Über Israelis in Berlin zu schreiben und sie als Phänomen zu beschreiben, gestaltet sich für mich als ziemlich schwierige Aufgabe, obwohl oder vielleicht gerade deswegen, weil ich meinen Lebensmittelpunkt vor knapp neun Jahren in diese Stadt verlegt habe. Oft habe ich über uns in der einen oder anderen Zeitung gelesen, ohne mich und die anderen Israelis, die ich hier kenne, in dem Beschriebenen wiederzufinden. Es scheint sich bei diesem Thema um zweierlei zu handeln, um zwei verschiedene Aspekte, die nur bedingt miteinander zu tun haben, auch wenn beide unter dem Titel "Israelis in Berlin" stehen.
Zum einen geht es um die Lebenswirklichkeit Berliner Israelis: Warum ist Berlin bei manchen so beliebt, und was macht für uns die Faszination der Stadt aus? Was sind die Motive zu kommen oder gar zu bleiben? Wie geht es Israelis in Berlin? Mit welchen Erwartungen kommen sie, welche erfüllen sich, welche sind illusorisch? Und nicht zuletzt: Welche Rolle spielt die Geschichte? Hier geht es also um Einzelschicksale, die zu verallgemeinern kaum möglich ist. Ob meine persönliche Situation als Israeli in Berlin von Vorteil ist oder eine hinderliche Befangenheit darstellt, sei an dieser Stelle dahingestellt.
Zum anderen aber geht es um die deutsche Wahrnehmung, um das von Einzelschicksalen losgelöste Phänomen, das deutsche Medien "Israelis in Berlin" nennen. Inwiefern wird das mediale Phänomen durch die tatsächliche Praxis gedeckt? Und warum ist das deutsche Interesse, die deutsche Neugier so groß?
Da dieser Text in deutscher Sprache erscheint und an eine deutsche Leserschaft gerichtet ist, möchte ich mit Letzterem beginnen, um die mehr oder weniger objektiven Rahmenbedingungen zu erklären, bevor ich zu den eher subjektiven Aspekten israelischen Lebens komme. Zum Schluss möchte ich über die jeweilige Bedeutung nachdenken, die in diesen beiden Zusammenhängen der Vergangenheit beigemessen wird.
"Israelis in Berlin" als Phänomen
Sprechen wir von Israelis in Berlin, so stellt sich eine grundlegende Herausforderung: Wie groß ist dieses Phänomen? In der Praxis ist es sehr schwer, herauszufinden, inwiefern es dieses Phänomen tatsächlich gibt. Wie viele Israelis genau in dieser Stadt leben, weiß niemand, es lässt sich auch kaum schätzen. Lokale Medien haben in den vergangenen Jahren unterschiedliche Zahlen genannt, häufig ist von 20.000, 30.000 und jüngst in der "Berliner Zeitung" (17. Januar 2015) sogar von 50.000 die Rede. Es liegt der Verdacht nahe, dass hier jüdische Israelis und nichtisraelische Juden zu einer Menge vermischt werden – ein Problem, das ich später noch näher erörtere. Solche Zahlen werden zuweilen auch von Israelis angegeben, und zwar mit der Begründung, man höre auf Berliner Straßen ja so oft Hebräisch. Dass dem so ist, kann ich bestätigen, jedoch ist das in erster Linie auf Touristen zurückzuführen: Verglichen mit der sehr beschaulichen Größe des Landes und seiner (hebräischsprachigen, also jüdischen) Bevölkerung spielt Israel eine relativ große Rolle in der Berliner Tourismusindustrie. Knapp 85.000 Israelis sind allein 2013 nach Berlin gekommen (aus den ganzen USA waren es im selben Zeitraum 327.000 Menschen). Aber nicht um die Touristen geht es hier, sondern um die Existenz einer echten Community von Israelis, die in Berlin leben. Wie steht es also um diese?
Die nächstliegende Quelle für aufschlussreiche Informationen stellt die israelische Botschaft dar. Als israelische Staatsbürger sind wir nämlich, so steht es ausdrücklich im Reisepass, zur Anmeldung in der israelischen Botschaft verpflichtet. Doch wie hoch der Anteil derer ist, die dieser Pflicht nicht nachkommen, bleibt ebenfalls unklar; im Konsulat scheint man dies jedenfalls mit mediterraner Gelassenheit zu nehmen und spricht von etwa 3.000 Israelis in Berlin, was den Glauben an die tatsächliche Existenz eines großen Phänomens wesentlich unterminiert.
