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Die Entstehung des Mitte-Paradigmas in Politik und Gesellschaft | Mitte | bpb.de

Mitte Editorial Die Mittelschicht – das unbekannte Wesen? Die Mittelschicht – stabiler als gedacht Gefühlte Verunsicherung in der Mitte der Gesellschaft? Die Auflösung der migrantischen Mittelschicht und wachsende Armut in Deutschland Die neue globale Mittelschicht Die Wiederkehr der Konformität? Wandel der Mentalitäten – Wandel der Generationen Das Unbehagen in der bürgerlichen Mitte Die Entstehung des Mitte-Paradigmas in Politik und Gesellschaft

Die Entstehung des Mitte-Paradigmas in Politik und Gesellschaft

Herfried Münkler

/ 16 Minuten zu lesen

In der politischen Ideengeschichte ist die politische Mitte gelegentlich als Mittelmaß, mitunter auch als Eliteanforderung gedacht worden. In Deutschland ist die Ausrichtung an der politischen Mitte tief in der politischen Mentalität verankert.

Die Vorstellung, dass "die Mittleren" in der Ordnung des Gemeinwesens dominieren sollen, taucht erstmals bei dem griechischen Gesetzgeber Solon auf, und zwar als Ausgleich zwischen Ober- und Unterschicht: "Denn dem Volk gab ich Befugnis so viel wie genug ist, von seiner Ehre nichts nahm ich und tat nichts hinzu. Doch zu denen man aufsah des Reichtums halber, die Mächt’gen, auch die ließ ich nur das haben, was ihnen gebührt, stellte mich hin und deckte den Schild meiner Macht über beide. Siegen entgegen dem Recht ließ ich nicht die und nicht die." Das war im siebten vorchristlichen Jahrhundert eine durchaus revolutionäre Idee, denn bis dahin hatten "die Oberen", hoi kaloi kai agathoi, die Schönen und Guten, wie sie sich selber nannten, in jeder Hinsicht das Sagen gehabt. Aber die Adelsfamilien hatten mitsamt ihrem jeweiligen Anhang gegeneinander um die Herrschaft gekämpft, und so waren die Städte in immer neuen Bürgerkriegen versunken. Dieser Kampf der Adelsfaktionen ist typisch für die Auflösung einer traditionalen Ordnung; er lässt sich nicht nur in den Stadtstaaten der griechischen Antike, sondern auch in denen des spätmittelalterlichen Italiens beobachten: Hatte eine Adelsfamilie die Oberhand gewonnen, trieb sie die konkurrierenden Familien ins Exil, wo diese dann neue Kräfte sammelten und Bündnisse mit den herrschenden Familien anderer Städte organisierten, um schließlich mit Waffengewalt in ihre Heimatstadt zurückzukehren und dort wieder die Macht zu übernehmen. Danach ging der Machtkampf mit umgekehrten Vorzeichen weiter, und wenn nicht eine der beiden Seiten erschöpft aufgab oder von ihren Gegnern "mit Stumpf und Stiel" ausgerottet wurde, so war dies ein im Prinzip endloser Kampf. Auf Dauer war das für die politisch und wirtschaftlich aufstrebenden Städte ruinös. Es musste eine Lösung gefunden werden. Solons Vorschlag einer Herrschaft des Rechts als Mitte zwischen dem einfachen Volk und den Mächtigen zielte in diese Richtung. Der ruinöse Konflikt sollte durch einen fairen Kompromiss beendet werden.

