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TTIP kontrovers

Christian Felber Andreas Falke

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In den Auseinandersetzungen um das Freihandelsabkommen gibt es eine Reihe immer wiederkehrender Streitfragen. Die APuZ-Redaktion hat neun davon ausgewählt und den beiden Autoren vorgelegt.

In den Auseinandersetzungen um das Freihandelsabkommen gibt es eine Reihe immer wiederkehrender Streitfragen. Die APuZ-Redaktion hat neun davon formuliert und den beiden Autoren unabhängig voneinander vorgelegt. Christian Felber und Andreas Falke antworten in abwechselnder Reihenfolge.

Seit Beginn der TTIP-Verhandlungen formiert sich zunehmend vor allem in Deutschland, aber auch in den USA massive Kritik an Form und Inhalt der Verhandlungen. In der Öffentlichkeit der meisten der übrigen 27 EU-Länder spielen diese Verhandlungen nahezu keine Rolle. Wie erklären Sie sich diese Sachverhalte?

FELBER: Von welcher Öffentlichkeit sprechen wir? Die EU-weite zivilgesellschaftliche Kampagne gegen das TTIP umfasst über 300 Organisationen aus 23 EU-Mitgliedstaaten. Am EU-weiten Aktionstag gegen das TTIP am 11. Oktober 2014 gingen über 100000 Menschen aus ebenso vielen, also fast allen Staaten auf die Straße, das war kein singuläres Phänomen in Deutschland. Dass die europäische Bürger(innen)-Initiative, die von der EU-Kommission schroff und mit fadenscheinigen Begründungen abgelehnt wurde, von Deutschland ausging, hat mit vier starken zivilgesellschaftlichen Kräften zu tun: Mehr Demokratie, BUND, Campact und Attac – sie haben gemeinsam einen spürbaren Impuls gesetzt, der in die anderen Mitgliedsstaaten ausstrahlt. Ein Grund dafür, dass die Medien in Deutschland dem Thema mehr Aufmerksamkeit widmen, könnte der sein, dass die deutsche Regierung von den TTIP-Befürwortern in die Pflicht genommen wird, innerhalb der EU eine Führungsposition wahrzunehmen, wie zuletzt von Ex-Weltbank-Chef Robert Bruce Zoellick.

Nicht zuletzt deshalb könnte das TTIP zur Nagelprobe für die Demokratie in Deutschland und in der EU werden – es reiht sich schmerzvoll in eine Serie von Verletzungen der Demokratiebedürfnisse der Bevölkerung bei der Konstruktion der Europäischen Union. Diese Serie begann mit dem Vorrang des Binnenmarktes vor Grundrechten, Sozialstaatlichkeit und Regulierungsautonomie, setzte sich im Durchdrücken des – in mehreren Volksabstimmungen gescheiterten – Lissabon-Vertrags fort, danach kamen Fiskalpakt, Wettbewerbspakt und Bankenunion, und nun das TTIP. Die EU kommt vom Friedens- und Demokratiekurs ab, und das verstimmt immer mehr Menschen, denen Grundwerte nicht egal sind. Möglicherweise gibt es dafür in Deutschland aufgrund seiner Geschichte eine besondere Sensibilität.

FALKE: Grundsätzlich hat das Unbehagen an Handelsliberalisierung – in allen westlichen Gesellschaften – damit zu tun, dass heute an den Grenzen nicht mehr überwiegend Handelshemmnisse wie Zölle und Quoten zur Abschaffung anstehen, sondern Regulierungen, Normen und Standards, die zum Teil legitime Schutzfunktionen in den Bereichen Umwelt-, Verbraucher- und Gesundheitsschutz erfüllen, gleichzeitig aber auch als diskriminierende Schutzinstrumente missbraucht werden können. Viele Regulierungen sind janusköpfig und ihre Behandlung bedarf eines komplizierten Abwägungsprozesses.

In Deutschland gestaltet sich der Abbau von Regulierungshemmnissen besonders schwierig, weil im Verhältnis zu den USA gerade Nahrungsmittelsicherheit und Verbraucherschutz im Fokus stehen, die Kernanliegen einer umweltpolitisch sensibilisierten Öffentlichkeit sind. Dabei bedient man sich gerne polarisierender Klischees, wie der prinzipiellen Minderwertigkeit der Lebensmittelsicherheit in den USA, ungeachtet der Tatsache, dass die USA ein ausdifferenziertes System der Lebensmittelüberwachung besitzen, allerdings Ansätze und Verfahren unterschiedlich sind, ohne dass das Schutzniveau geringer sein muss.

Solche von Tatsachen völlig ungetrübten Interpretationen von TTIP als zentralem Angriff auf die grundlegenden politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse der Bundesrepublik spielen in der Kommunikation über das angestrebte Abkommen eine beträchtliche Rolle. So wird behauptet, amerikanische Großkonzerne bedrohten von Arbeitnehmerrechten über Umweltstandards bis zur Volkshochschulbildung alles, was den Deutschen lieb und teuer ist. Das Klischeebild von Amerika als einer kulturlosen, von Konzernen beherrschten Gesellschaft hat hier Pate gestanden und zu einer beispiellosen Kampagne gegen ein Abkommen geführt, das gerade einer so exportabhängigen Wirtschaft wie der deutschen erhebliche Chancen eröffnet, und zwar nicht nur den großen Konzernen, sondern gerade mittelständischen Betrieben und dem Konsumenten. Hinter der Kritik und dem emotionalisierten Widerstand steckt eine gehörige Portion Antiamerikanismus. Bedauerlicherweise haben sich große Teile der Medien zum Sprachrohr der "Zivilgesellschaft" machen lassen, ohne deren Anliegen im gleichen Maße auf den Prüfstand zu stellen, wie die der Wirtschaft.