Wie sehen es die deutschen Behörden? Auch das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg dementiert alle Gerüchte fünfstelliger Zahlen und spricht von weniger als 4.000 Personen mit israelischer Staatsangehörigkeit, die in Berlin gemeldet sind. Allerdings gibt es gute Gründe, sich nicht auf diese Statistik zu verlassen: Während bei anderen Nationalitäten mit ziemlicher Sicherheit auf die Anmeldestatistik zurückgegriffen wird, zeigt sich bei Israelis eine andere Situation. Zum einen ist Israel in puncto Staatsangehörigkeit liberaler als Deutschland, sodass der Besitz mehrerer Staatsangehörigkeiten für Israelis unproblematisch und eine relativ weit verbreitete Erscheinung ist. Zum anderen stammen bekanntermaßen viele Israelis aus Europa, was ihnen den Erwerb von Staatsangehörigkeiten europäischer Länder ermöglicht. Dank des europäischen Einigungsprozesses wird diese Möglichkeit seit ungefähr anderthalb Jahrzehnten von immer mehr Israelis in Anspruch genommen. Sie oder ihre Kinder können dann in Deutschland die europäische Freizügigkeit beanspruchen und melden sich folglich nicht als Israelis, sondern als Polen, Tschechen, Rumänen oder Angehörige anderer Staaten. Manchen Israelis ebnet Artikel 116, Absatz 2 des deutschen Grundgesetzes den Weg, denn als Nachkommen ehemaliger, verfolgter Reichsbürger können sie sich hier als Deutsche niederlassen. Das statistische Amt zählt etwas mehr als 2.000 Menschen, auf die das zutrifft. Kann es sein, dass die Rede von "Israelis in Berlin" ein eher mediales als tatsächliches Phänomen ist?
Nicht ganz. Denn bei der Anmeldung in Berlin hat der Zugezogene auch seine vorherige Adresse anzugeben. Somit lässt sich behördlich ermitteln, wie viele Einwohner – egal welcher Staatsangehörigkeit – bei ihrer ersten Anmeldung in Berlin angegeben haben, aus Israel gekommen zu sein. Von diesen gab es 2013 etwas mehr als 9.000.
Doch wenn die real existierenden Israelis in Berlin eine verschwindend kleine Minderheit unter fast 3,5 Millionen Einwohnern sind, woher rührt die Vorstellung, der Begriff von "Israelis in Berlin"?
Kaum ein Monat vergeht, ohne dass ein deutsches, oft ein Berliner Medium über uns schreibt oder sendet. Auch wenn die faktische Existenz einer großen Community sich kaum nachweisen lässt, sind wir zumindest als mediales Phänomen objektiv vorhanden. Gelegentlich wirkt sich der hiesige Enthusiasmus auch auf die israelische Medienlandschaft aus, die seit einigen Jahren begonnen hat, sich für die Israelis in Berlin zu interessieren. Ihren vorläufigen Höhepunkt hat diese Entwicklung 2014 mit dem sogenannten Schokopudding-Protest erlebt: Ein vorläufig in der deutschen Hauptstadt weilender Israeli hat auf Facebook seine Landsleute zur Auswanderung nach Berlin aufgerufen, weil Schokopudding (als Symbol für die allgemeinen Lebenskosten) hier billiger ist. Einige Wochen später ist der Initiator selbst nach Israel zurückgekehrt, und das Thema Berlin scheint, ohne dass eine tiefer eingehende Auseinandersetzung mit der etwaigen Existenz einer israelischen Community in Berlin stattgefunden hätte, bis auf Weiteres wieder in Vergessenheit geraten zu sein. In diesem Zusammenhang sei auch an die frühere Affäre um den israelischen Finanzminister Yair Lapid erinnert, der (ebenfalls auf Facebook) seine Kritik an der jüdischen Auswanderung nach Berlin zum Ausdruck brachte, wobei "Berlin" in diesem Fall eher als Projektionsfläche für einen innerisraelischen politischen Schlagabtausch diente.
