeitig das Versprechen, auch künftig soziale Sicherheit zu gewähren. Abweichungen – tatsächlich oder vorgestellt – konnten seitens der Politik beziehungsweise mittels des Strafrechts stigmatisiert und kriminalisiert werden, was gleichzeitig ein Instrument zur sozialen Disziplinierung schuf. Der letzte Punkt verweist – bei aller Ähnlichkeit in den Bewertungen und dem hier wie dort festzustellenden gesteigerten Interesse an sozialen Randlagen in den "langen" 1960er Jahren – auf eine markante Auseinanderentwicklung von Bundesrepublik und DDR, nämlich bezüglich der Festlegung und den Durchsetzungsmöglichkeiten sozial verbindlicher Verhaltensnormen.
Krisenjahre: Verstetigungen und Verschiebungen
Die beiden Ölkrisen von 1973 und 1979/80 markieren das Ende der "Blütezeit des Wohlfahrtsstaates" (Hartmut Kaelble). Diese globalen ökonomischen Zäsuren hatten unmittelbare Auswirkungen auf West-, mit Verzögerung auch auf Ostdeutschland. In der Bundesrepublik mündete das plötzliche Ende der Prosperitätsillusion nacheinander in Krisendiskurse um eine "Neue Soziale Frage", die "Neue Armut" und die "Zweidrittelgesellschaft". Als Bedingungsfaktor in Zeiten der "Vollbeschäftigung" nahezu bedeutungslos, avancierte Arbeitslosigkeit als nun beständige Begleiterin der konjunkturellen Entwicklung zu einem wesentlichen Strukturierungselement zeitdiagnostischer Deutungen des Sozialen, worauf die teils heftigen Debatten um die Reichweite sozialstaatlicher Interventions- und Präventionsmechanismen deuten. Daneben findet sich eine nun wieder verstärkte Nutzung individualistischer Erklärungen für soziale Abstiegsprozesse. Gerade konservative Beobachter(innen) beklagten hierbei fehlende Lebensplanung und mangelndes Sparverhalten, ungenügende Einstellungen zur Arbeit sowie moralische Schwächen. Teile der Medien oder auch Politiker(innen) im Bundestag polemisierten gar plakativ und mit Verweis auf Einzelfälle gegen diejenigen Bezieher(innen) staatlicher Leistungen, die das "vorherrschende Arbeits- und Leistungsethos ablehnt(en)". Solche Selbstverschuldungsdebatten um vermeintliche "Drückeberger" und eine "Hängematten"-Mentalität als Akte ritueller Kommunikation beförderten das Wiederaufleben früherer sozialskeptischer Deutungsgewohnheiten. Die mit Verve verhandelte Frage um die Verantwortung bei Teilen der sozial Benachteiligten kann als Versuch der Selbstverständigung und Reaktion auf die Abruptheit der sozioökonomischen Umbrüche interpretiert werden. Gleichzeitig legte die Verbindung aus Krisendiskursen, der weiteren Politisierung und Ausdifferenzierung der Massenmedien als Arenen sozialer Auseinandersetzungen und die gesteigerte Selbstreferenzialität auch des Sozialen den Grundstein für ein stabiles, breites Panorama sozialer Kommentierung. Daraus resultierte unter anderem die Einsicht, "Armut" als Sozialkategorie wieder eine größere Bedeutung beimessen zu müssen.
In der DDR begann mit der 1971 proklamierten "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" die Phase des "entfalteten Sozialismus". Diente die damit verbundene nochmalige Erweiterung des soziopolitischen Maßnahmenkataloges aufgrund ihrer pazifizierenden Stoßrichtung vor allem der Selbstberuhigung für die politische Führung, so lassen sich dennoch auch (freilich teuer erkaufte) Erfolge ausmachen. Dazu ist unter anderem der Rückgang von Arbeiter- und Angestelltenhaushalten im Bereich einer empirisch festgelegten Armutsgrenze von 30 (1970) auf 10 Prozent (1988) zu zählen. Die soziale Situation vieler Rentner(innen), von Alten in Pflegeeinrichtungen, kinderreichen Familien, Alleinerziehenden, Strafentlassenen oder "Vertragsarbeitern" kollidierte hingegen bis zum Ende der DDR mit den von der Einheitspartei beharrlich verkündeten Egalitätsparolen. Die Individualisierung blieb dabei weiterhin die dominante Strategie im Umgang mit sozialen Problemen, worauf beispielsweise das rigide Vorgehen gegen "asoziales Verhalten" in der Ära Honecker deutet.
Und dennoch begann der Glaube an die offiziös verkündete Gleichheitsdoktrin in den 1980er Jahren zumindest subkutan zu schwinden, etwa in den Sozial- und Rechtswissenschaften, in Kunst und Literatur. Verglichen mit bundesdeutschen Entwicklungen verweist dies auf eine markante Phasenverschiebung, zum einen bezogen auf ein kritisches, selbstreflexives Hinterfragen sozialer Sicherungspostulate, zum anderen aber auch mit Blick auf die wachsende zeitdiagnostische Einsicht, einen gewissen "Kernbestand" sozial "Abgehängter" kaum auflösen zu können. Hieran wird abermals deutlich, inwiefern das Deuten des sozialen "Unten" quer zu blockübergreifenden Logiken verlaufen konnte.
Was bleibt? Ein Ausblick auf das vereinte Deutschland
Öffentlich verhandelte Befunde zum sozialen "Unten" waren in beiden deutschen Staaten sinnstiftende Konstrukte: Die hier nur angedeuteten Ähnlichkeiten bezüglich der sozialen Kategorisierung, gängiger Bewertungsrichtlinien oder der Etablierung bestimmter Kulturfiguren weisen auf Nähe und Ferne, Berührungspunkte, Modifikationen und Abweichungen von Bundesrepublik und DDR bei diskursiven und symbolischen Konstruktionsprozessen bezüglich sozialer Gegebenheiten. Die Beobachtung und Interpretation dieser Selbstdeutungsnarrative gestattet Rückschlüsse auf gesellschaftlich akzeptierte Erwartungen an Normkonformität. Umgekehrt weisen die Aushandlungsformen sozial "unerhörten" Verhaltens auf zeitgenössische Vorstellungen vom sozial disreputierlichen unteren Spektrum der Gesellschaft. Sie gestatten aber auch einen Brückenschlag in die Gegenwart: In aktuellen Debatten über gesellschaftliche Randlagen fungieren soziale Zustandsbeschreibungen nicht unähnlich als symbolische Arrangements, die Aufschluss über gesellschaftlich akzeptables Sozialverhalten liefern. Gleichzeitig sind diese sinnbildlichen und manifesten Unterscheidungen zwischen "verschämter" und "unverschämter" Armut auch heute noch in Visualisierungs- und Sprachmustern zu erkennen. Die Verhandlung von sozialem Prestige und sozialer Verachtung sowie bestimmte, von der politischen beziehungsweise konjunkturellen Gesamtsituation abhängige Ressentiments, diffamierende Sozialklischees und eine damit verbundene symbolische Aufwertung der Bezeichnenden (und umgekehrt Abwertung der Bezeichneten) sind offensichtlich jahrzehntelang eingeübte gesellschaftliche Klassifizierungs- und Kommunikationsmodi. Das Vorhandensein grenz- und systemübergreifender Analogien im geteilten Deutschland lässt – zumindest bezüglich sozialer Wahrnehmungsweisen – letztlich auch die Bedeutung der "harten" Zäsur 1989/90 verschwimmen.