Die NATO ist das wichtigste Forum und der Anker der transatlantischen Partnerschaft.
Zu so einem großen Wurf ist es in Newport nicht gekommen. Das kann auch nicht überraschen, denn allein schon die Positionen der Europäer zu den strittigen Themen im transatlantischen Verhältnis sind zu unterschiedlich für ein kraftvolles Bekenntnis zum Transatlantizismus. Auch bleibt die außenpolitische Ausrichtung der USA unter Barack Obama diffus: Die Politik des strategischen Rückzugs und Sich-Heraushaltens – Irak, Afghanistan, Libyen, Syrien – steht vollmundigen Ankündigungen ("Pivot to Asia") und punktuellem Engagement wie gegen den "Islamischen Staat" gegenüber. Wie immer man Obamas Außenpolitik interpretiert, bleibt jedoch unstrittig, dass sie nicht von gesteigertem Interesse an Europa gekennzeichnet ist. Zudem waren im September schon die Niederlage der Demokraten bei den Zwischenwahlen und die damit schrumpfende Gestaltungsmacht Obamas absehbar – also auch auf amerikanischer Seite keine guten Voraussetzungen für neue transatlantische Initiativen.
Abgesehen von diesen strukturellen Hindernissen stand der Gipfel ganz im Zeichen der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland und die fortgesetzte russische Aggression in der Ukraine – das erforderliche Krisenmanagement ließ keine Muße, um eine tragfähige transatlantische Zukunftsagenda zu umreißen. Es blieb daher beim symbolischen Zusammenstehen und bei pragmatischen Beschlüssen zur kurz- bis mittelfristigen Krisenbewältigung.
Schon das ist nicht wenig. Die Verbündeten haben in Wales unter Beweis gestellt, dass auch eine NATO mit 28 Mitgliedern – und entsprechend unterschiedlichen Interessen, Bedrohungswahrnehmungen und geschichtlichen Erfahrungen – unter Druck handlungsfähig ist. Die Gipfel-Erklärung ist nicht nur die längste, die je von der NATO produziert wurde, sondern vor allem Ausdruck politischer Geschlossenheit und Reaktionsfähigkeit.
Die NATO als wandlungsfähiger Akteur
Die NATO hat sich seit ihrer Gründung ständig gewandelt, oft unter krisenhaften Streitigkeiten zwischen ihren Mitgliedern. Paradoxerweise sind gerade diese Wandlungsprozesse Ausweis der Stärke und Relevanz des Bündnisses. Denn die vorrangige Aufgabe der NATO war und bleibt es, die Sicherheit ihrer Mitglieder zu gewährleisten. Da sich die Bedrohungen dieser Sicherheit aber im Lauf der Zeit ändern, muss sich die Strategie der NATO ebenfalls ändern, damit sie ihrem Auftrag gerecht werden kann.
Die wichtigsten dieser strategischen Neuausrichtungen der NATO werden üblicherweise in einem Dreiphasenmodell beschrieben.
Insgesamt wurde die Aufgabe der NATO immer komplexer, da keine dieser Phasen die vorhergehende überflüssig machte. Auch in der dritten Phase blieben Abschreckung und Stabilisierung durch Erweiterung noch auf der Agenda des Bündnisses. Das zeigt sich auch im heute noch gültigen Strategischen Konzept der NATO von 2010, der wohl bedeutsamsten Leistung des in Wales verabschiedeten NATO-Generalsekretärs Anders Fogh Rasmussen.