Zugegebenermaßen haben auch wir Israelis in Berlin an diesem medialen Boom mitgewirkt. 2012 gelang einigen von uns die Gründung eines hebräischen Stadtmagazins namens "Spitz", das wir gerne als das erste seit den 1930er Jahren feiern. Dieses erscheint zweimonatlich und wird dank Sponsoren kostenlos an etwa 2.000 Personen geschickt, die mehrheitlich in Berlin wohnen. Nicht nur aufgrund des persönlichen Bezugs erscheint mir unser Magazin als passende Metapher für uns Israelis in Berlin – gefangen in dem großen Abstand zwischen dem medialen Phänomen und den tatsächlichen Bedingungen. Denn unterm Strich ist es eine sehr beschauliche Existenz, die unserem kleinen Projekt (noch?) vergönnt ist. Dies trifft auch verallgemeinert auf uns zu: Ja, wir sind hier, aber unsere Community entfaltet sich in einem wesentlich weniger glamourösen Umfang als dies angesichts mancher Berichterstattung zu sein scheint. Denn obwohl seit Kurzem ein gewisses Gemeinschaftsgefühl nicht mehr zu bestreiten ist, befindet sich das Ganze noch in den Anfängen, keineswegs vergleichbar zu anderen, sehr aktiven israelischen Communities weltweit, über die jedoch kaum berichtet wird.
Somit gelangen wir zu der Frage, warum die Israelis in Berlin trotz alledem ein Phänomen geworden sind. Die Antwort, die ich auf diese Frage bieten kann, wird kaum überraschen, aber sie vermag zu erklären, warum israelische Palästinenser, obwohl nicht weniger israelisch als ihre jüdischen Mitbürger, in diesem medialen Phänomen kaum eine Rolle spielen. Auch hier sei dahingestellt, inwiefern meine Situation – diesmal als Nichtdeutscher – mir helfen kann, das deutsche Phänomen zu verstehen, in dem ich sozusagen unwillkürlich eine kleine Rolle spiele.
Unsere Gegenwart als Israelis in Berlin ist, wie mir scheint, in erster Linie eine Gegenwart als Juden. So banal dies klingt, so wichtig ist es wohl, darüber nachzudenken: Unsere Bezeichnung als "Israelis" ist oft nur ein Hinweis auf unser Jüdischsein. Dies könnte erklären, wie manche Medien Zahlen nennen, die nur dann Sinn ergeben, wenn man die rund 10.000 Mitglieder der jüdischen Gemeinde dazurechnet.
Gleichzeitig geht es aber nicht nur um das bloße Jüdischsein. Was die Deutschen so sehr interessiert, ist das Phänomen eines besonderen Jüdischseins, das sich vom Gemeindeleben der Diasporajuden abhebt. Unter diesem Aspekt erscheinen die Israelis als die "Neuen Hebräer", wie eine an das deutsche Publikum gerichtete Ausstellung in Berlin vor einigen Jahren betitelt wurde. Denn wir Israelis kommen ja aus einem Land, in dem wir – ganz im Gegensatz zu allen anderen Juden weltweit – keine Minderheit sind. Im Gegenteil: Dort entfaltet sich die jüdische Identität, die hierzulande (wie überall in der Diaspora) doch sehr auf das Religiöse beschränkt ist, in allen, ja auch machtpolitischen Aspekten. Das typische Bild eines jungen Israelis in Berlin ist das eines gewesenen Soldaten (oder Soldatin) – für manche Einheimischen vielleicht das Bild eines Täters. Der hiesige Kontext verleiht uns also eine ganz neue Brisanz, die aus Individuen ein Thema macht, ein Phänomen.
In der deutschen Hauptstadt erscheinen die Israelis folglich nicht als Fortsetzung oder Wiederbelebung der jüdischen Existenz vor der Katastrophe der Shoah (diese Rolle beziehungsweise Wahrnehmung ist den Diasporajuden vorbehalten), sondern als etwas anderes, ganz anderes. Denn eine Community von Israelis in Berlin ist zweifelsohne ein historisches Novum, während es hier schließlich seit 1671 immer schon Diasporajuden gegeben hat – nicht nur vor dem Zweiten Weltkrieg, sondern auch währenddessen, danach und erst recht heute, infolge der jüdischen Immigration aus der ehemaligen Sowjetunion. Doch die ehemals sowjetischen Juden wurden hergeholt, ihre Einwanderung wurde vom deutschen Staat gewollt, gefördert und organisiert. Ganz anders – abermals anders – verhält es sich bei den Israelis, deren Weg nach Berlin von keiner offiziellen Seite unterstützt, geschweige denn organisiert wird. Warum kommen sie bloß?