Wie bewerten Sie die Vorwürfe, der Verhandlungsprozess sei von unzulässiger Geheimhaltung und mangelnder Transparenz gekennzeichnet?

FALKE: In der EU wie in den USA gibt es formalisierte Beratungsstrukturen, in denen Vertreter von Arbeitnehmer-, Umwelt- und Verbraucherinteressen ebenso wie von Wirtschaftsinteressen vertreten sind und die Zugang zu Dokumenten haben werden. Die EU-Kommission hat, nachdem sie die Bedeutung von Transparenz und Partizipation zunächst unterschätzt hat, die entsprechenden Prozesse intensiviert. Die Verhandlungen gehen auf EU-Ebene in enger Abstimmung mit Parlamentsvertretern, insbesondere den Ausschüssen und den Vertretern der Mitgliedsstaaten im Ministerrat voran. Mittlerweile sind pluralistisch besetzte Beratungsgremien eingerichtet, und die Kommission hat einen umfassenden Konsultationsprozess begonnen. Die Positionspapiere über den Stand der Verhandlungen werden jetzt mit großer Regelmäßigkeit veröffentlicht.

In Deutschland hat das Bundeswirtschaftsministerium einen Beirat für TTIP eingerichtet, der Vertreter von Gewerkschaften, Sozial-, Umwelt- und Verbraucherschutzverbänden sowie des Kulturbereichs umfasst. Auffällig ist, dass die industriefernen und defensiven Kritiker in der Mehrheit sind und die mit Handelspolitik befasste Wissenschaft (Volkswirtschaft und internationales Weltwirtschaftsrecht) überhaupt nicht vertreten ist. Dass die Vertreter der Zivilgesellschaft unterrepräsentiert sind, kann man jedenfalls für den gesellschaftlichen Konsultationsprozess im wichtigsten Exportland der EU nicht behaupten.

Schon jetzt hat die anhaltende öffentliche Kritik aus Deutschland erreicht, dass einige wesentliche Konfliktpunkte ausgiebig thematisiert und einem Moratorium unterworfen sind. Allerdings wird das Ideal absoluter Transparenz nur schwer zu verwirklichen sein: In derartigen komplexen, von komplizierten Problemverschränkungen charakterisierten Verhandlungen geht es um schwierige Abwägungsprozesse von elementaren kommerziellen Interessen, die letztlich nur durch hart erkämpfte Kompromisse auf einen Nenner der Ausgewogenheit gebracht werden können. Und natürlich gibt es bei Handelsliberalisierung auch einzelne Verlierer – besonders im protektionistischen Lager – denen bei absoluter Transparenz die Möglichkeit gegeben würde, diese Kompromisse zu verhindern. Zudem muss ein gewisser Vertrauensschutz auch für den jeweiligen Verhandlungspartner gelten, der sonst kaum mehr offen legen wird, wo seine Schmerzgrenzen beginnen.

Den Vertretern absoluter Transparenz auf "zivilgesellschaftlicher" Seite geht es darum, Transparenz populistisch zu instrumentalisieren, um die Verhandlungen überhaupt zu torpedieren. Letztlich wollen die globalisierungskritischen Segmente der Zivilgesellschaft sich als eigentliche Instanz zur Beurteilung des Abkommens etablieren.

FELBER: Diese Vorwürfe würde ich noch verstärken. Die Verhandlungen sind zutiefst undemokratisch. Ein nicht für legislative Aufgaben gewählter Europäischer Rat beauftragt die ebenso wenig direkt gewählte Kommission mit Geheimverhandlungen – vorbei an Parlamenten und Souveränen: Das Mittelalter lässt grüßen!

Wie könnte ein demokratischer Prozess aussehen? Die souveräne Bevölkerung (lat. "superanus" bedeutet wörtlich "über allem stehend") erteilt via Volksabstimmung ein "Rahmenmandat" für völkerrechtliche Verhandlungen, das in Form von Strategiezielen in der Verfassung verankert wird, zum Beispiel: Annäherung des Pro-Kopf-Ressourcen-Verbrauchs an global nachhaltiges Niveau, Abnahme der Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen, voller Respekt der Menschenrechte inklusive der Arbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), Schließung der Geschlechterkluft, Förderung der kulturellen Vielfalt. Auf dieser Basis kann die unmittelbare Vertretung des Souveräns, das (EU-)Parlament, die Regierung (EU-Kommission) mit der Aufnahme von Verhandlungen betrauen, jedoch nur, um die vorgegebenen Ziele zu erreichen. Wird ein Mandat erteilt, prüft es der Verfassungsgerichtshof (EuGH) auf Verfassungskonformität. Ist das Ergebnis negativ, erlischt das Verhandlungsmandat. Ist es positiv, können die Verhandlungen starten, allerdings nur transparent und partizipativ nach – ebenfalls in der Verfassung – vorgegebenen Spielregeln. Das Ergebnis der Verhandlungen wird der "höchsten" Instanz – der Bevölkerung – zur Entscheidung vorgelegt. Nur wenn der Souverän dem Vertrag, der in seinem Namen ausverhandelt wurde, zustimmt, kann dieser in Kraft treten.

