Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern", beten Christen aller Konfessionen in ihrem wahrlich wichtigsten, weil in jedem Gottesdienst und an offenen Gräbern gesprochenen Gebet, dem "Vaterunser", das nach der neutestamentlichen Überlieferung Jesus von Nazareth selbst sie zu beten gelehrt hat. In dieser Bitte des "Herrengebets" wird unterstellt: Wir Menschen sind trotz unserer ebenbildlichen Nähe zu Gott notorisch, mehr noch: konstitutiv schuldig. Wir sind, in anderer und religiös konventionellerer Sprache formuliert, allzumal Sünder, in eitler amor sui, Selbstzentriertheit oder Selbstbezüglichkeit, fixiert auf uns selbst. Sünde meint in den Glaubenssprachen der christlichen Überlieferung radikal narzisstische Selbstbezüglichkeit oder blanke Eigenliebe, jedenfalls einen Zustand des Bewusstseins, in dem ein einzelner Mensch immer nur ins eigene Ich verstrickt ist und zu sich selbst keinerlei innere reflexive Distanz zu gewinnen vermag.
Wie können wir Sünder dann anderen, "unseren Schuldigern", ihre "Schuld" vergeben? Die Suche nach einer Antwort führt in uralte Kontroversen der gelehrten Glaubensexperten, in ebenso harte wie subtile theologische Debatten über Begriffe wie "Versöhnung", "Vergebung", "Sühne", "Satisfaktion", "Genugtuung", "Entschuldung" und später auch "Entschuldigung". Lebt der Mensch in sündhaft radikaler Selbstzentrierung, leidet er unter Entfremdung, der Trennung von seinem wahren Selbst. Dieses wahre Selbst des Menschen ist nach jüdischer wie christlicher Lehre bestimmt durch die fundamentale Einsicht, dass niemand von uns sich selbst verdankt, sondern wir unser je eigenes, individuelles Leben als Geschenk empfangen – aus Gottes Hand. Wahres Leben ist deshalb ein Leben im Bewusstsein der je eigenen Geschöpflichkeit, ein Leben in heilsamer, dankbarer Ehrfurcht vor Gott dem Schöpfer.
In seinem "Kleinen Katechismus" aus dem Jahre 1529 hat Martin Luther diesen christlichen Schöpfungsglauben in der Auslegung des ersten Satzes des Glaubensbekenntnisses – "Ich glaube an Gott, den Vater, den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden" – so vergegenwärtigt: "Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält, dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter, mit aller Notdurft und Nahrung dies Leibs und Lebens reichlich und täglich versorget, wider alle Fährlichkeit beschirmet und vor allem Übel behütet und bewahret, und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit ohn all mein Verdienst und Würdigkeit, des alles ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin; das ist gewißlich wahr." Stärker kann man die existenzielle, jeden einzelnen in je eigener Weise betreffende Pointe des Schöpfungscredos nicht betonen.
Schuld und Selbstbestimmung
Viele jüdische wie christliche Theologen hatten das falsche, sündhafte Leben als einen Zustand der Entfremdung gedeutet, in dem der Sünder dank seiner radikalen Selbstzentrierung nicht nur von Gott, sondern auch seinen Mitmenschen getrennt bleibt. Die Überwindung dieser Entfremdung wurde dann häufig mit dem Tod Jesu und der von seinen "Jüngern", seinen ersten Anhängern, sei es erfahrenen, sei es behaupteten Auferstehung verknüpft. Für den Kreuzestod Jesu sind in der bald zweitausendjährigen Geschichte des Christentums ganz unterschiedliche Deutungsmuster und Narrative entwickelt worden. In seiner Passionsbereitschaft oder in seiner Selbsthingabe habe Jesus stellvertretend für die sündige Menschheit ein Opfer erbracht, mit dem der ob der menschlichen Missetaten erzürnte Gott ein für alle Mal besänftigt oder gnädig gestimmt worden sei. Die Theologen nennen diese besonders eindrucksvoll von Anselm von Canterbury vertretene Lehre das Satisfaktionsdogma beziehungsweise das Dogma vom stellvertretenden Opfertod des Gekreuzigten.