Als im Jahr 2013 die Vorbereitungen für den NATO-Gipfel in Wales anliefen, führten das absehbare Ende des NATO-Kampfeinsatzes in Afghanistan sowie die weit verbreitete Kampfmüdigkeit der Bündnispartner – sowie die fragilen und zweifelhaften Erfolge der Stabilitätsprojektion in Afghanistan und Libyen – zur Frage, ob die dritte Phase nicht an ihr Ende gekommen sei. Sollte der Gipfel in Wales daher nicht eine vierte Phase, "nach den Operationen",
In der Tat war die Agenda des Gipfels 2014 ursprünglich ganz auf den Abschluss der ISAF-Mission ausgerichtet. Seit August 2003 hat die NATO die Führung dieser Stabilisierungsmission in Afghanistan inne; planmäßig sollen noch 2014 die letzten NATO-Kampfverbände abziehen. Der Kampfeinsatz war damit nicht nur der längste der NATO-Geschichte, sondern auch das erste Mal, dass eine NATO-geführte Operation außerhalb des euro-atlantischen Raumes stattfand. Er wurde zum Symbol für die "neue NATO" der dritten Phase, die sich im Zeitalter globalisierter Bedrohungen als Instrument globaler Stabilitätsprojektion definierte. Dieser Anspruch hat praktisch alle politische Kraft des Bündnisses in Afghanistan gebunden, der Einsatz dort war zugleich Daseinsbegründung und zentrale Aufgabe der NATO. Mit dem Ende von ISAF drängen sich der NATO viele Fragen auf, deren wichtigste lauten: "War der Aufwand das Ergebnis wert?" Und: "Wozu braucht es die NATO noch?"
Die Beantwortung der ersten Frage verschiebt die NATO unter Verweis auf die ungewisse Entwicklung Afghanistans und die weitere politische und finanzielle Unterstützung des Landes durch den Westen in die Zukunft. Die zweite Frage hat Wladimir Putin beantwortet. Durch die Destabilisierung der Ukraine und die völkerrechtswidrige Annexion der Krim hat Russland eine Rückbesinnung der NATO auf ihren ursprünglichen Kernauftrag angestoßen, nämlich den Schutz der territorialen Integrität ihrer Mitglieder, insbesondere vor Aggression aus Moskau. Auch wenn sich die Konstellation mit der des Kalten Krieges nicht gleichsetzen lässt, zeigt doch das Vokabular der jüngsten Krise, dass die strategische Aufgabe ähnlich ist: Es geht um "Abschreckung" möglicher Aggression, die "Rückversicherung" (reassurance) besorgter Verbündeter und die militärische Logik von "Eskalationsleitern". Anders gewendet: Putin hat für die NATO entschieden, dass die geheimnisvolle vierte Phase sich vor allem als Rückbesinnung auf die erste Phase darstellen wird – Eindämmung Moskaus durch Abschreckung.
So mancher in der NATO begrüßt diese Rückbesinnung auf traditionelle Aufgaben: Langwierige Diskussionen um das "Narrativ" der NATO, über ihren konkreten Nutzen angesichts vager Bedrohungsszenarien, musste es in Newport nicht geben. Auch unliebsame Debatten über neue Aufgaben der NATO, beispielsweise im Bereich der Cyber- oder Energiesicherheit, werden entweder nur noch unter der Perspektive der Russland-Politik betrachtet oder sind von der Agenda gefallen – ungeachtet ihrer zukünftigen, breiteren Relevanz. So wird es interessant sein zu sehen, ob der neue NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg die von seinem Vorgänger im internationalen Stab der Allianz eingerichtete Abteilung für "Emerging Security Challenges", in der Themen wie Cyber- und Energiesicherheit prominent gebündelt werden, beibehalten oder wieder auf andere Divisionen verteilen wird. Solche neuen Aspekte der Sicherheitspolitik werden zwar in absehbarer Zukunft nicht das Kerngeschäft der NATO ausmachen, aber doch in denkbaren zukünftigen Konflikten eine erhebliche Rolle spielen, auch mit Blick auf das Kräftemessen mit Russland.
NATO-Russland-Beziehungen
Russlands Annexion der Krim und seine fortgesetzten Bemühungen, die Ukraine zu destabilisieren, bedeuten einen markanten Einschnitt: Zum ersten Mal seit 1945 hat sich in Europa ein Staat fremdes Gebiet gewaltsam einverleibt. Um als Anker europäischer Sicherheit glaubwürdig zu bleiben, musste die NATO darauf reagieren und anerkennen, dass die Bemühungen der vergangenen 25 Jahre um kooperative Sicherheitsbeziehungen mit Russland (vorerst) gescheitert sind.