Die miteinander konkurrierenden Adelsfaktionen waren vertikal, also von oben nach unten, organisiert. Vor allem in den unteren Schichten der Gesellschaft sammelten die Aristokraten eine Anhängerschaft, die sie bewaffneten, mit deren Hilfe sie die Kämpfe austrugen oder ihre Widersacher tyrannisierten. Diese Mischung aus Schlägerbande und Kampfverband wurde von den Aristokraten alimentiert, um eine verlässliche Gefolgschaft zu bekommen. Diese Rechnung ging aber nicht immer auf, jedenfalls dann nicht, wenn aus den Reihen der "Unteren" eigene Anführer erwuchsen, von denen die Vorstellung lanciert wurde, man solle künftig nicht mehr für das Interesse einer Adelsfamilie kämpfen, sondern für die eigenen Interessen, die der "Unteren" eben. So entwickelten sich gegen die vertikalen Gefolgschaftsstrukturen ansatzweise horizontale Solidaritätsvorstellungen, in denen man eine Frühform des Klassenkampfs sehen kann – jedenfalls haben das einige Historiker getan.

Aber der Zusammenhalt der Unteren war nur rudimentär, und so waren sie auf Anführer angewiesen, ohne die sie keine Handlungsfähigkeit besaßen. Sowohl in den griechischen Städten der Antike als auch in den italienischen Städten des späten Mittelalters wurden diese Anführer zu Tyrannen, wie man sie allgemein bezeichnete, da ihre Herrschaft sich nicht auf die Legitimitätsvorstellungen des Adels, sondern auf das Gewaltpotenzial ihrer Anhängerschaft stützte. Die Errichtung einer Tyrannis wurde so zu einer weiteren Alternative gegenüber den Kämpfen der Adelsfaktionen und der Suche nach einer Mitte als Herrschaft des Rechts. Die Tyrannen fanden über ihre unmittelbare Entourage hinaus Anhänger, weil sie für Ruhe und Ordnung sorgten. Idealtypisch betrachtet gab es also drei Modelle politischer Herrschaft: die traditionsgestützte der alten Adelsfamilien, die aber prekär war, weil diese immer wieder gegeneinander kämpften; die gewaltgestützte Macht der Tyrannen, die für Ruhe und Sicherheit sorgte, aber permanent in der Gefahr stand, in eine Willkürherrschaft umzuschlagen; und die Idee einer an der Mitte ausgerichteten Herrschaft des Rechts, deren Problem jedoch war, dass es dafür vorerst keine starke soziale Trägerschaft gab.

Mit der Zeit freilich wurde die Herrschaft der Tyrannen unerträglich, die Abgaben, die den Bürgern zwecks Finanzierung der Leibgarde und des zunehmend luxuriösen Lebensstils der Tyrannen auferlegt wurden, wuchsen ständig, und jeder Widerspruch, der sich dagegen erhob, wurde mit Gewalt unterdrückt. Kurzum, die Tyrannis wurde zu dem, was man heute darunter im Allgemeinen versteht. Die Formierung der Mittleren als einer gesellschaftlichen Gruppe, die Anspruch auf die Herrschaft in den Städten erhob, erfolgte somit in Auseinandersetzung mit zwei bedrohlichen Herausforderungen: den permanenten Machtkämpfen der Adelsfaktionen, der "Oberen", die keine stabile Herrschaftsordnung mehr auszubilden vermochten, und einer sich in hohem Maße auf die unteren Schichten stützenden Tyrannis, die zwar den Bürgerkrieg im Innern beendet, aber die finanzielle Belastung für die Ruhe im Innern dramatisch gesteigert hatte. Von ihrer Mentalität her war die zunächst relativ kleine Gruppe der Mittleren eigentlich gar nicht auf die Herrschaft aus und sah darin eher eine Last, der sie gerne aus dem Weg gegangen wäre; angesichts der bestehenden Alternativen ließ sie sich jedoch zunehmend auf dieses Projekt ein.

