Man muss durch Arbeit jenes Einkommen haben, das man zum Leben braucht, ohne zum Sozialamt gehen zu müssen"
Dass europäische Gewerkschaften trotz eines nominellen Kompromisses bis jetzt in der Praxis jedoch keine einheitliche Position hierzu finden konnten, verdeutlicht ein Dilemma, dem sich sowohl nationale Organisationen als auch der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) und die Branchenverbände in ihrer alltäglichen Vertretungspraxis ausgesetzt sehen: Im Zuge der Etablierung des gemeinsamen Marktes – etwa durch Währungsunion und Dienstleistungsfreiheit – steigt der Handlungsdruck stetig an und das Spektrum polit-ökonomischer
Mindestlohnpolitik in und für Europa
Das Konzept einer verbindlichen Lohnuntergrenze innerhalb eines bestimmten Territoriums und gegebenenfalls einer bestimmten Branche weist als Maßnahme der Regulierung von Erwerbsverhältnissen eine gewisse Tradition auf. Nachdem erste Regelungen dieser Art bereits im frühen 19. Jahrhundert getroffen wurden, bauen heute 90 Prozent aller Länder der Welt auf eine entsprechende Gesetzgebung.
2014 folgten alle 28 EU-Mitgliedstaaten einer Mindestlohnregelung. Während in 21 von ihnen eine allgemeine, gesetzlich festgelegte Lohnuntergrenze in Kraft ist, weisen die restlichen sieben Länder lediglich sektorale (meist tarifvertraglich festgelegte) Regelungen auf. Bezüglich der Höhe universaler Mindestlöhne unterscheidet Thorsten Schulten drei Gruppen von Ländern: sechs westeuropäische mit Sätzen zwischen sieben und elf Euro, süd- und osteuropäische mit Sätzen zwischen zwei und sieben Euro und schließlich eine weitere, zum Großteil osteuropäische Ländergruppe mit Sätzen von unter zwei Euro.
Der Vorschlag eines europäischen Mindestlohns zielt auf eine andere Regulierungsebene. Da die Europäische Union aber – wie im "Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union" im Artikel 153, Absatz 5 festgelegt – über keinerlei Kompetenz im Bereich der Lohnfindung verfügt, wäre für die Festlegung einer verbindlichen Lohnuntergrenze die Änderung der Europäischen Verträge erforderlich.
In der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion lassen sich verschiedene Argumente für eine europäische Mindestlohnregelung finden: Indem sie die zunehmende Lohnungleichheit innerhalb der EU
Diesen möglichen Positiveffekten zum Trotz kann eine generelle europäische Mindestlohnregelung nicht als gemeinsames Klasseninteresse der europäischen Arbeiterschaft verstanden werden. Es lassen sich hier wiederum drei prinzipielle Gegenargumente formulieren. Erstens könnte eine verbindliche Lohnuntergrenze als alleiniger Bezugspunkt in Lohnverhandlungen das Erwirken höherer Abschlüsse verhindern. In der deutschen Diskussion war in diesem Zusammenhang häufiger von einer "Mindestlohnökonomie" die Rede. Zweitens könnte die Einführung eines verbindlichen Mindestlohns außerdem einen Einflussverlust von Gewerkschaften nach sich ziehen: Schließlich gäben diese hiermit ihr Kerngeschäft – Tarifverhandlungen – in die Hände des Staates und entmachteten sich somit selbst.
Zusammenfassend identifiziert Thorsten Schulten in der Diskussion um einen europäischen Mindestlohn ein normatives und ein ökonomisches Argumentationsmuster.
Die Haltung zu einer gemeinsamen gewerkschaftlichen Forderung wird in einem internationalen Zusammenhang verhandelt, der von den Gewerkschaften und Dachverbänden auf der nationalen Ebene bis hin zu den Branchenverbänden auf der europäischen Ebene und schließlich dem EGB als umfassendster Organisation reicht. Während die Vertreter der europäischen Ebene die Einführung eines europäischen Mindestlohns generell zu unterstützen scheinen, haben Bengt Furaker und Mattias Bengtsson in einer Survey-basierten Untersuchung kürzlich einen hohen Grad der Polarisierung zwischen den unterschiedlichen nationalen Positionen festgestellt.
Die politische Diskussion
Die Diskussion um einen europäischen Mindestlohn im Umfeld der europäischen Institutionen reicht mehr als 20 Jahre zurück. Anlass dieser Debatte waren ein seit den 1980er-Jahren wachsender Niedriglohnsektor sowie die Zunahme interner Lohndifferenziale im Zuge der Süderweiterung 1981 und 1986. Vor diesem Hintergrund richtete die EU-Kommission 1993 eine Aufforderung an die Mitgliedstaaten, vergleichbare Löhne sicherzustellen.