Es ist nicht so, als hätte der Westen nicht genügend Versuche unternommen, Russland in ein kooperatives System auf Augenhöhe einzubinden. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und der Europarat, dem Russland 1996 beitrat, sind Beispiele dafür – und zugleich Ausdruck der russischen Selbstverpflichtung, den Regeln dieses Systems zu folgen. Die NATO hat dabei eine führende Rolle gespielt; keinem Land haben die Verbündeten mehr und exklusivere Initiativen zur Kooperation angeboten als Russland. So war Russland von Beginn an Mitglied der Partnership for Peace (1994), dem zentralen Instrument militärischer Zusammenarbeit und Vertrauensbildung der NATO nach dem Ende des Kalten Krieges. Die NATO-Russland-Grundakte von 1997 hob die Partnerschaft auf ein neues Niveau, dessen logische Folge 2002 der NATO-Russland-Rat war – ein Gremium, das Russland einzigartigen Zugang zu den Beratungen des Bündnisses und eine besondere Stimme in Brüssel zugestand.
Allerdings mehrten sich in den vergangenen Jahren neben den Partnerschaftserklärungen auch die Beispiele konfrontativer Politik. Putins Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 gegen die geplante NATO-Raketenabwehr setzte ein erstes Zeichen, dem im gleichen Jahr die russische Aufkündigung des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa folgte. Zuletzt markierte Putins offene und handfeste Unterstützung des Diktators Baschar Al-Assad seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs einen Bruch mit westlichen Interessen und Werten. Am deutlichsten wurde die neue Konfrontationsbereitschaft im Krieg Russlands gegen Georgien 2008, der mit der Besatzung und Abspaltung georgischer Gebiete endete, die Russland als "unabhängige" Staaten Südossetien und Abchasien anerkannt hat – eine Interpretation, der weltweit nur Nicaragua, Venezuela und Nauru folgen.
Keines dieser Ereignisse hat die NATO von ihrem auf privilegierte Kooperation ausgerichteten Kurs abweichen lassen. Wie der estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves gesagt hat: "Georgia 2008 was the wake-up call, but we’ve been hitting the snooze button ever since."
Andere NATO-Staaten, vor allem Deutschland und Frankreich, plädierten dagegen für gemäßigte Reaktionen. Aus ihrer Sicht ist langfristige Sicherheit in Europa nur durch Kooperation mit Russland möglich, so schwierig Putin als Partner auch ist. Sie weisen zudem darauf hin, dass Georgien und die Ukraine keine NATO-Staaten sind, man also nicht auf eine direkte Bedrohung Verbündeter schließen könne. Die Abschreckung nach Artikel 5 des NATO-Vertrages, die Grundlage der kollektiven Verteidigung, sei glaubwürdig und wirksam, zusätzliche Maßnahmen zur Rückversicherung der östlichen Alliierten also unnötig und womöglich kontraproduktiv, da Russland sie als Provokation sehen oder gar als Vorwand für eigene Maßnahmen benutzen könne. Unterschwellig spielte bei mancher Stellungnahme auch eine realpolitisch verbrämte Verachtung für die kleinen Staaten in Osteuropa eine Rolle: Die Präferenz für zynischen Interessenausgleich mit der Großmacht Russland statt für Solidarität mit schwächeren Bündnispartnern und pro-westlichen Revolutionären kommt dann im Mäntelchen der staatsmännischen Klugheit daher, zum Schaden der NATO.
Die Meinungsverschiedenheit in der Russlandpolitik beschreibt ein Problem, das die NATO spätestens seit dem Harmel-Bericht 1967 umtreibt: Was ist im Umgang mit einem aggressiven Nachbarn die richtige Mischung aus militärischer Drohgebärde und politischer Offerte, aus geballter Faust und ausgestreckter Hand? Diese Balance wurde auch in Newport diskutiert.
Das Ergebnis ist ein typischer NATO-Kompromiss, mit dem alle Verbündeten gut leben können: Die NATO-Russland-Akte bleibt in Kraft, damit auch der NATO-Russland-Rat. Unterhalb der höchsten (Botschafter-)Ebene wird die Zusammenarbeit jedoch bis zur Beilegung der Ukraine-Krise eingestellt. Auf eine konkrete Festlegung, ob Russland seinem Wesen nach nun Partner oder Gegner ist, wurde verzichtet. Auch wurde der Forderung nicht nachgekommen, substanzielle Truppenkontingente anderer NATO-Staaten dauerhaft in Osteuropa, zum Beispiel im Baltikum oder in Polen, zu stationieren.