Damit wird sogleich aber auch die Achillesferse einer Herrschaft der Mittleren sichtbar: dass sie sich gar zu gerne wieder aus dieser Verpflichtung, die sie mehr denn andere als Last empfinden, zurückziehen wollen. Ist, schematisch betrachtet, die Machtausübung durch die "Oberen" infolge deren exzessiver Machtansprüche, ihres Ehrgeizes und ihres Konkurrenzbewusstseins für die Mittelschichten gefährlich, und besteht die Gefahr einer Herrschaft der "Unteren" darin, dass sie auf Führer angewiesen sind, die ihre Eigeninteressen nicht nur über das Wohl des Gesamtverbands, sondern auch über das ihrer unmittelbaren Anhängerschaft stellen, so ist die politische Ordnung der Mittleren auf Dauer durch deren begrenztes Interesse an Herrschaftsausübung bedroht. Sie verstehen die von ihnen gepflegte Ordnung als Bürgerschaft und nicht als Herrschaft, entwickeln dabei im wohlverstandenen Eigeninteresse normative Leitideen der Machtausübung und begrenzen so den materiellen wie immateriellen Mehrwert, den man aus dem Innehaben von Macht ziehen kann. So wird aus dem großen Vorzug einer Herrschaft der Mittleren, nämlich deren reduzierter Lust an der Macht, deren größere Gefährdung, und die besteht darin, dass die Anreize der Machtausübung zu gering sind, um deren Belastungen und Beschränkungen dauerhaft auf sich zu nehmen. Das hat sich bis heute nicht geändert. Die Herrschaft der Mittleren steht in der Gefahr des Austrocknens.

Ideengeschichtlicher Streit um die Mitte als Maßstab und Machthaber

Die erste große politiktheoretische Kontroverse um die Eignung der Mitte als gesellschaftlicher Maßstab und Inhaber der politischen Direktionsgewalt ist zwischen dem Philosophen Platon und dessen Schüler Aristoteles ausgetragen worden. Platons Kritik an der athenischen Demokratie ist über weite Strecken eine Kritik am Ordnungsmodell der Mitte, wie es in Athen unter vergleichsweise starkem Einbezug der unteren Schichten politisch-institutionelle Gestalt gewonnen hatte. Der Gegenentwurf, den Platon in seiner Politeia entwickelt, läuft auf eine Herrschaft der Besten hinaus: Frieden und Gerechtigkeit in den Städten, so die These, würden erst dann herrschen, wenn die Philosophen Könige oder die Könige Philosophen geworden seien, wie die berühmte Formel bei Platon lautet.

Das Qualifikationskriterium für die Herrschaftsausübung ist danach nicht die Herkunft oder die Macht der Familie, wie im alten aristokratischen Modell, sondern Weisheit im Sinne eines Wissens um das optimale Zusammenwirken der gesellschaftlichen Teile, und das nicht nur in funktionaler, sondern auch in ethischer Hinsicht. Platon ist der Begründer einer normativ ausgerichteten Theorie der Eliteherrschaft, wenn denn unter Elite nicht das bloße Innehaben von Macht verstanden wird, wie das in den modernen Elitetheorien der Sozialtheoretiker Gaetano Mosca und Vilfredo Pareto oder dem Soziologen Robert Michels der Fall ist, sondern der Elitegedanke mit einem komplexen Auswahlprozess verknüpft ist, in dem Qualifikationskriterien über den Zugang zur Macht entscheiden. Weisheit, so Platons Vorstellung, soll in Verbindung mit Eigentumslosigkeit sowie einer Nichtidentifizierbarkeit der eigenen Kinder in den Kohorten des Nachwuchses dafür sorgen, dass Machtmissbrauch und sittliche Korruption der Elite ausgeschlossen ist.