Dieser Frage gehe ich im nächsten Teil nach. Doch vorab ist festzuhalten: Es sind nicht die innerisraelischen Beweggründe der (relativ wenigen) Migranten, die sie zu dem Phänomen werden lassen, das von deutschen Medien als solches wahrgenommen wird. Im Gegenteil: Unsere bescheidene Existenz und der mediale Hype scheinen sich zu widersprechen. Dies sind die Rahmenbedingungen, innerhalb derer das Leben einzelner Israelis in Berlin stattfindet. Diese Widersprüchlichkeit, die ich hier zu schildern versucht habe, ist wohl das wichtigste Charakteristikum von "Israelis in Berlin".
Wirklichkeit von Israelis in Berlin
Schauen wir nun nicht mehr auf den deutschen Hype, sondern fokussieren uns auf die Lebensrealität der hier lebenden Israelis. Wie zuletzt beim Pudding-Protest, geht es auf der israelischen Seite beim Thema "Berlin" – wohl gegen deutsche Erwartungen – nicht so sehr um Geschichte, sondern um die Wirtschaft. Es ist immer wieder die Wirtschaft.
Man muss schon zugeben, dass der Hype in den israelischen Medien um den Pudding-Protest, wie auch der Protest selbst, nicht unberechtigt war. Milchprodukte sind in Israel etwa fünfmal so teuer wie in Deutschland, weil der israelische Milchmarkt seit Jahrzehnten mit einer zentralistischen, konkurrenzlosen Planwirtschaft staatlich verwaltet wird. Dabei ist der Milchmarkt nur ein Beispiel für viele objektiv vorhandene Probleme. Tatsächlich hat Israel noch einen langen Weg vor sich, um das sozialistische Erbe seiner Gründungsväter zu überwinden. Weder dem Initiator des Pudding-Protestes noch der israelischen Öffentlichkeit ging es wirklich um den Pudding, sondern um die allgemeinen Lebenshaltungskosten, bis hin zu den Immobilienpreisen.
Tatsächlich ist die israelische Migration nach Berlin in den vergangenen Jahren durch die Suche nach einem höheren Lebensstandard gekennzeichnet. Die Geschichte, die in den deutschen Medien verständlicherweise eine große Rolle spielt, ist den meisten Israelis von zweitrangiger Bedeutung. Wie schwer es Deutschen fällt, sich die wirtschaftliche Problematik in Israel vorzustellen, zeigt sich in der Diskrepanz zwischen der allgegenwärtigen Kritik in Berlin an den gestiegenen Wohnungs- und Mietpreisen und der israelischen Wahrnehmung derselben Preise als sehr billig. Um es mit einem zufälligen, aber treffenden Beispiel zu veranschaulichen: Während ich diesen Text schreibe, habe ich eine Mail bekommen, in der Bekannte meiner Mutter um meine Hilfe bitten, in Berlin eine Wohnung zu erwerben, da sie sich auf dem israelischen Markt, wo sich fast alle Grundstücke landesweit im staatlichen Besitz befinden, keine Wohnung leisten können.
Als ich mit meiner deutschen Freundin (inzwischen Ehefrau) vor anderthalb Jahren aufgrund steigender Mietpreise in das Haus gezogen bin, in dem wir seitdem wohnen, hatten wir hier noch keine israelischen Nachbarn. Seitdem sind drei dazugekommen, die hier am Rande der Stadt ebenfalls Zuflucht gefunden haben: ein Gastronom, ein Informatiker und ein Anwalt. Bei allen war die Wirtschaft ein zentraler Faktor bei der Entscheidung, hierher zu kommen. Dass sie gebildet sind, ist kein Zufall, sondern ebenfalls charakteristisch für die Israelis, die es in den zurückliegenden Jahren nach Berlin verschlagen hat: Es ist absurderweise gerade die Mittelschicht, die Israel verlässt. Die sogenannte Unterschicht kann sich ein solches Unterfangen kaum leisten.