Zugleich aber verurteilt die NATO die russische Aggression in der Ukraine aufs Schärfste, stellt fest, dass die Bedingungen für eine Partnerschaft mit Russland derzeit nicht gegeben sind, und zieht Konsequenzen zur Stärkung der Sicherheit ihrer Mitglieder, die an Russland grenzen. Kern dieser reassurance ist der Readiness Action Plan (RAP). Dabei handelt es sich um ein Paket von Maßnahmen, das sowohl die Abschreckung gegenüber Russland als auch die Handlungsfähigkeit der NATO in anderen Krisen verbessern soll. Zu den wichtigsten Elementen des RAP gehört eine stärkere militärische Präsenz im Osten des Bündnisses, etwa in der Überwachung des baltischen Luftraumes, aber auch zu Wasser und zu Lande. Es werden zusätzliche Truppen präsent sein, aber auf Rotationsbasis zwischen verschiedenen Verbündeten, damit die NATO-Russland-Grundakte nicht verletzt wird. Zusätzlich wird die NATO Response Force (NRF) um die neu geschaffene Very High Readiness Joint Task Force (VJTF) ergänzt. Dabei handelt es sich um eine sehr schnell verlegefähige Eingreiftruppe in der Größenordnung von 4000 bis 6000 Mann, die auf Gefährdungen an den Grenzen des Bündnisses reagieren kann. Womöglich wird die VJTF im Hauptquartier des polnisch-deutsch-dänischen Korps in Stettin stationiert. Außerdem sieht der RAP vor, dass die NATO-Truppen regelmäßiger und intensiver in Manövern für eventuelle Einsätze im Osten des Bündnisses üben sollen.
Die genaue Ausgestaltung dieser Beschlüsse ist allerdings noch unklar. Welche Nationen welche Fähigkeiten wo genau stationieren werden, wird noch verhandelt. Die NATO-Staaten beraten derzeit über die Political Guidance, ein Richtlinienpapier, das die planerischen Details spezifiziert. Die Guidance wird für Juni 2015 erwartet; sie ist das erste Dokument dieser Art seit 2011. Entscheidend wird bei ihrer Formulierung sein, die einzelnen Elemente des RAP so zu fassen, dass sie tatsächlich die Wehrhaftigkeit des Bündnisses stärken. Das bedeutet vor allem, dass die VJTF so gestaltet sein muss, dass sie der in der Ostukraine erprobten Form der "hybriden Kriegführung" – also der Invasion mittels ungekennzeichneter Kämpfer im Zusammenspiel mit separatistischen Minderheiten vor Ort – wirksam entgegentreten kann, sollten sich ähnliche little green men aus Russland beispielsweise ins Baltikum verirren. Dazu gehört auch, dass die Nationen zügig und ausreichend Soldaten und Material für die VJTF zur Verfügung stellen; sollte es zu politischem Geschacher und mangelnder Ausstattung wie zeitweilig bei der NATO Response Force kommen, würde dies ein fatales Zeichen setzen. Gerade Deutschland als stärkster Wirtschaftsnation Europas und führendem politischen Akteur auf dem Kontinent kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Verantwortung zu.
Balance von Artikel 5 und globalem Krisenmanagement
Die russische Aggression zwingt dem Bündnis nicht nur eine Debatte über die richtige Balance von Abschreckung und Einbindung auf, sondern auch eine Debatte über die richtige Balance zwischen Landesverteidigung und Krisenmanagement, zwischen regionaler Verankerung und globalem Anspruch.
Die Rückbesinnung auf Territorialverteidigung als Kernaufgabe der Allianz entspricht den Zeichen der Zeit. Denn die russische Aggression erinnert daran, dass im Kalten Krieg Landesverteidigung und Krisenmanagement für die NATO das Gleiche waren: Krisen entstanden durch konkrete Bedrohungen der Souveränität und territorialen Unversehrtheit der Bündnispartner in Europa. Angesichts der aktuellen Sorgen östlicher Bündnispartner scheinen Stabilisierungseinsätze in Asien oder Afrika in jeder Hinsicht wieder weit entfernt, ja sogar frivol zu sein.
Zwei weitere Faktoren begünstigen diesen Trend. Zum einen sind die Erfahrungen mit NATO-geführten Auslandseinsätzen in den vergangenen Jahren wenig zufriedenstellend. Die Situation in Afghanistan und Libyen ist nicht so, dass sie zur Werbung für die Stabilisierungskraft der NATO out of area taugt. Auch der US-geführte Einsatz im Irak – obwohl keine NATO-Operation – trug zu dieser Wahrnehmung bei. Das führt in den Bevölkerungen der NATO-Staaten zu erheblichen Vorbehalten gegenüber weiteren Auslandseinsätzen – mit entsprechenden politischen Folgen.