Das war ein dezidierter Gegenentwurf zum Modell der Machtausübung durch die Mittleren, die immer im Verdacht stehen, bloß mittelmäßig zu sein und gerade nicht die Besten zu sein, die in einer Gesellschaft zu finden sind. Dementsprechend haben sich die Vertreter elitistischer Politikmodelle immer wieder über die Mitte lustig gemacht. Insbesondere die Philosophie Friedrich Nietzsches ist – auch wenn sie selbst darin gar nicht so eindeutig ist – von vielen ihrer Anhänger als eine scharfe Absage an die Mitte im Sinne der Mittelmäßigkeit verstanden worden. Inbegriff und Symbol dieser Mittelmäßigkeit ist der Spießer beziehungsweise Spießbürger, der gerade nicht das Herausragende und Hervorstechende verkörpert, sondern in einer Verbindung von Traditionalität und Gewöhnlichkeit auf der Gesellschaft lastet und alles erdrückt, was in ihr nach Besonderheit strebt. Eine gemilderte Variante dieser Mitte-Kritik findet sich bei Wilhelm Busch, dessen Bildergeschichten im Anschluss an Arthur Schopenhauer davon erzählen, wie ein unbändiger Wille nur Unheil und Zerstörung anrichtet, während genügsame Selbstbescheidung für die meisten Menschen die klügste Vorgabe ihres Lebensentwurfs wäre – wäre, weil die meisten nicht von sich aus dazu fähig sind, sondern dafür erst Rückschläge und Enttäuschungen, Krisen und Katastrophen erfahren müssten. Das Sich-Abfinden mit dem Mittleren ist danach Einsicht in die beschränkten eigenen Fähigkeiten; es ist kluge Resignation angesichts der zerstörerischen Folgen von Selbstüberschätzung. Die Mitte wird von Busch mit einem milden Lächeln als das den meisten Menschen Angemessene und Bekömmliche empfohlen: "Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, das man lässt." Mitte ist danach kluge Resignation.

Diese vornehmlich ethisch und ästhetisch ausgelegte Kritik an der Mitte, zumindest diese Distanzbekundung ihr gegenüber, hat insofern politische Implikationen, als sie die Mitte in den Ruch der bloß zweit- oder drittbesten Lösung des Problems stellt. Das haben die antiken Politiktheoretiker, die auf die Mitte als Antwort auf das Problem des Zerfalls der traditionalen Ordnung gesetzt haben, nicht so gesehen. Aristoteles, der Platons Ideal der Philosophenherrschaft verworfen hat, weil es, wenn es tatsächlich realisiert würde, völlig inflexibel sei gegenüber innergesellschaftlichen Dynamiken und Veränderungen der äußeren Konstellationen, hat die Herrschaft der Mittleren ausdrücklich nicht als Resignation gegenüber einer unmöglichen Herrschaft der Besten angesehen, sondern hat die Mitte und das Beste konzeptionell miteinander verbunden. Für Aristoteles waren die Mittleren nämlich gerade nicht die große Masse der Gesellschaft, die es zu mehr als zum Mittelmaß nicht gebracht hatte, wie eine nietzscheanisch inspirierte Sicht sie klassifizieren würde, sondern die Mittleren waren für ihn die Virtuosen beim schwierigen Treffen eines Ziels, das in der Mitte zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig lag. In diesem Sinne ist für Aristoteles die Mitte kein Zustand, sondern eine permanente Herausforderung, der man sich immer wieder aufs Neue stellen muss.

Um dies zu verdeutlichen, hat sich Aristoteles des Bildes der Bogenschützen bedient, die dann die besten sind, wenn sie die Mitte und nicht die Ränder einer Zielscheibe treffen. Die Mitte zu treffen ist darum so schwer, weil sie die geringste Ausdehnung hat und man sie am ehesten verfehlt. So muss man beim Anvisieren des Ziels die Schwerkraft des Pfeils und die Auswirkung dessen auf seine Flugbahn einrechnen. Mit anderen Worten: Man muss so tun, als wolle man über das Ziel hinausschießen, um es optimal, das heißt in der Mitte, zu treffen. Auf das Verhalten der Menschen bezogen, heißt das für Aristoteles, dass man die eigenen Neigungen, Vorlieben und Abneigungen immer im Auge haben muss, wenn man die Mitte treffen will. Tapferkeit, so Aristoteles’ Überlegung, ist die Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit, Freigebigkeit die Mitte zwischen Geiz und Verschwendungssucht. Wer weiß, dass er zu Feigheit neigt, muss sich so verhalten, als sei er tollkühn, um tatsächlich tapfer zu sein; wer wiederum zu Verschwendungssucht neigt, muss sich seinen eigenen Vorstellungen zufolge wie ein Geizkragen benehmen, um als freigebig angesehen zu werden.