Welchen ökonomischen Nutzen wird ein derartiges Abkommen den EU-Ländern und den USA einbringen?

FELBER: Die EU-Kommission argumentiert mit Studien, die nur mikroskopisch wahrnehmbares Wirtschaftswachstum vorhersagen. Vier Studien zu den Folgen des TTIP sagen ein Wirtschaftswachstum von 0,3 bis 1,3 Prozent vorher – für einen Zeitraum von 10 bis 20 Jahren! Ein Wirtschaftswachstum von jährlich 0,03 Prozent bis 0,13 Prozent im Bestfall: Welche Aussagekraft besitzen solche Zahlen?

Bekanntlich wurden auch andere Freihandelskommen aufgrund von Studien, die Wachstum und Arbeitsplätze herbeiprognostizierten, "durchgedrückt", und danach kam der Katzenjammer. So sagten Studien über die Auswirkungen vom North American Free Trade Agreement (NAFTA) für Mexiko und Kanada BIP- und Beschäftigungszuwächse von 11 Prozent und der Realeinkommen gar um 16 Prozent voraus. Von den Ex-post-Studien belegten aber die meisten kaum positive Auswirkungen und einige sogar Verluste bei BIP, Beschäftigung und Realeinkommen. Allein in der mexikanischen Landwirtschaft ging infolge subventionierter US-Exporte eine Million Arbeitsplätze verloren.

Zudem sind Verteilungs-, Nachhaltigkeits- und Strukturfragen in keiner Weise in BIP-Prognosen berücksichtigt, allein deshalb sind solche Prognosen wertlos: Denn selbst wenn das BIP geringfügig wachsen sollte, könnte dieser Zuwachs einer schmalen Elite zufließen, während die überwältigende Mehrheit leer ausgeht, prekärere Arbeitsbedingungen vorfindet, sinkende Lebensmittelqualität und mehr Umweltprobleme. Ein Beispiel: In ihren eigenen Folgeabschätzungsstudien erwartet die EU "initiale Schocks" in der europäischen Landwirtschaft, weil die noch relativ kleinteiligen Strukturen durch den "Freihandel" mit der US-Agrarindustrie hinweggefegt würden. Nur diejenigen, die auf US-Größe aufrüsten, könnten langfristig mithalten und bäuerliche Strukturen in anderen (Freihandelspartner-)Ländern zerstören. Solche zerstörerischen Schocks müssen verhindert werden, das TTIP ist eine Schock-Strategie.

FALKE: Die Wohlfahrtsgewinne sind nicht so einfach zu beziffern, weil sie von den spezifischen Modellen und deren Grundannahmen sowie von dem Ausmaß der zu erreichenden Liberalisierung, das heißt den jeweiligen Liberalisierungsszenarien abhängen. Unter Einbeziehung von dynamischen Effekten könnten im günstigsten Fall das BIP um knapp 0,5 Prozent höher liegen und die Exporte der EU um 17 Prozent steigen. Immerhin könnten bei einer Abschaffung der Zölle die deutschen Exporte um über 1 Prozent wachsen. Sehr viel größere Wohlfahrtsgewinne sind bei der Abschaffung von nichttarifären Hemmnissen wie Produktstandards und technischen Normen beziehungsweise von Regulierungen im Gesundheits-, Umwelt- und Verbraucherbereich durch Harmonisierung oder gegenseitige Anerkennung zu erwarten, wo die Zolläquivalente mit 19 bis 74 Prozent erheblich über den normalen Zollsätzen liegen. Eine Reduzierung nichtzolltariflicher Hemmnisse und eine Angleichung von Normen und Regulierungen einschließlich von Zertifizierungsverfahren würde zu einer Senkung der Kosten exportorientierter Unternehmen führen, die gerade kleinen und mittleren Unternehmen zugutekommen würde.

Vor allem wären auch die branchenspezifischen Marktchancen deutscher Unternehmen im Fahrzeug- und Maschinenbau, in der Textilindustrie und in der Lebensmittelverarbeitung zu beachten. Insgesamt dürfte gerade der Handel zwischen Deutschland und den USA zunehmen, und profitieren würden von der Abschaffung regulatorischer Hindernisse vor allem kleine und mittelständische Unternehmen. Freihandelsabkommen tun vor allem eins: Sie kurbeln den Export an, senken die Handelskosten und schaffen neue Marktchancen.

Welchen geopolitischen Nutzen wird ein derartiges Abkommen den EU-Ländern und den USA einbringen?