Zum anderen sind so gut wie alle Haushalte der NATO-Staaten im Zuge der Finanz-, Wirtschafts- und Schuldenkrise unter Druck geraten. Daher sinkt sowohl die politische Bereitschaft zu aufwendigen und teuren NATO-Missionen als auch die militärische Fähigkeit, diese überhaupt durchzuführen.
Es ist daher attraktiv, die Neubetonung von Artikel 5 zu einem Leitmotiv von Newport zu machen. Die NATO, so die Botschaft, verabschiedet sich von kräftezehrenden Projekten in anderen Teilen der Welt und konzentriert sich auf ihre ursprüngliche Aufgabe der Territorialverteidigung in (Ost-)Europa – für die sie auch im wahrsten Sinne des Wortes besser gerüstet ist.
Doch so politisch attraktiv diese "Rückbesinnung" erscheint, so falsch wäre sie. Denn eine Überbetonung des Artikel 5 und der Gefahr einer Invasion würde die NATO auf das Narrativ vom "Neuen Kalten Krieg" und den Antagonismus mit Russland festlegen. Nicht zuletzt Deutschland warnt davor, dass dann eine self-fulfilling prophecy oder zumindest eine unnötige Einschränkung westlicher Handlungsoptionen droht.
Wichtiger noch ist die Einsicht, dass aufgrund der Ukraine-Krise die Analysen der letzten fünfzehn Jahre zur globalen Sicherheitslage nicht falsch geworden sind. Im Zeitalter der Globalisierung muss Sicherheit für die NATO-Staaten mehr bedeuten als Grenzschutz in Europa. Das gilt nicht nur, weil die Europäer die Relevanz der NATO gegenüber der global denkenden Führungsmacht Amerika belegen müssen, sondern auch weil europäische Sicherheitsinteressen von jenseits des eigenen Kontinents bedroht sind. Ausbildung internationaler Terroristen, Bedrohung freier Handelswege und Konflikte zwischen Groß- oder Nuklearmächten sind nur drei der Realitäten, welche die Sicherheitsinteressen aller NATO-Staaten unmittelbar berühren. Hinzu kommt die moralische Verpflichtung des reichsten und mächtigsten Bündnisses der Welt, gegen Unterdrückung, Verfolgung und systematisches Morden einzustehen.
Nicht alle diese Aufgaben erfordern den Einsatz militärische Mittel. Aber sie werden sich ohne das militärische Potenzial und die politische Einigkeit der NATO-Staaten kaum lösen lassen. Wille und Fähigkeit der NATO, weltweit präsent und wirkmächtig zu sein, muss daher erhalten bleiben, wenn das liberale internationale System stabil bleiben soll. Diese globale Verantwortung der NATO endet nicht mit ISAF.
Auf ihrem Gipfel in Wales hat die NATO eine gute Balance zwischen diesen Aufgaben gefunden. Von Newport ging das Signal aus, dass die NATO beides zu ihrer Aufgabe erklärt und mit voller Kraft verfolgt: den glaubwürdigen Schutz des Territoriums ihrer Mitglieder und die Stabilitätsprojektion in Krisenherde außerhalb des Bündnisgebietes, die die internationale Ordnung und damit die Mitgliedstaaten gefährden. Anders gewendet: Die NATO bleibt ein regionales Bündnis mit einem globalen Horizont.
Dies ist erreicht worden, indem die NATO das Strategische Konzept von 2010 bekräftigt und damit auch die drei Kernaufgaben kollektive Verteidigung, Krisenmanagement und kooperative Sicherheit unterstrichen hat. Kollektive Verteidigung, die Abschreckung nach Artikel 5, wird dabei durch den Readiness Action Plan in gewisser Weise zum Primus inter Pares. Das entspricht aber sowohl dem Geist des NATO-Vertrages als auch der akuten Krisenlage im Osten Europas. Auch lässt sich argumentieren, dass die Verbündeten diesen Teil ihres Kerngeschäftes in den vergangenen Jahren zwar rhetorisch wichtig nahmen, aber nicht mit ausreichenden Fähigkeiten und strategischer Planung unterfüttert haben.