Doch fand diese Lehre in der Geschichte der christlichen Theologie immer auch starke Kritiker, die etwa darauf hinwiesen, dass die Vorstellungen vom "Zorne Gottes", dem "strafenden Gott", gar auch dem "Rächergott" der alten biblischen Rede vom gnädigen Vatergott widerstreite. Vor allem radikale Reformer des 16. Jahrhunderts, beispielweise Kritiker der herrschenden Kirchenlehre wie die Sozinianer und Theologen der täuferischen Bewegungen, sowie andere Vertreter der sogenannten radikalen Reformation lehnten die überkommenen Satisfaktionslehren mit großer polemischer Entschiedenheit ab.
Im 17. und 18. Jahrhundert folgten ihnen zunächst dann auch die sogenannten Neologen, kritische protestantische Aufklärer in den Theologischen Fakultäten. So schrieb Wilhelm Traugott Krug, der liberalprotestantische Nachfolger Immanuel Kants auf dem Königsberger Lehrstuhl für Philosophie, in einer kritischen Studie zur Versöhnungslehre 1802:
"Die Versöhnungslehre ist unstreitig Fundamentallehre der christlichen Religion. Sie wird in den Urkunden dieser Religion so oft und so nachdrücklich vorgetragen, der ganze Zweck der Sendung des Stifters des Christenthums wird so oft und so deutlich dahin bestimmt: Jesus solle die Menschen mit Gott versöhnen, ihre Sündenschuld tilgen, für sie sein Leben zum Sühnopfer hingeben usw. – daß es vergebliche Mühe ist, jene Lehre aus den Schriften des neuen Bundes weg kritisiren oder exegesiren zu wollen. Gleichwohl hat die Versöhnungslehre von jeher, und besonders in den neueren Zeiten, gerade von Seiten der besten Köpfe so vielen und so heftigen Widerspruch gefunden, daß es beinahe ein charakteristisches Merkmal einer aufgeklärten Denkart in der Theologie geworden zu sein scheint, an jene Lehre nicht mehr zu glauben, sondern sie bloß für eine Reliquie zu halten, die aus den abergläubigen Vorstellungsarten der Vorwelt in das Christenthum durch seine frühesten, noch nicht hinlänglich unterrichteten, Verkünder übergegangen sei."
Der entscheidende Einwand dieser vielen "besten Köpfe" unter den kritischen Theologen und Philosophen lautete: Es gehöre notwendig zur Freiheit des Menschen, sich seine Schuld selbst zuschreiben zu lassen – kein anderer, auch ein idealer Erlöser nicht, könne dem freien Menschen oder autonomen Ich stellvertretend seine Schuld abnehmen. In der Eigenlogik entschiedener Selbstbestimmung wurde so jede Vorstellung einer externen Kompensation der je eigenen, individuellen Schuld destruiert.
Innere und äußere Schuld
Sind Debatten um solche Fragen nur Theologengezänk von gestern oder eitler Gelehrtenstreit im Elfenbeinturm weltfremder Philosophen? Nein, die alten Debatten um autonome Selbstzurechnung oder externe Entlastung haben sowohl in wirtschaftlich schwierigen Zeiten der Firewalls, Schuldenbremsen, Bankenstresstests und europaweiten Konsolidierungsbemühungen als auch mit Blick auf die neuen Diskurse über Korruption, Schattenwirtschaft, Internetkriminalität und organisiertes Verbrechen nichts an Aktualität eingebüßt. Wer den gegenwärtigen politischen Streit um Staatsschulden, Euro-Krise und Bankensystem sowie die rechtspolitischen Debatten um die Verschärfung des Strafrechts etwa bei Kindesmissbrauch und präventiver Bekämpfung islamistischen Terrors verstehen will, tut jedenfalls gut daran, sich um prägnante analytische Begriffe zu bemühen.
Dies gilt gerade mit Blick auf den Begriff der "Schuld" und die mit ihm sprachlich eng verknüpften "Schulden". Schon früh hatten christliche Theologen und auch Philosophen darauf hingewiesen, dass Schuld ein notorisch unscharfer, mehrdeutiger Begriff ist. Schuld kann etwa rein juristisch gefasst werden, ist aber auch eine zentrale Vorstellung in moralischen Diskursen und ein Grundbegriff der ethischen Sprache. In einem philosophischen Lexikon aus dem frühen 19. Jahrhundert heißt es: "Schuld hat zwei Bedeutungen, die oft in einander spielen; woraus leicht Zweideutigkeit, Misverstand und Irrthum hervorgeht."