Es ist also eine Verallgemeinerung, die mir aber tragfähig erscheint: Viele, vielleicht sogar die meisten Israelis zieht es aus wirtschaftlichen Gründen ins Ausland, darunter auch diejenigen, die nach Berlin gekommen sind. Größtenteils sind sie nicht enttäuscht bei der Begegnung mit der hiesigen Marktwirtschaft, auch wenn Berlin teurer geworden ist. Es ist eine auffällig bürgerliche Migration, die auch Familien umfasst. Es geht also nicht nur um junge, unabhängige Menschen, sondern durchaus auch um Eltern, die wohlüberlegt mit ihren Kindern nach Berlin ziehen, damit diese schon mit der deutschen Sprache aufwachsen. Dies steht in starkem Gegensatz zu früheren Migrantentypen wie etwa den Künstlern.
Ja, es waren "die Künstler", die früher in israelischen Kreisen den Ton angaben und deren Ausstrahlung bis heute noch das Berliner Bild vom coolen, alternativen, typischerweise linken Israeli prägt: jung, alleinstehend, oft homosexuell. Als Berlin noch recht billig war, galt der kreative Typ – der Maler, die Sängerin – als Sinnbild der Berliner Israelis schlechthin. Nichtsdestoweniger war es damals freilich kein israelisches Spezifikum, sondern Teil einer allgemeinen Entwicklung, die Kreative und Schaffende aus verschiedenen Teilen der Welt an die Spree zog. Wer es sich leisten konnte, nach New York oder Amsterdam zu gehen, tat eben das. Weniger Vermögende verschlug es in billigere Städte, wobei Berlin sich schon seit den 1990er Jahren als die internationale, alternative und subversive unter den großen und dennoch billigen Metropolen profilierte. Man sollte also bedenken, dass die Beliebtheit Berlins in künstlerischen Kreisen keine israelische Besonderheit ist und dass die Migration israelischer Künstler nach Berlin eigentlich Teil eines internationalen Phänomens ist.
Dabei dürften sowohl bei Israelis als auch bei allen anderen Künstlern, die für eine längere oder kürzere Zeit nach Berlin gekommen sind, die vom deutschen Staat aufgestellten Rahmenbedingungen ebenfalls von Bedeutung gewesen sein. Man denke in diesem Zusammenhang etwa an die Künstlersozialkasse, die in anderen westlichen Ländern wie den USA oder eben Israel noch ihresgleichen sucht (wobei wir es hier wiederum nicht mit einem Berliner Spezifikum zu tun haben).
Kurzum: Berlin galt – und es gilt gewissermaßen immer noch – als chancenreiche Etappe in der Karriere angehender Künstler, wenn nicht aufgrund von Vorzügen, die allein für Berlin gelten, so doch aufgrund der Gesamtwirkung verschiedener Faktoren auf der internationalen, der deutschlandweiten wie auch der städtischen Ebene, deren Zusammenkunft in Berlin die Stadt zum Anziehungspunkt gemacht haben. "Berlin", so könnte man sagen, ist in den vergangenen beiden Jahrzehnten ein Distinktionsmerkmal gewesen, mit dem man überall im Westen angeben konnte – darunter eben auch in den künstlerischen Kreisen Israels.
Inzwischen hat sich aber einiges verändert: Die Stadt ist nicht mehr so billig, um jede Ausschreibung bewerben sich zahlreiche Konkurrenten, und insgesamt soll Berlin, wie heutzutage in solchen Kreisen zu vernehmen ist, einfach nicht mehr so einmalig sein, wie es mal war. Auch die israelische Künstlerszene in Berlin zeigt sich nunmehr weniger subversiv und dafür bürgerlicher: Es existieren schon einige Galerien, die sich auf israelische Kunst spezialisieren.
Gehen wir in die Mitte der 2000er Jahre, so kommen wir auf die Gruppe, in die wohl auch ich einzuordnen bin: die "Germanologen". Diesen Begriff verwendeten meine Kommilitonen und ich als Selbstbezeichnung; gemeint waren diejenigen, die sich aus Leidenschaft auf Deutschland spezialisierten – in Geschichte, Literatur, Philosophie und so weiter. Ehrlich gesagt sind wir Germanologen eine recht kleine, dafür aber mit sehr eigentümlichen Charakteristika versehene Gruppe: Obwohl keine Muttersprachler, können Germanologen schon gut Deutsch, bevor sie kommen – und sie kommen meistens nicht als Einzelgänger, sondern auf akademischen Wegen. Es geht ihnen nicht um Finanzen oder Karriere, für die sich an einem Tag in Berlin, am nächsten jedoch woanders gute Chancen bieten, sondern um eine ganz bewusste Entscheidung, Deutschland und dem Deutschen ein gutes Stück ihres Lebens zu widmen. Aber vielleicht ist das eine viel zu romantische Darstellung von mir und meinesgleichen: Wenn die Gefahr besteht, dass meine persönliche Situation meine Sicht auf die Dinge verzerrt, dann wohl in diesem Punkt.