Diese zunächst ethischen Überlegungen hat Aristoteles auf die Ordnung des Politischen übertragen und die politische Mitte als die Position definiert, die nicht nur gegenüber den Reichen und Mächtigen sowie gegenüber den Armen und Abhängigen gleichen Abstand hält, sondern die auch die größte Distanz zu den mit den jeweiligen gesellschaftlichen Positionen verbundenen ethischen Dispositionen und Verhaltensweisen hat. Ein mittleres Einkommen beziehungsweise Vermögen war dabei nach Aristoteles’ Auffassung eine gute Voraussetzung, aber es war bei Weitem nicht hinreichend, um den Anforderungen der Mitte zu genügen. Dafür war es vielmehr erforderlich, immer wieder die Dynamik von Oben und Unten, Reich und Arm auszugleichen, um das Gefüge des Stadtstaates in der Balance zu halten. Die Mitte war somit die ethisch wie politisch anspruchsvollste Position, an der man sich orientieren konnte, und insofern stellte sie für Aristoteles das eigentliche Elitemodell dar. Die aristotelische Mitte-Philosophie ist für all diejenigen, die sich heute der gesellschaftlichen und politischen Mitte zurechnen, alles andere als ein politisch-ethischer Tranquilizer, sondern ein Anreger und Aufreger, der die Mitte als eine kolossale Herausforderung und Anstrengung herausstellt. Das wird gerne übersehen, und zwar gerade von denen, die sich selbst als Mitte begreifen und bezeichnen.

In Aristoteles’ Definition ist die Mitte also kein Rabatt gegenüber den Anforderungen der Exzellenz, sondern vielmehr deren Akzentuierung. Das hat mit dem Erfordernis des Ausbalancierens der Extreme zu tun, wie man das Bild der die Mitte einer Zielscheibe anvisierenden Bogenschützen ins Politische übersetzen kann. Die Mittleren müssen das rechte Maß kennen, um eine Gesellschaft in der Balance zu halten. Sie müssen die einen fordern und die anderen beruhigen und zurückhalten, und dazu müssen sie genau wissen, auf wen sie wie einzuwirken haben. Um die Mitte zu halten und zu bewahren, bedürfen deren Angehörige nicht nur ethische Eigenschaften, sondern auch gesellschaftliche Kenntnisse und politisches Wissen. Sie müssten gerecht und politisch klug sein – eine Verbindung, die nicht gerade häufig anzutreffen ist und von der Aristoteles gemeint hat, dass sie, wenn überhaupt, in der politischen Mitte zu verorten sei.