FALKE: Ein wesentlicher Kontext des geplanten Abkommens ist der Aufstieg der Schwellenländer, insbesondere Chinas, Indiens und Brasiliens. Diese Länder haben von der Offenheit des Welthandelssystems enorm profitiert, höchst wettbewerbsfähige Exportsektoren aufgebaut und sich damit vom traditionellen Profil eines Entwicklungslandes längst entfernt. Nur geben sie nur wenige Anstöße zu einer Weiterentwicklung des Welthandelssystems, wie Indiens Blockade des Bali-Abkommens in der Welthandelsorganisation (WTO) zeigt. Eine Reihe von Vordenkern in der Handelspolitik auf beiden Seiten des Atlantiks gehen davon aus, dass die WTO nicht mehr zu revitalisieren ist und dass angesichts des relativen Niedergangs der USA und der EU mittelfristig China diese Lücke füllen und dann Standards setzen wird, die allein seinem Wirtschaftssystem Rechnung tragen werden. TTIP zusammen mit der transpazifischen Partnerschaft (TPP) soll dem zuvorkommen, das heißt die EU und die USA wollen Standards und Regeln etablieren, die der Realität globaler Lieferketten im 21. Jahrhundert entsprechen. Beide könnten dadurch ihren relativen Einflussverlust kompensieren. Für die EU wäre dieser Effekt sogar noch größer, weil sie keine äquivalente pazifische Option hat und mit TTIP ein Gegengewicht schaffen könnte.

FELBER: Es gibt eine wachsende Zahl von Beobachtern, die die Bedeutungslosigkeit der EU, auch der USA, auf der weltpolitischen Landkarte vorhersagen. Die Schwellenländer BRICS seien im Kommen, und um diesem Bedeutungsverlust entgegenzuwirken oder ihn zumindest zu verlangsamen, wollen sich die alten Mächte hier einerseits zusammentun und andererseits die Grundlage für spätere multilaterale Abkommen schaffen, sprich Regeln entwickeln, die für die ganze Welt gelten sollen. In den TTIP-Verhandlungen steckt ein Weltmachtsanspruch, der auch immer wieder als "Neue Weltwirtschaftsordnung" (Angela Merkel im November 2009 vor dem US-Kongress) ausgesprochen wird. Vor diesem Hintergrund sind bilaterale Verhandlungen erst recht abzulehnen. Verhandlungen sollten multilateral geführt werden und auf Augenhöhe. Die Kolonialzeit ist vorbei.

Doch die Eliten beiderseits des Atlantiks wollen TTIP zum "Goldstandard" für die ganze Welt machen. Allein diese Begrifflichkeit – sie stammt von der US Chamber of Commerce – zeigt, wie wichtig sich die Betreiber(innen) des Abkommens selbst nehmen. "Unsere Regeln sind der Goldstandard" – das ist vermessen.

Welche Auswirkungen auf den EU-internen und den Handel mit Drittländern sind zu erwarten?

FELBER: Mehrere Studien sagen ein Schrumpfen des Binnenhandels in der EU voraus. Im Szenario der "tiefen Integration" einer Studie der Bertelsmann-Stiftung wird ein Minus von 30 Prozent vorhergesagt, der Binnenmarkt wird um ein Drittel verkleinert. Auch dieses Szenario darf allerdings in Zweifel gezogen werden. Wenn es nur zur Hälfte wahr wäre, ergäbe das einen Rückgang des Handels zwischen den EU-Mitgliedsstaaten von 15 Prozent – allein so eine Aussicht lässt den Begriff "Freihandel" in einem neuen Licht erscheinen.

Noch bedenklicher sind die prognostizierten negativen Auswirkungen auf die ärmeren Weltregionen: Eine Studie erwartet eine Schrumpfung des realen BIP im Ausmaß von 2,8 Prozent für ganz Lateinamerika sowie um 2,1 Prozent für ganz Afrika südlich der Sahara. Das wäre eine Katastrophe – nicht nur, weil wieder einmal die Ärmsten am schlimmsten betroffen wären, sondern auch, weil das Zeichen, das damit in die Welt ausgesendet wird, ein fatales ist: Wir machen unser Ding und hängen Euch ab. Die EU-Verpflichtung zu Kohärenz in der Entwicklungs- und Außenpolitik verkommt damit zu Makulatur. Tunesiens Handel mit der EU würde laut der Studie der Bertelsmann-Stiftung um 4,4 Prozent schrumpfen, derjenige Marokkos um 5,4 Prozent und Ägyptens sogar um 7,8 Prozent. Das wäre sicher keine Unterstützung der demokratischen Öffnung in diesen Ländern – der Effekt käme eher Handelssanktionen gleich.

FALKE: Grundsätzlich gilt, dass moderne Freihandelsabkommen heute weniger der Präferenzerzeugung dienen, sondern der Erleichterung globaler oder regionaler Wertschöpfungsketten durch die Herstellung gemeinsamer Standards. Hier geht es vor allem um den "Protektionismus hinter der Grenze", der gerade im transatlantischen Wirtschaftsraum, wo ein Drittel der Handelsströme firmenintern ist, eine große Rolle spielt. Theoretisch schaffen moderne Freihandelsabkommen mit regulatorischer Harmonisierung oder gegenseitigen Anerkennung von Standards öffentliche Güter, von denen Dritte nicht ausgeschlossen werden können. Drittlandexporteure müssen nicht mehr zwei unterschiedliche Standards erfüllen. Bestimmte Gruppen von Entwicklungsländern könnten bei sehr hohen technischen Standards Probleme bei der Erfüllung haben. Allerdings enthalten die ökonomischen Partnerschaftsabkommen der EU mit den Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifiks (AKP) technische Hilfen bei der Erfüllung von Standards, und Abkommen wie Cariforum mit den karibischen Staaten enthalten Meistbegünstigungsbestimmungen, die Zollpräferenzen für Freihandelspartner automatisch den Entwicklungsländern zugutekommen lassen. Eine Erosion der Präferenzen wird sich aber nicht völlig ausschließen lassen, sie würde auch unter multilateraler Liberalisierung eintreten.