Zu unterscheiden sind zunächst vor allem äußere und innere Schuld. Die äußere Schuld bezieht sich auf all jene Leistungen, die man zugunsten eines anderen aufgrund rechtlicher Verpflichtungen, etwa Verträgen, zu erbringen hat. Im genannten Artikel heißt es: "Wenn jemand viel an Andre zu bezahlen hat, sei es für Waaren oder Arbeit oder Miethe, seien es erborgte Gelder oder rückständige Zinsen von denselben: so sagt man, er habe viele Schulden oder er sei viel schuldig." Der lateinische Begriff für solche Schulden lautet debitum. Deshalb sprechen wir in ökonomischen Kontexten vom Schuldner oder Debitor. Den anderen hingegen, dem der Debitor Geld oder sonstige Leistungen schuldet, nennen wir den Gläubiger oder Kreditor. In dieser Begrifflichkeit steckt natürlich ein bewusster Bezug auf die Sprache von Glaube und Religion. Geld oder sonstige Güter leihe ich einem anderen ja nur dann, wenn ich darauf vertraue, dass er mir das Geliehene eines Tages zurückzahlen kann und wird.
Insofern ist ökonomischer Tausch sehr viel voraussetzungsreicher, als in den konventionellen Modellen rationalen wirtschaftlichen Handelns oft suggeriert wird. Je fiktionaler, künstlicher die Tauschgüter auf den Finanzmärkten eines globalen Kapitalismus sind, desto mehr Evidenz gewinnt nur die uralte religiöse Ahnung, dass Kredit und Credo irgendwie zusammengehören, man jedenfalls dem Tauschpartner einen Vertrauensvorsprung entgegenbringen muss, will man erfolgreich Geschäfte machen. Man muss wissen, mit wem man es zu tun hat, wenn man Risiken eingeht und beispielsweise Geld verleiht. Ohne den Glauben an eine elementare Verlässlichkeit, Seriosität des anderen geht es nicht.
Deshalb haben vermeintlich rein ökonomische Begriffe wie "Schuldschein", "Schuldbrief" oder "Schuldverschreibung" beziehungsweise "Obligation" immer auch einen momentanen religiösen Gehalt. So wie der Gläubige im Sonntagsgottesdienst das Glaubensbekenntnis spricht, muss der Kreditor dem Debitor Grundvertrauen entgegenbringen. Traut er dem Schuldner nicht, sollte er ihm jedenfalls kein Geld leihen. Oder er muss darauf hoffen, dass irgendjemand anders, der Steuerzahler etwa, dessen finanzielle Verbindlichkeiten übernimmt. Denn ökonomische Schulden sind, wie schon Kant betont hat, im Unterschied zu moralischer Schuld übertragbare Verbindlichkeiten. Es kann mir ja gleichgültig sein, wer mir das Herrn X oder Frau Y geliehene Geld zurückzahlt. Hauptsache, ich bekomme es zurück, wenn Herr X oder Frau Y zahlungsunfähig sind.
Die innere Schuld, im Lateinischen culpa genannt, scheint ganz anderer Art. Sie ist insoweit eine sittliche Schuld, als sie aus moralisch relevanten Verstößen gegen das sogenannte Sittengesetz stammt. Sie haftet an der Person, die böse gehandelt hat, und kann, jedenfalls nach den moralischen Lehren kritischer Philosophen, nur vom Schuldner selbst verantwortet werden. Denn Schuldgefühle sind nun einmal etwas Subjektives, und will man nicht die Vorstellung der Freiheit des Individuums preisgeben, muss man entschieden die Verantwortungsfähigkeit und Verantwortlichkeit des Einzelnen für seine Taten betonen. Sittliche Schuld ist insoweit nicht übertragbar. "Man kann sie nur selbst tilgen, indem man sich bessert, mithin zu sündigen aufhört", erklärte Wilhelm Traugott Krug um 1800.