Dass diese programmatische Setzung in den Folgejahren Eingang in die europapolitische Diskussion der Gewerkschaften fand, hat verschiedene Gründe. So erhöhte die Osterweiterung nicht nur die Arbeitskräftemobilität und damit auch den Druck auf die westlichen Tarifsysteme. Der Großteil der neu hinzugekommenen Staaten hatte inzwischen selbst eine gesetzliche Lohnuntergrenze eingezogen, und dies bestärkte auch die Diskussion um den europäischen Mindestlohn. Des Weiteren haben die Wirtschaftskrise ab 2008 sowie die nachfolgenden Austeritätspolitiken den Druck auf die europäischen Arbeiter vor allem im Osten und Süden des Kontinents weiter erhöht.
In der gewerkschaftlichen Diskussion spiegelt sich dies erstmalig im sogenannten Sevilla-Manifest an prominenter Stelle wider, das die Positionen des EGB-Kongresses aus dem Jahr 2007 zusammenfasst. In einer Erklärung des Exekutivausschusses wird das Ziel formuliert,
"(to) explore continually the scope for united campaigns at European level, led by the ETUC, for common standards on minimum pay and income, and for collective bargaining strategies."
Die Auseinandersetzung auf dem Kongress von Sevilla diente so als Initial einer breiten gewerkschaftlichen Diskussion, die sich zwischen nationalen Gewerkschaften und Föderationen sowie den europäischen Branchenverbänden innerhalb des EGB entwickelte. Als konkreter Diskussionsgegenstand kristallisierte sich im Zeitverlauf der Plan einer Kampagne im Einklang mit der Forderung der Schweizer Konferenz heraus, der zufolge erst 50 und dann 60 Prozent der nationalen Medianlöhne durch die jeweiligen Regierungen festzulegen seien.
Die allerdings recht unverbindliche Formulierung
Während die osteuropäischen Vertreter die Idee eines europäischen Mindestlohns gutheißen und die Einrichtung einer entsprechenden Kampagne unterstützen, sprechen sich die schwedischen Kollegen seit Anfang an vehement dagegen aus. Diese Diskrepanz ergibt sich einerseits aus den polit-ökonomischen Gegebenheiten. Während die tarifliche Deckungsrate 2013 in Polen bei 25 Prozent und in Ungarn bei 33 Prozent liegt, werden in Schweden 88 Prozent der Beschäftigten von Tarifverträgen erfasst. Der Organisationsgrad
"I think, it is to the heart of the labor movement, that we don’t want legislation in Sweden and absolutely not in Brussels. That is the core-thing in our system. That wages is something for the organizations on the labor market."
Eine ähnliche Haltung findet sich auch unter den anderen beiden schwedischen Föderationen. Während die unmittelbare wirtschaftliche Komponente in der Begründung eine untergeordnete Rolle zu spielen scheint (eine Festlegung auf 50, dann 60 Prozent des Medianlohns würde gegenüber der aktuellen Situation keine Verbesserung darstellen), beziehen sich die Einwände der schwedischen Kollegen auf die Erhaltung ihrer Tarifautonomie. Einmischung in die Lohnfindung verbittet man sich sowohl durch die nationale Regierung als auch von Seiten der EU. Selbst eine unverbindliche Initiative wie die genannte EGB-Kampagne wird von den befragten Vertretern mit den Worten "be careful what you wish for" abgelehnt. Perspektivisch bedinge eine solche Initiative nämlich einen graduellen Autonomieverlust der nationalen Ebene.
Eine vollkommen andere Einschätzung äußern die Vertreter aus den beiden osteuropäischen Ländern. Nationale Mindestlohngesetzgebungen und ein generell höheres Vertrauen in die europäische Ebene bedingen hier eine generelle Zustimmung zu dem Projekt. So äußern sich die Europa-Verantwortlichen der drei polnischen Gewerkschaftsverbände Solidarnosz, OPZZ und Forum einheitlich positiv. Und auch der interviewte Vertreter des größten ungarischen Verbandes MSZOSZ sieht die Notwendigkeit einer gesetzlichen Lohnuntergrenze in der mangelnden Durchsetzungsfähigkeit osteuropäischer Gewerkschaften in Tarifverhandlungen:
"Unsere politische Kraft ist sehr schwach. Und das ist der Fall auch in anderen mittel- und osteuropäischen Ländern, würde ich sagen."
Wie die Diskussion zeigt, übertragen sich diese Kräfteverhältnisse auch auf die Brüsseler Ebene. Die Vertreter der europäischen Ebene stehen dem Projekt eines europäischen Mindestlohns im Allgemeinen recht aufgeschlossen gegenüber. Nachdem die Diskussionen über den Vorschlag im Vorfeld des Athener EGB-Kongresses von 2011 zugenommen hatten, einigte man sich dort, die Forderung nach einer EU-weit gültigen Lohnuntergrenze von 50 und perspektivisch 60 Prozent in die Programmatik aufzunehmen.
Ein EGB-Vertreter fasst die spezifische Konfliktkonstellation, die sich hierbei auf europäischer Ebene ergibt, folgendermaßen zusammen:
"So, the dilemma is always that the stronger trade unions do want to assist and help the trade unions in the weaker position to advance. That’s a matter of principle and a long-term self-interest. But at the same moment, they also identify the danger that by setting European standards, it backfires against their own system."