Mitte oder Fortschritt: zwei alternative Denkmodelle politischer Ordnung

Die Vorstellung von der Mitte, die den aristokratischen Machtkampf pazifiert und den Aufstieg von Tyrannen verhindert, entwickelte sich bei den Griechen und dann erneut bei den Italienern der Renaissance im städtischen Rahmen, während bei großräumlich angelegten Ordnungen die Herrschaft (in der Regel die eines Monarchen) nicht infrage gestellt wurde. Es bedurfte einer Bürgerschaft, die horizontale Zusammengehörigkeitsvorstellungen ausgebildet hatte, um das vertikale Strukturmodell von Herrschaft und Untertanen herauszufordern und abzulösen. Der Anspruch der Mittleren, das Gemeinwesen ordnen und regieren zu können, war historisch an den Aufstieg der Städte gebunden – und zwar selbstständiger Städte mittlerer Größe, während Großstädte im Zentrum von Großreichen gegenüber der Vorstellung der Mitte auf Distanz blieben: Hier wurde Herrschaft mithilfe eines professionellen Apparats und seiner Erzwingungsstäbe ausgeübt, womit klar war, dass die damit verbundenen Aufgaben nicht von einer Honoratioren- beziehungsweise Dilettantenverwaltung durch die mittleren Bürger übernommen werden konnten. Herrschaft der Mittleren beziehungsweise der Mitte hieß über die längste Zeit nämlich auch, dass auf eine Professionalisierung des Politikbetriebs verzichtet wurde und die Bürger im Reihendienst die Ämter und Aufgaben übernahmen. Nur so glaubte man, den mit der Idee der Mitte verbundenen Gedanken der Gleichheit der Mittleren aufrechterhalten zu können. Im Honoratiorensystem der deutschen Kommunalverfassung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist diese Vorstellung noch einmal aufgelebt, bis sie durch die Professionalisierung der kommunalen Spitzen in Form von Verwaltungsjuristen überlagert und allmählich beseitigt worden ist. Inzwischen bringt die Mitte der Gesellschaft kaum noch die Zeit und das Interesse auf, sich um die Gemeinde, in der man lebt, zu kümmern.

Grundsätzlich ist die Vorstellung von der Mitte als Ordnungszentrum von Gesellschaft und Politik alternativ zu der Vorstellung, Politik sei ein beständiger Kampf zwischen den Kräften des Fortschritts und denen der Beharrung, womöglich gar des Rückschritts, also der Reaktion. Die Mitte, gleichgültig, ob sie nun auf "oben und unten" oder "links und rechts" bezogen wird, ist eine Ordnungsprojektion im Raum, während sich die Zuordnungskategorien Fortschritt, Rückschritt und Stillstand auf die Strukturen von Zeit beziehen. Beide Modelle gehen von unterschiedlichen Maßgrößen aus, die sie ihrer Ordnung zugrunde legen, und deswegen widersprechen sie einander nicht unmittelbar, sind aber auch nicht miteinander zu kombinieren. Wo eine politische Ordnung wesentlich durch die Herausstellung der Mitte beschrieben wird, tritt die Idee einer geschichtlichen Entwicklung und der politischen Positionierung in ihr in den Hintergrund. Wenn dagegen die Positionierung in einem geschichtlichen Entwicklungsmodell zum Maßstab der politischen Zuordnung geworden ist, spielt die Mitte kaum noch eine Rolle: Avantgarde und Reaktion sind dann als Hauptkontrahenten ins Zentrum getreten.

Was hier beobachtet und bewertet wird, ist das Gegeneinander von Beschleunigern und Aufhaltern einer Entwicklung, das heißt, die politische Ordnung wird im Hinblick auf einen zentralen Gegensatz beschrieben, um den sich alles dreht, während in der verräumlichten Ordnung von links und rechts, oben und unten eher der Ausgleich zwischen den Gegensätzen und die Bändigung der politischen Fliehkräfte im Zentrum der Beobachtung stehen. Sicherlich kann man die politischen Positionen von links und rechts auch in die von Beschleunigung und Entschleunigung übersetzen (jedenfalls, wenn unter "rechts" politisch konservative Positionen verstanden werden), aber die Beurteilung und Bewertung des damit Bezeichneten unterscheiden sich klar voneinander. Die Vorstellung von der gesellschaftlichen und politischen Mitte sowie deren Rändern folgt erkennbar anderen Parametern als jenen von Fortschritt und Rückschritt. Welches der beiden Modelle jeweils präferiert wird, hat mit kulturellen Rahmenbedingungen, wie etwa der Verzeitlichung von Ordnungsmodellen seit dem 18. Jahrhundert, und den jeweiligen politischen Herausforderungen zu tun. Die Geschichte der Weimarer Republik etwa lässt sich eher in Begriffen des politischen Raumes als der politischen Zeit als Kampf der Extreme und Erosion der Mitte beschreiben. Die Begrifflichkeit von Fortschritt und Rückschritt ist nur schwer anwendbar, ohne selbst zur Partei zu werden. Mitunter nämlich werden die beiden Ordnungsmodelle zu Orientierungsangeboten der politischen Parteien, die darüber auf die Identifikationsmuster und Orientierungsbedürfnisse ihrer Mitglieder und Anhänger Einfluss nehmen. Für die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland ist festzuhalten, dass seit etwa zwei Jahrzehnten die Vorstellung von Fortschritt und Rückschritt eine geringere Rolle spielt als die der Mitte und ihrer Ränder.