Moralität und Legalität
Die notorische Vieldeutigkeit des Schuldbegriffs hat nicht selten dazu geführt, dass eine wichtige, vor allem von Kant eingeführte Unterscheidung ignoriert wurde: die elementare Differenz zwischen moralischer Schuld und rechtlicher Verbindlichkeit. Kant unterschied mit faszinierender begrifflicher Prägnanz zwischen Moralität und Legalität. Moralische Normen sind von ganz anderer Art als rechtliche Normen, die in einem rechtlich geordneten Gemeinwesen geltenden Gesetze. Positives, das heißt vom Gesetzgeber gesetztes Recht hat für Kant allein die Funktion, das Zusammenleben der als frei anerkannten (und sich wechselseitig in ihrer Freiheit anerkennenden) Bürgerinnen und Bürger zu ermöglichen. Der Rechtsstaat sorge mit seinen Gesetzen dafür, dass die Freiheit des einen mit der anderer zusammen bestehen könne. Seine Gesetze regeln allein das äußere Zusammenleben der Menschen. Aber er darf um der von ihm anerkannten vorstaatlichen Freiheitsrechte der Bürger willen nicht in das Innere der Bürger, ihre Gesinnungen oder ihr Gewissen, eingreifen. Denn griffe der Rechtsstaat in die Eigenwelten des Moralischen ein, wäre er kein freiheitlicher Staat mehr.
Den freiheitlichen Rechtsstaat haben deshalb auch die Motive oder Erwägungen nicht zu interessieren, warum die Bürger Rechtsgehorsam leisten beziehungsweise die staatlichen Gesetze befolgen. Der eine mag dies aus funktionaler Einsicht tun, dass es nun einmal einer äußeren Ordnung des Zusammenlebens bedarf – gerade in einer pluralistischen Gesellschaft der ganz verschieden Lebenden mit je eigenen Weltanschauungen oder Glaubensüberzeugungen. Die andere mag sich aus purer Angst vor der Polizei oder dem Staatsanwalt an die Gesetze halten. Wieder andere mögen staatliches Recht aus religiösen Gründen anerkennen und respektieren, etwa weil sie in ihm die konkrete Manifestation eines aller menschlichen Rechtssetzung vorausliegenden göttlichen Gesetzes, einer lex divina oder lex aeterna sehen. Doch den Staat gehen solche Gründe, kraft derer die Bürger seiner Rechtssetzung folgen, nichts an. Sie gehören ins forum internum ihres Gewissens oder ihrer freien religiösen Überzeugungen.
Trotz aller hilfreichen begrifflichen Unterscheidungen zwischen harten finanziellen Schulden sowie äußerer und innerer, rechtlicher und moralischer Schuld – die Vieldeutigkeit des Schuldbegriffs lässt erkennen, dass es zwischen den religiösen Gehalten des Begriffs und dem ökonomischen, rechtlichen und ethischen Sprachgebrauch auch Zusammenhänge gibt. In allen drei Dimensionen unseres nun einmal von Schuld bestimmten Lebens muss man seine Schuld sich selbst eingestehen und gegenüber anderen bekennen, will man überhaupt als seriös anerkannt werden.
Die uralte religiöse Sündenrede kann jedenfalls dafür sensibilisieren, dass auch die Welt der Wirtschaft und der Rechtskultur sehr viel voraussetzungsreicher, kulturell pfadabhängiger ist, als sowohl in den ökonomischen Theorien von rational choice und nüchternem Interessenkalkül als auch im bisweilen beobachtbaren Juristenglauben an die Selbstdurchsetzung rechtlicher Normativität angenommen wird. Weder gehen Finanzmärkte in Zahlenspielen auf, noch kann das positive, von Menschen gemachte beziehungsweise vom Gesetzgeber gesetzte Recht seine eigene Durchsetzungskraft erzwingen. Gerade der liberale Rechtsstaat bedarf des Rechtsgehorsams der Bürger, kann diesen aber nicht selbst erzeugen. Er kann nur darauf hoffen, dass sich in den diskursiven Verständigungsprozessen der Zivilgesellschaft die Bürger wechselseitig darin bestärken, das positive Recht als unverzichtbare Ordnung ihres Zusammenlebens anzuerkennen.
Aus krummem Holz geschnitzt
Von Kant stammt ein wunderschönes Bild zur realistischen Selbstbeschreibung des Menschen: Wir seien "aus krummem Holz geschnitzt". Niemand denkt immer nur rational, und oft können wir zwischen dem rational Plausiblen und weniger Vernünftigen schon deshalb nicht unterscheiden, weil wir die Situation gar nicht genau kennen und uns elementare Informationen fehlen. So muss man mit der eigenen Fehlerhaftigkeit rechnen und die Selbsttäuschung vermeiden, über alle Bedingungen des eigenen Denkens, Entscheidens und Handelns verfügen zu können. Wer handelt, muss mit nicht beabsichtigten Nebenfolgen rechnen. Selbst gute Absichten können schlechte, kontraproduktive, böse Folgen haben. Wer die eigene Geschöpflichkeit anerkennt, weiß jedenfalls auch um die eigene Endlichkeit.