Diskussionen über die Zielsetzung in der Lohnpolitik werden im EGB im Exekutivausschuss geführt. Die konkrete Umsetzung der dort verabschiedeten Leitlinien wird darauffolgend im Tarifausschuss festgelegt. Wie verschiedene Vertreter berichten, wird die Überführung der abstrakten Position zum europäischen Mindestlohn hier anhaltend durch die skandinavischen und italienischen Vertreter innerhalb des Gremiums blockiert. Kontroverse Auseinandersetzungen fanden darüber hinaus auf einem informellen Treffen in London und auf einer Sitzung des EGB-Steuerungsausschusses in Kopenhagen 2013 statt. Trotz der anhaltenden Thematisierung konnte die nominelle Position bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht in eine konkrete Lobbyingkampagne überführt werden. Abgesehen von kleineren Referenzen ist zum jetzigen Zeitpunkt von Seiten des EGB auch keine umfassendere Publikation zum Thema erschienen.
Die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit der Osteuropäer wird von dem ungarischen Kollegen auf die knappen Ressourcen der mitgliederschwachen Verbände aus den neuen Beitrittsländern sowie auf deren Randständigkeit innerhalb des EGB zurückgeführt:
"Da sind wir dazugekommen. Das ist so, das ist normal. Da ist schon eine Familie und Du kommst von außen."
In leicht abgeschwächter Form finden sich diese Bedenken auch in den Aussagen der befragten polnischen Vertreter.
Zusammenfassung und Ausblick
Selbst wenn die EU in Fragen der Lohnfindung zuständig wäre – eine entsprechende Initiative würde den Widerstand einer Reihe gewerkschaftlicher Akteure auf sich ziehen, von Vertretern anderer politischer Spektren, wie beispielsweise den Arbeitgeberverbänden oder kapital-freundlicher Parteien ganz zu schweigen. Aus diesem Grund haben Befürworter eines europäischen Mindestlohns für ihre bisherigen politischen Bemühungen einen anderen Weg gewählt: Im Rahmen des EGB sollte eine Kampagne für die Einrichtung nationaler Mindestlöhne in Höhe von 50 Prozent (und perspektivisch 60 Prozent) der nationalen Medianlöhne etabliert werden, die den Mitgliedsorganisationen Argumente für die jeweils innerstaatlich geführten Diskussionen zur Verfügung stellt. Trotz einer nominellen Einigung auf Ebene des EGB ist allerdings bisher keine solche Kampagne angeschoben worden. Wie die Interviews mit den Vertretern der beteiligten Organisationen zeigen, ist es vor allem der Widerstand der skandinavischen und italienischen Gewerkschaften, der eine Umsetzung, geschweige denn weiter reichende Forderungen verhindert. Doch was können wir hieraus über gewerkschaftliche Positionsbildung im Prozess der europäischen Integration insgesamt lernen?
Zuallererst zeigt sich hier die große Herausforderung für die Gewerkschaften, unter Bedingungen fortschreitender Integration eine gemeinsame Position im Kerngeschäft der Tarifpolitik zu finden. Die Heterogenität der nationalen Tarifsysteme sowie die unterschiedlichen Auffassungen davon, inwiefern eine gesetzliche Lohnuntergrenze mit der legitimen Vertretungsrolle in der Tarifpolitik vereinbar ist, bilden bis zum jetzigen Zeitpunkt ein unüberwindbares Hindernis in der wechselseitigen Abstimmung. Diese vor allem von den skandinavischen und italienischen Vertretern eingenommene Haltung wird von Wolfgang Streeck als "institutioneller Nationalismus" beschrieben.
Dass die an Streeck anschließende Diagnose die aktuelle Situation recht adäquat beschreiben mag, muss allerdings nicht so bleiben. Denn eine "verbale Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre", wie der Soziologe Ulrich Beck sie einst den deutschen Männern in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter attestiert hat, lässt sich dem EGB sicher nicht unterstellen. Wie Bengt Furaker und Kristina Selden bemerken, verkörpert die Diskussion um den Europäischen Mindestlohn für die Gewerkschaften zur gleichen Zeit eine learning opportunity.
Eine Eigentümlichkeit der gewerkschaftlichen Diskussion im europäischen Rahmen liegt sicherlich darin, dass die Folgewirkungen nicht unbedingt und unmittelbar im Feld der Lohnpolitik liegen müssen. Vieles deutet darauf hin, dass es in der Diskussion um den europäischen Mindestlohn noch um etwas anderes geht als eine europäische Lohnuntergrenze. So dienen Auseinandersetzungen wie diese den Gewerkschaften auch als Ort programmatischer Debatten. Wie viel Europa will man haben? Was ist ein "Soziales Europa" eigentlich zu leisten in der Lage und was nicht? Und gibt es – jenseits aller nominellen Kompromisse – überhaupt eine gemeinsame Vision, deren Verwirklichung man anzustreben bereit ist? Antworten auf diese Fragen werden auf dem EGB-Kongress in Paris im Herbst 2015 zumindest gesucht werden.