Auf TTIP zu verzichten, weil damit Prinzipien des diskriminierungsfreien Multilateralismus untergraben werden und Schwellenländer geschädigt werden, ist ein wenig überzeugendes Argument. Der Multilateralismus hat sich gegenwärtig erschöpft und besagte Schwellenländer verfolgen selbst Freihandelsabkommen, wie die Regional Cooperation Economic Partnership Asia/Pacific (RCEP) der Chinesen und Verhandlungen zwischen dem Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) und China zeigen. Die EU verhandelt zudem mit Indien, und Brasilien hat sein Interesse an einem Freihandelsabkommen mit der EU signalisiert. Die diskriminierende Wirkung von Freihandelsabkommen hängt von der Strenge der Ursprungsregeln ab, die die Herkunft eines Produktes regeln. Wichtig wäre hier der größtmögliche Verzicht auf diese Regeln (Freiverkehrsprinzip). Angesichts der Blockade des WTO-Prozesses ist es nicht so abwegig anzunehmen, dass nur ein großer Wurf eines ambitionierten regionalen Abkommens einen Anreiz setzt, den multilateralen Prozess wieder in Gang zu setzen.

Es wird über EU- und US-Standards in den Bereichen Technik sowie Umwelt-, Gesundheits-, Nahrungsmittel- und Medikamentensicherheit verhandelt. Welche Problemlagen zeichnen sich hier ab?

FALKE: Es ist in der Tat so, dass gerade der Abbau regulatorischer Hindernisse die größten Wohlfahrtsgewinne und Exportchancen eröffnet. Dies bedeutet in letzter Konsequenz, dass man regulatorische Konvergenz anstrebt. Dies impliziert aber schwierige Abwägungsprozesse und eine differenzierte Vorgehensweise, denn es handelt sich ja nicht nur um einfache Handelsbarrieren, sondern um legitime verbraucher-, gesundheits- und umweltrechtliche Schutzbestimmungen. Relativ einfach dürfte sich die Konvergenz bei technischen Produktnormen erweisen sowie damit in Verbindung stehenden Zertifizierungsverfahren. Gegenseitige Anerkennung ist nur denkbar, wenn Äquivalenz vorliegt, das heißt ein gleichwertiges Schutzniveau. Das ist beispielsweise im Lebensmittelbereich nur eingeschränkt der Fall.

Wünschenswerter wäre es, wenn Regulierung auf einer wissenschaftlich robusten Basis der Risikofolgenabschätzung beruhen würde oder Bezug auf international vereinbarte Standards nähme. Für gesellschaftlich hoch kontroverse Themen wie genetisch veränderte Organismen (GVOs), hormonbehandeltes Rindfleisch oder bakterielle Dekontaminierung durch Chlor dürfte der Verhandlungsspielraum sehr klein sein. Die EU wird an entsprechenden Verboten festhalten.

Umgekehrt sollte man sich klar machen, dass wenn die EU sich pragmatischen, flexiblen Regelungen verweigert, auch die USA ihre eigenen Schutzbestimmungen wenig lockern werden. Das gilt vor allem für Milchprodukte und Käse sowie Verarbeitungsgeräte, an die die USA sehr hohe Schutzanforderungen stellen, die überwiegend dem Schutz der eigenen Produzenten dienen.

FELBER: Eine ganze Reihe. Zum einen wird in den Verhandlungspapieren immer wieder von "Harmonisierung", "Angleichung" und "gegenseitiger Anerkennung" gesprochen. Das wird eine Spirale nach unten auslösen, weil die Lobbys beiderseits des Atlantiks sehr offensiv die Rücknahme höherer Standards auf der anderen Seite einfordern, zum Teil für giftige Substanzen, wie zum Beispiel den Futterzusatz Ractopamine in der Schweinemast, der in 160 Staaten verboten ist, von den industriellen US-Schweinezüchtern aber verwendet wird, was zu Importbeschränkungen seitens der EU geführt hat. Angleichung heißt hier nichts anderes, als dass die EU das Gift wieder zulassen müsste.

Zum anderen herrscht in weiten Bereichen eine ganz andere Regulierungsphilosophie: In der EU gilt das Vorsorgeprinzip, in den USA muss der wissenschaftliche Beweis für die Schädlichkeit von Produkten oder Technologien erbracht werden, bevor die Wirtschaftsfreiheit eingeschränkt werden darf. Diese unterschiedliche Zugangsweise hat dazu geführt, dass in den USA bisher erst fünf Stoffe beziehungsweise Stoffgruppen zur Gänze verboten wurden. Bei den Kosmetika-Zusätzen sind es immerhin elf, in der EU dagegen mehr als 1300. Eine "Angleichung" oder "gegenseitige Anerkennung" würde nicht nur zu einer Massenzulassung giftiger Chemikalien, sondern zur Aushebelung eines demokratisch errungenen Regulierungsprinzips in der EU führen.

Auch bei Medikamenten und Banken gibt es unterschiedliche Regulierungsprozesse, und nicht immer sind die Standards der EU die höheren. Dort, wo sie es in den USA sind, drängt zum Beispiel die EU-Finanzindustrie auf Verwässerung der US-Standards oder uneingeschränkten Marktzugang trotz dieser Unterschiede. Das TTIP löst eine destruktive Deregulierungsspirale aus.