Demgegenüber wird das militärische Krisenmanagement, die Stabilitätsprojektion, aber nicht vernachlässigt. Auch wenn für die unmittelbare Zukunft kein NATO-Einsatz vom Ausmaß der Afghanistan-Mission zu erwarten ist, bleibt doch festzuhalten, dass die NATO stets ad hoc und überraschend zu militärischen Operationen gerufen wurde – im Kosovo ebenso wie in Afghanistan und Libyen. Es ist ein Beleg für ihre einzigartigen Fähigkeiten, dass die NATO sich auch in Zukunft dem Management drängender Krisen nicht wird entziehen können. Zyniker könnten daher anmerken, dass der Eroberungsfeldzug der terroristischen Mörderbanden des "Islamischen Staats" im Irak gerade noch rechtzeitig kam, um den Tunnelblick der Teilnehmer des NATO-Gipfels auf Russland, die Ukraine und das klassische Problem territorialer Verteidigung zu verhindern und an die Bedeutung des militärischen Krisenmanagements jenseits von Artikel 5 zu erinnern. Der notwendigerweise hohe Anspruch der NATO, all dies gleichzeitig leisten zu können, erfordert allerdings erhöhte Anstrengungen – im strategischen Denken, aber vor allem in Finanzierung, Entwicklung und Betrieb ausreichender und geeigneter militärischer Fähigkeiten.
Militärische Fähigkeiten
Die NATO wird gebraucht, in der Verteidigung ihres Territoriums wie im globalen Krisenmanagement. Beides erfordert jedoch militärische Fähigkeiten, um die es derzeit und vor allem perspektivisch nicht gut bestellt ist. Sparsamkeit in Krisenzeiten und der Eindruck, keiner existenziellen Bedrohung mehr ausgesetzt zu sein, führen zur Unterfinanzierung der NATO-Streitkräfte. Nur wenige Alliierte können heute ihren Verteidigungshaushalt, selbst auf niedrigem Niveau, konstant halten (etwa Deutschland) oder gar erhöhen (beispielsweise Polen). Insgesamt sind die Verteidigungsbudgets der europäischen Bündnispartner in den vergangenen fünf Jahren um 40 Milliarden US-Dollar gesunken – mehr als das gesamte deutsche Jahresbudget für Verteidigung. Zahlreiche europäische Verbündete, insbesondere in Osteuropa, haben ihre Verteidigungsausgaben um 20 bis 40 Prozent gesenkt. Und auch die USA haben auf ihre Haushaltskrise mit tiefen Einschnitten in die Verteidigungsplanung reagiert, deren genaues Ausmaß noch nicht absehbar ist.
Alarmierend ist, dass dieser Trend nur im Westen herrscht. Russland, Brasilien und China beispielsweise haben im gleichen Zeitraum zweistellige Zuwachsraten in ihren Verteidigungshaushalten verzeichnet. Das bedeutet auch, dass die militärische Durchsetzungsfähigkeit der NATO-Staaten abnimmt – und damit auch ihr Selbstbehauptungswille in politischen Konflikten. Die im Libyen-Einsatz offenbarte Schwäche der europäischen Bündnispartner muss daher als Menetekel für die Allianz insgesamt gelten.
Die NATO hat dieses Problem erkannt. Der scheidende Generalsekretär Rasmussen ist mit einer Reihe von Initiativen hervorgetreten, um die militärische Leistungsfähigkeit des Bündnisses zu erhöhen (Smart Defense, Connected Forces Initiative). Auch die Bundesregierung hat mit dem Framework Nations Concept eine solche Initiative beigesteuert. Der neue Generalsekretär Stoltenberg muss auf diese Anregungen aufbauen.
Im Wesentlichen folgen alle diese Vorschläge der Idee, bestehende Fähigkeiten besser miteinander zu verbinden und durch Spezialisierung kollektiv schlagkräftig zu bleiben, auch wenn auf nationalstaatlicher Ebene die Ressourcen schwinden. Entscheidende Fortschritte auf diesem Weg sind jedoch bislang an souveränitätspolitischen Vorbehalten gescheitert, ähnlich wie beim pooling and sharing in der EU.