Wo bleibt der Holocaust?
Welche Rolle spielt also bei den hiesigen Israelis "die Geschichte", die in diesem Zusammenhang ja letztendlich auf den Holocaust hinausläuft und gerade aus deutscher Sicht bei der Wahrnehmung dieser Israelis doch so zentral ist? Wie in den bereits dargelegten Punkten kann es auch hier keine Antwort geben, die für beide Seiten gleichermaßen gilt. Dass der deutsche Völkermord am europäischen Judentum auf deutscher Seite eine größere Rolle spielt als auf israelischer Seite, ergibt sich letztendlich schon daraus, dass die Israelis in dieser Stadt zahlenmäßig nicht sonderlich ins Gewicht fallen. Da sie also in keinem Bereich bedeutsamen Einfluss ausüben können, ist es selbstverständlich, dass ihnen beziehungsweise uns als Gruppe – zumal als eine jüdische – keine andere Bedeutung zugeschrieben werden kann als eine historische und symbolische.
Eine ganz andere Funktion erfüllt die Geschichte bei den Israelis – und so sehr diese Sache persönlich jeweils anders ausfällt, erlaube ich mir hier zu verallgemeinern. Denn es gibt Israelis, bei denen der Holocaust ein Grund ist, Deutschland und Berlin nicht zu besuchen, geschweige denn, sich hier niederzulassen. Aber es wird in Berlin kaum Israelis geben (möglicherweise bis auf einige der oben beschriebenen Germanologen), bei denen die Geschichte der Grund war, den eigenen Lebensmittelpunkt doch in diese Stadt zu verlegen. Daraus ist man fast gezwungen zu folgern, dass die Geschichte auch bei denjenigen, die sich zumindest vor dem eigenen Familienhintergrund als Betroffene verstehen, eine allenfalls zweitrangige Rolle spielt.
Dies bedeutet allerdings nicht, dass der Holocaust unwichtig wäre. Auch und gerade in der zweitrangigen Rolle bleibt er stets im Hintergrund, manchmal im wortwörtlichen, visuellen Sinne, etwa in Gestalt der allgegenwärtigen Stolpersteine oder des unübersehbaren Stelenfeldes. Allerdings ist das eine Frage, die nicht nur Israelis, sondern alle Juden in Berlin betrifft. Hier zeigt sich nochmals, dass es bei dem Thema "Israelis in Berlin" nicht wortgenau um "Israelis", sondern eigentlich um "Juden aus Israel" geht.
Damit will ich sagen, dass eine persönliche Auseinandersetzung mit Berlin als Hauptstadt der NS-Diktatur und als dem Ort, an dem die schrecklichsten Verbrechen am jüdischen Volk erdacht wurden, dem alltäglichen Leben als Israeli in Berlin innewohnt – sie ist eine gewissermaßen natürliche, unvermeidliche Entwicklung bei wohl jedem Israeli (und weil eine solche Auseinandersetzung eben sehr persönlich ist, erlaube ich mir hier keine weiteren Verallgemeinerungen über etwaige Ergebnisse solcher individuellen Entwicklungen). Andererseits möchte ich betonen, dass eine solche Auseinandersetzung – so unvermeidlich sie im Laufe der Zeit ist – eben eine indirekte Folge der Zuwanderung nach Berlin ist und in den allermeisten Fällen weder ihr Grund noch ihre beabsichtigte Zielsetzung. Insofern muss festgehalten werden, dass die für die deutsche Wahrnehmung von Israelis in Berlin so zentrale "gemeinsame" Geschichte für die Israelis selbst, als Individuen, keine primäre, gar alles andere überschattende Bedeutung hat. Das heutige Leben ist weitaus wichtiger, und so wird durch die vielen kleinen und großen Freuden oder Miseren des Alltags sogar der Holocaust in den Hintergrund gedrängt.