Arbeitsbedingungen, Arbeitsplätze und Löhne in der EU und den USA: Welche Effekte sind zu erwarten?

FELBER: Die Entwicklung bei den Arbeitsplätzen ist schwer einzuschätzen, siehe oben. In den eigenen Studien prognostiziert die EU-Kommission für die Metallindustrie einen Beschäftigungszuwachs um 1,5 Prozent, in der Automobilindustrie um 1,3 Prozent und im Elektromaschinenbau einen Verlust von 7 Prozent der Arbeitsplätze. In den USA würde die Zahl der Arbeitsplätze im Maschinenbau um 1,5 Prozent steigen; sinken würde sie in der Lebensmittelverarbeitung um 1,2 Prozent, im Elektromaschinenbau um 2,1 Prozent und in der Automobilindustrie um 2,8 Prozent. Aus solchen Prognosen wird man kaum schlau. Während die EU-Kommission dank TTIP ab 2027 (!) einen Einkommenszuwachs von 306 bis 545 Euro je Haushalt in der EU erwartet, würde das TTIP einer aktuelleren Studie der Tufts University in Massachusetts zufolge 600000 Arbeitsplätze in Europa zerstören und – je nach Land – zu Einkommensverlusten von 165 bis zu 5000 Euro pro Person und Jahr führen. Es käme zu bedeutenden Einkommenstransfers von Arbeits- zu Kapitaleinkommen, konkret in Frankreich von 8 Prozent des BIP, in Großbritannien von 7 Prozent und in Deutschland von 4 Prozent. Die Studie basiert auf Modellen der Vereinten Nationen (United Nations Global Policy Model) – im Unterschied zu anderen Studien, die mit viel älteren Modellen arbeiten.

Bei den Arbeitsbedingungen gibt es jedenfalls Alarm. Die oben angesprochenen Schocks lassen eine weitere Mechanisierung und Sinnentleerung vieler Arbeitsprozesse, insbesondere in der Landwirtschaft, erwarten. Die Landwirtschaft ist aber heute schon überindustrialisiert, das TTIP bewirkt genau das Falsche.

Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die USA die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechte nicht anerkennen und sechs der acht ILO-Kernarbeitsnormen nicht ratifiziert haben – das spräche eigentlich gegen Freihandel mit den USA. Denn Unternehmen, die internationale Mindestnormen nicht einhalten müssen, haben einen unfairen Wettbewerbsvorteil gegenüber den Mitwerber(inne)n, die sich an Standards halten müssen. Der korrekte Ansatz wäre Freihandel mit Drittstaaten, die die Menschenrechte vollumfänglich anerkennen und alle UN-Konventionen zu Arbeitsrechten, Umwelt- und Klimaschutz sowie kultureller Vielfalt ratifiziert haben; umgekehrt sollte es Zollaufschläge auf Importe aus Ländern geben, die in den genannten Bereichen nicht kooperieren, zum Beispiel 5 Prozent mehr Zoll für jede nicht ratifizierte ILO-Kernarbeitsnorm, 10 Prozent mehr für jedes nicht unterzeichnete UN-Umweltschutzabkommen und 20 Prozent mehr für die Nichtkooperation beim Steuervollzug oder bei Nichtratifizierung eines der Menschenrechtspakte. Das wäre ein starker Anreiz für Drittstaaten, in der Weltpolitik zu kooperieren und, solange dies verweigert wird, ein Schutz von ethischeren Unternehmen und Handelsströmen.

FALKE: Hier gilt das Gleiche wie bei den Erwartungen über die Wachstumseffekte. Bei einer Abschaffung aller Zölle würde die Beschäftigung in der EU um 0,1 Prozent ansteigen. Bei Abschaffung aller Hemmnisse könnte die Arbeitslosigkeit in Ländern wie Spanien, Portugal und Griechenland zwischen 0,6 und 0,7 Prozent zurückgehen, in Irland um 0,84 Prozent. Ein Arbeitsplatzwunder wird TTIP also nicht bewirken, da ist eher eine effektive nationale Arbeitsmarktpolitik gefragt. Jedoch könnte in einigen Exportbranchen, die stark von regulatorischen Handelshemmnissen wie im Maschinen- und Fahrzeugbau und in der Lebensmittelverarbeitung betroffen sind, sich ein signifikantes Arbeitsplatzwachstum einstellen.

Was Arbeits- und Sozialstandards betrifft, so hat die EU klargestellt, dass europäische Arbeitsnormen wie Kündigungsschutz, Mindestlohn, Tarifautonomie, Mitbestimmung und Betriebsverfassung nicht zur Disposition stehen und nicht als nichttarifäre Hindernisse interpretiert werden dürfen. Das gleiche Ziel verfolgen die USA. Dass Teile der deutschen Gewerkschaftsbewegung TTIP kritisch sehen, hat wenig mit der Verteidigung deutscher Sozialstandards zu tun. Der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Industriegewerkschaft Metall reiben sich an der Ausgestaltung der Tarifautonomie und gewerkschaftlichen Organisierbarkeit in den USA, besonders in den Südstaaten und hier im Automobilsektor. Doch kann es bei TTIP nicht darum gehen, der USA das deutsche Sozialmodell aufzudrängen.

Regelungen zum Investorenschutz: Welche sollten Bestandteil des Abkommens sein?