Aber selbst wenn sich die NATO-Staaten auf effizientere Mechanismen gemeinsamer Beschaffung und Nutzung militärischer Fähigkeiten einigen könnten, würde dies das Ausmaß der finanziellen Einschnitte nicht ausgleichen. Das gilt insbesondere für den Bereich der Investitionen in Neuentwicklungen und Neuanschaffungen, der von den Ausgabenkürzungen in der Regel – zum Beispiel in Deutschland – am stärksten betroffen ist. Hier muss sich gerade in Europa etwas ändern, weil rüstungspolitische Trittbrettfahrerei auf Kosten der USA – wie etwa in der NATO-Raketenabwehr – in Zukunft immer seltener möglich sein wird.
Es ist daher richtig, dass die NATO-Staaten in der Erklärung von Wales ihre Selbstverpflichtung erneuert haben, 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben und 20 Prozent ihres Verteidigungsbudgets für Forschung und Entwicklung sowie Neuanschaffungen auszugeben. Es darf jedoch bezweifelt werden, dass sich gerade an den europäischen Budgets viel ändert. Derzeit erreichen nur vier Staaten (Estland, Griechenland, Großbritannien, USA) die seit langem vereinbarten 2 Prozent; und bei der Investitionsquote sieht es nicht viel besser aus, nicht einmal im wohlhabenden Forschungsstandort Deutschland. Überdies ist die Erklärung zur Erhöhung der Investitionen in biegsame Sprache gehüllt – die Rede ist gar nicht von Verpflichtungen, sondern von "Zielen", die über die kommenden zehn Jahre "angepeilt" werden. Und selbst das nur, wenn das Bruttoinlandsprodukt steigt.
Betrachtet man diese Debatte vor dem Hintergrund der jüngsten Schlagzeilen über die Probleme der Bundeswehr hinsichtlich ihres Materialstands und ihrer Beschaffungsprozesse, wird deutlich, wie weit der Weg für Deutschland und die anderen Verbündeten noch ist, um tatsächlich die Schlagkraft und Glaubwürdigkeit zu erlangen, die sich die NATO in Wales selbst zugeschrieben hat.
Ausblick
Der Gipfel in Wales war ein Erfolg für die NATO, weil sie in schwierigen Zeiten Einigkeit bewiesen und eine klare strategische Orientierung gegeben hat. Im Nachgang der Beschlüsse von Newport stellen sich der Allianz nun drei zentrale Aufgaben.
Erstens muss die political guidance zügig und pointiert formuliert werden. Entscheidend ist, das Maßnahmenpaket des Readiness Action Plan durch die Mitgliedstaaten so großzügig und konkret auszugestalten – insbesondere durch die Bereitstellung von Truppen und Fähigkeiten –, dass der RAP nicht zum Slogan verkümmert. Im Sinne der Flexibilität und der unterschiedlichen strategischen Prioritäten der Mitgliedstaaten ist darauf zu achten, dass die schnelle Eingreiftruppe der VJTF so zugeschnitten wird, dass sie sowohl der Rückversicherung in einem möglichen "hybriden Konflikt" mit Russland dient als auch zum Krisenmanagement anderswo in der europäischen Nachbarschaft befähigt ist.
Zweitens müssen die Mitgliedstaaten unpopuläre, aber notwendige Reformen ihrer Verteidigungshaushalte vornehmen. Der Druck auf die Haushalte sollte durch verbesserte Arrangements gemeinsamer Nutzung und Beschaffung militärischer Fähigkeiten reduziert werden; solche Arrangements allein werden aber nicht genügen. Es braucht mehr Geld für Verteidigung, vor allem aber klüger verwendetes Geld, um die erforderlichen militärischen Fähigkeiten zu erhalten beziehungsweise zu erwerben.
Drittens muss die NATO im Zusammenspiel mit den Verteidigungsintellektuellen der Mitgliedstaaten das Nachdenken über langfristige Strategiefragen jenseits der tagesaktuellen Krisen befeuern:
Diese Fragen zeigen, welch schwierige Aufgaben Europäern und US-Amerikanern noch bevorstehen, wenn sie eine freiheitliche, sichere und stabile Ordnung im 21. Jahrhundert etablieren wollen. Und sie zeigen auch: Ohne die NATO wird das nicht gelingen.