Dieses Wissen kann für die ökonomisch relevante Einsicht sensibilisieren, dass sich Schulden nicht ins Nichts auflösen, wer auch immer irgendwann einmal zahlen muss. Am besten zahlt man selbst. Denn der Versuch, die eigenen Schulden auf andere abzuwälzen, führt nur in den Teufelskreis sich fortwährend beschleunigender Neuverschuldung. Irgendwann muss man dann einen Offenbarungseid ablegen und seinen Gläubigern eingestehen, dass man zahlungsunfähig ist – nicht selten aus heilloser Selbstüberschätzung.
Und die uralte Glaubenseinsicht in die eigene Sündhaftigkeit kann auch dafür sensibilisieren, die in diesem Leben nun einmal unüberwindbaren Grenzen des Strafrechts zu sehen und anzuerkennen. Selbst außergewöhnlich gute Juristen sind immer auch fehlbare Geschöpfe, nicht frei von Fahrlässigkeit, Missverständnis, falscher oder perspektivisch verkürzter Wahrnehmung. So können Gerichte irren, und alle Richter müssen anerkennen, dass sie den anderen, vor allem dem Angeklagten, nicht ins Herz zu sehen vermögen. Der Angeklagte mag lügen, oder er mag die Wahrheit sagen – niemand (weder sein Verteidiger noch der Staatsanwalt noch der Richter) vermag dies genau zu entscheiden: mit Ausnahme nur des mutmaßlichen Täters und seines potenziellen Opfers. Allein der Angeklagte und sein mögliches Opfer können wissen, wie "der Fall" tatsächlich lag (wobei sie ihn, dies kommt hinzu, ganz unterschiedlich erinnern und deuten mögen). Deshalb muss man gerade auch in liberalen Rechtsstaaten, die zu Recht die Legitimität positiven Rechts betonen, fortwährend an die Fehlbarkeit der im Rechtssystem Handelnden erinnern.
Eine, wohl die wichtigste Sprache der Sensibilisierung für die Irrtumsfähigkeit des Menschen ist die Symbolsprache der hebräischen Bibel (des Alten Testaments der Christen) und des Neuen Testaments. In dieser Sprache wird die Vorstellung vom "Beobachtergott" (Niklas Luhmann) überliefert, der in unsere Herzen zu blicken vermag, dem wir also vollkommen transparent sind (obwohl wir nicht einmal uns selbst transparent sind). Damit eng verbunden ist die Vorstellung vom göttlichen Richter, vor dem jeder und jede am Ende seines beziehungsweise ihres Lebens oder am Ende der Zeiten sich für sein beziehungsweise ihr Tun und Lassen verantworten muss. Diese Rede vom göttlichen Endgericht bedeutet: Weil der gütige Gott im letzten Gericht sein wahrlich kompetentes – er kennt ja unser Inneres besser als wir selbst – Urteil spricht, sind wir davon entlastet, hier und jetzt, unter endlichen Bedingungen richten zu wollen oder müssen. Der "göttliche Richter" befreit uns vom Zwang des arroganten Moralisierens, über andere definitive Urteile zu fällen.
Wer in gläubiger Demut die eigene Sündhaftigkeit wahrzunehmen vermag, kann Widersprüchlichkeit, Ambivalenz und Ambiguität anerkennen. Dies mag dafür sensibilisieren, der juristischen Deutung von "Schuld" nicht das letzte Wort zu lassen. Wer öffentlich von Schuld redet, sollte der eigenen Schuld gewahr bleiben. In genau dem Maße, in dem solche Reflexivität oder Nachdenklichkeit gelingt, lassen sich dann auch die fundamentalen Differenzen zwischen Moralität und Legalität ernst nehmen.
In der moralischen Welt sind wir alle schuldig. Aber im diskursiven Kosmos des Rechts muss man dann noch einmal unterscheiden: Nicht jeder ist ein Verbrecher. Aber jeder und jede ist verantwortlich für seine beziehungsweise ihre Deutungen, Aussagen und Taten. Es ist der gute Eigensinn der Religion, solches Verantwortungsbewusstsein zu stärken, indem sie durch Demut und Ehrfurcht heilloser Selbstüberschätzung wehrt.