FALKE: Investitionsschutzabkommen mit Schiedsgerichtsverfahren sind ein Teil der globalen Wirtschaftsordnung. Die Bundesrepublik Deutschland hat seit 1959 allein 147 Abkommen abgeschlossen. Sie dienen primär dazu, Investoren in Ländern mit problematischen Rechtssystemen zu schützen. EU-Länder sind die häufigsten Nutzer der Schiedsverfahren, doch haben sie im transatlantischen Verhältnis besonders in den Beziehungen der USA zu den Transformationsländern in Osteuropa zugenommen.

Die Befürchtungen, dass Schiedsgerichtsverfahren den regulatorischen Freiraum von demokratisch gewählten Regierungen einschränken, sind übertrieben. In den wenigsten Fällen stehen die gesetzlichen Grundlagen von Umwelt- oder Gesundheitsrichtlinien zur Disposition, sondern Verwaltungsentscheidungen wie die Erteilung von Lizenzen. Die vorauseilende Einschränkung regulatorischer Spielräume (regulatory chill) lässt sich empirisch nicht nachweisen. Man sollte eine Modernisierung anstreben, die höhere Verfahrensstandards sichert wie auch die interpretatorischen Spielräume einengt. Die Schiedsgerichtsverfahren müssen vor allem transparenter werden, alle Dokumente und Daten müssen öffentlich zugänglich sein. Betroffene Dritte wie Umweltschützer oder Gewerkschaften müssen Gelegenheit haben, Stellung zu nehmen. Das Reformpotenzial ist groß und sollte von TTIP ausgeschöpft werden, um Standards für alle künftigen Abkommen zu setzen.

Die amerikanische Seite ist hier kein Blockierer, sondern hat eindeutiges Interesse an höheren Standards signalisiert. In Deutschland wird argumentiert, die Vertragspartner von TTIP hätten hohe rechtsstaatliche Standards, nur gilt das sicherlich nicht für alle EU-Staaten, vor allem nicht für manche osteuropäischen Mitgliedsstaaten und selbst nicht für einige alte Mitglieder, deren Rechtssysteme von Verfahrensmängeln gekennzeichnet sind.

FELBER: Hier stellen sich einige Vorfragen: Wird Eigentum in den USA und in der EU nicht ausreichend geschützt? Versagen Gerichte und Rechtsstaaten beiderseits des Atlantiks? In einem solchen Ausmaß, dass internationalen Investoren einseitig zusätzliche Rechtsinstrumente zur Verfügung gestellt werden sollten? Ein dreifaches Nein. Es gibt keinen stichhaltigen Grund für die Einrichtung von internationalen Klagerechten für transatlantische Unternehmen. Das verstößt nicht nur gegen die Gleichbehandlung von in- und ausländischen Unternehmen, sondern mehr noch gegen die Gleichbehandlung aller anderen Akteure, die von den Aktivitäten der Investoren betroffen sind: Anrainer(innen), Umweltschützer(innen), Arbeitnehmer(innen), Konsument(inn)en und andere. Sie alle erhalten kein Klagerecht auf internationaler Ebene, wenn ihre Interessen verletzt werden. Und paradoxerweise wird ihnen geantwortet, dass ihnen ohnehin die lokalen Gerichte zur Verfügung stünden. Das gilt ja auch für die Konzerne! Aber offenbar sollen nationale Gerichte hier umgehbar gemacht und ausgehebelt werden. Das ist auch verständlich, wenn man einen häufigen Klagegegenstand vor internationalen Schiedsgerichten betrachtet: "indirekte Enteignung" wie zum Beispiel Umweltschutzgesetze oder Konsumentenschutz oder Gesundheitsvorsorge. Zu den haarsträubenden Klagegründen kommt, dass die Verfahren bisher nicht öffentlich sind, die Urteile nicht veröffentlicht werden müssen und keine Berufung zulassen. Es gibt auch keinen institutionalisierten Gerichtshof, der solche Klagen verhandeln würde, womit eine ganze Reihe von rechtsstaatlichen Prinzipien gebrochen wird.

Sehr wohl angedacht werden könnte ein internationaler Wirtschaftsgerichtshof, der für alle Betroffenen von grenzüberschreitenden Investitionen zugänglich ist und vor dem Konzerne verklagt werden können, wenn diese zum Beispiel Menschenrechte oder Arbeitsstandards verletzen, die Gesundheit der Bevölkerung gefährden oder Ökosysteme zerstören. Erhält ein solcher Wirtschaftsgerichtshof Vorrang vor ambulanten und geheimen Privattribunalen zum Investorenschutz, wäre auch klar, welche die Ziele und welche die Mittel des Wirtschaftens sind.

Im Rahmen von TTIP ist eine transatlantische Behörde für "regulatorische Kooperation" vorgesehen. Um welche Aufgaben und Befugnisse geht es, und halten Sie so eine Institution für erforderlich?

FELBER: Neben dem asymmetrischen Klagerecht für Konzerne und der "Harmonisierung" von Regulierungsstandards ist die geplante "Regulatorische Kooperation" eine der großen Gefahren des Abkommens. Dahinter verbirgt sich ein Vorprozess für die Gesetzgebung, der massiv und tendenziös auf diese einwirkt. Vorgesehen sind mehrere Schritte: 1. Eine Vorab-Mitteilungspflicht zu allen Regulierungsvorhaben an den Handelspartner. 2. Ein Konsultationsrecht sowohl für Privatunternehmen als auch Staaten. 3. Das Recht auf Berücksichtigung der wechselseitigen Wünsche oder alternativ eine Begründung der Nichtberücksichtigung. 4. Die Überprüfung sämtlicher Gesetzesvorhaben auf ihre Auswirkungen auf den Handel: eine Freihandelsverträglichkeitsprüfung. 5. All dies soll von einer neuen Superbehörde, die außerhalb des demokratischen Gesetzgebungsprozesses angesiedelt wird, koordiniert werden. An die Stelle von Parlamenten und Souveränen treten Bürokraten und Lobbys. Die mächtigsten Interessensvertreter, Business Europe und American Chamber of Commerce, wünschen nicht nur "privilegierten Zugang" zu den Regulierungsverfahren, sondern sogar das Recht, diese wörtlich "mitzuschreiben". Es ist zu befürchten, dass viele gute Regulierungsideen diesen "Vorhof" gar nicht erst passieren oder zugunsten bestimmter Industrien "verbogen" werden oder dort überhaupt erst entstehen – bevor Parlamente den Vorschlag erstmals zu Gesicht bekommen. Jener Teil des Demokratiedefizits der EU, dass Gesetzesvorhaben ausschließlich von der Kommission kommen anstatt aus dem Parlament, und damit aus Prinzip nicht vom Souverän, würde so noch deutlich vertieft. Und der Freihandel erhielte über diese institutionelle Neukreation absoluten Vorrang – vor allen anderen Politikzielen. Das wäre der Grundstein einer Handelsdiktatur.

FALKE: Supranationale transatlantische Regulierungsbehörden wird das Abkommen nicht schaffen. Es wird ein "lebendes Abkommen" sein, das ständiger Anpassung und Neujustierung bedarf. Aus diesem Grunde sind ein Regulierungsforum und im Landwirtschaftsbereich ein Kooperationsgremium für Gesundheits- und Pflanzenschutzstandards angedacht. Das Regulierungsforum wird jedoch keine regelsetzende Wirkung haben, es wird dem Austausch und der Konsultation dienen. Denn beide Seiten werden sich die elementaren Regulierungskompetenzen durch Gesetzgebungsprozesse und durch Regelsetzung durch nationale Behörden nicht nehmen lassen. Weder der amerikanische Kongress noch das europäische Parlament würden derartige Beschneidung ihrer Rechte hinnehmen. Sehr sinnvoll könnte ein derartiges Gremium jedoch sein, um zukünftige Regulierungsfelder und Probleme zu identifizieren und den Regelsetzungsprozess zu koordinieren.

Ihr abschließendes Fazit?

FALKE: Die mangelnde Informationspolitik der EU und der verzerrte Diskurs in Deutschland haben zu der Fehleinschätzung geführt, dass TTIP ein im amerikanischen Interesse stehendes Abkommen ist, das deutschen oder europäischen Belangen nicht Rechnung trägt. Diese Einschätzung ist falsch. Ein ausgewogenes Abkommen, das auch den legitimen Regulierungsbedürfnissen beider Seiten Rechnung trägt, wird Vorteile für sowohl große wie für kleine Unternehmen schaffen und ebenso für die Verbraucher. Deutschland muss das Abkommen als EU-Vorhaben verstehen, das auch die Interessenlagen anderer Mitgliedsstaaten (die ost- und mitteleuropäischen Staaten) miteinbezieht und nicht nur an deutschen Befindlichkeiten orientiert sein kann. Da Deutschland in der Vergangenheit überproportional von offenen Märkten profitiert hat, muss man die Frage stellen, ob der Bundesrepublik mit einem wenig ambitionierten Abkommen wirklich gedient ist. Zur Beurteilung dieser Frage muss jedoch die Bundesregierung die Vorteile wie auch die Absicherungen gegen Unterminierung nationaler Regulierungskompetenzen sehr viel deutlicher artikulieren. Die EU-Kommission sollte auf eine offensive Kommunikationsstrategie setzen, die auf größtmöglicher Transparenz aufbaut.

FELBER: Das TTIP dient den falschen Zielen: Freihandel, freier Kapitalverkehr und Investitionen sind keine Ziele an sich, sie sind Mittel. Völkerrechtliche Verträge sollten den übergeordneten Politikzielen dienen: Menschenrechte, nachhaltige Entwicklung, gerechte Verteilung, Finanzstabilität, kulturelle Vielfalt. Die Wirtschaftsfreiheiten sollten nur dosiert – in dem Maß und der Qualität, wie sie den Zielen dienen – gewährt werden und nicht via "Superregulierungen" über diese Ziele gestellt und in privaten Zusatzjustizen gegen sie durchgesetzt werden. Der Prozess für völkerrechtliche Abkommen muss demokratischer werden. Das Urmandat für die Verhandlung sollte vom Souverän kommen, die Verhandlungen müssen transparent und partizipativ laufen und das Ergebnis allein vom Souverän abgestimmt werden.

Mag., geb. 1972; Universitätslektor und Autor, zuletzt von "Freihandelsabkommen TTIP. Alle Macht den Konzernen?", 2014, lebt in Wien. E-Mail Link: info@christian-felber.at, Externer Link: http://www.christian-felber.at

Dr. rer. soc., geb.1952; Professor für International Studies, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Findelgasse 7–9, 90402 Nürnberg. E-Mail Link: Barbara.haefner@fau.de