Die Mitte als Orientierungsfeld der Deutschen

Es gibt Demokratien, die wesentlich durch den Gegensatz zweier politischer Parteien beziehungsweise Richtungen gekennzeichnet sind, in denen der Wähler also unmittelbar über Regierung und Opposition entscheidet, und es gibt solche, in denen fast alle politischen Parteien bestrebt sind, sich als Kraft der Mitte darzustellen, um aus der Mitte des politischen Spektrums heraus durch die Wahl geeigneter Koalitionspartner die Regierung zu bilden. In den USA, Großbritannien, für lange Zeit auch in Frankreich und Italien war Ersteres zu beobachten: Hier waren beziehungsweise sind nach wie vor Wahlkämpfe eine Zeit der Polarisierung und der Zuspitzung politischer Programme und Profile. In Deutschland und einigen kleineren Ländern West- und Mitteleuropas ist das anders: Hier unterscheiden sich die großen Parteien stärker durch das Angebot an Personal als durch die Programmatik, und als regierungsfähig gilt nur beziehungsweise ist nur, wer den Anspruch geltend machen kann, die gesellschaftliche und politische Mitte zu besetzen.

In diesen beiden Grundtypen der Demokratie kommen institutionelle Regelungen, wie Mehrheits- versus Verhältniswahlrecht oder präsidiale versus parlamentarische Demokratie, zum Ausdruck, aber auch historische Erinnerungen an ein politisches Scheitern, aus denen gelernt zu haben man für sich in Anspruch nimmt, sowie schließlich soziokulturelle Mentalitäten und die jeweilige Sozialstruktur. Eine Gesellschaft, die sozialstrukturell eher dem Umriss einer Zwiebel als dem einer Pyramide oder gar einer Eieruhr ähnlich ist, also eine überaus starke Mitte hat beziehungsweise in der sich der Großteil der Bürger sozial den mittleren Schichten zurechnet, wird eine starke Neigung haben, das politische Spektrum ebenfalls stark auf die Mitte hin auszurichten. In Deutschland ist dies in besonderem Maße der Fall, und neben wahlrechtlichen Regelungen, von denen die Parteien der Mitte begünstigt und die der äußeren Ränder benachteiligt werden (Fünfprozentklausel), spielt dabei die immer wieder warnend ins Spiel gebrachte Erinnerung an die Weimarer Republik eine entscheidende Rolle: Diese Republik sei, so die Mahnung, an der Erosion der politischen Mitte und der Flucht in die Parteien der äußersten Rechten und äußersten Linken zerstört worden.

Lässt man die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Revue passieren, so fällt auf, dass bis zum Ende der 1990er Jahre Regierungswechsel durch ein verändertes Koalitionsverhalten der FDP, aber nicht durch eine grundlegende Verschiebung des politischen Spektrums zustande kamen: Den Kanzler stellte die Partei, der es gelungen war, mit der FDP eine Koalition zu bilden. Erst mit der Abwahl Helmut Kohls und der Bildung der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer 1998 wurde diese Regel durchbrochen, und mit dem offenbar irreversiblen Niedergang der FDP in den vergangenen Jahren dürfte eine Rückkehr dazu ausgeschlossen sein. Parallel dazu haben sich mit dem Aufstieg der Parteien Die Linke und der Alternative für Deutschland Akteure auf den Außenpositionen des politischen Spektrums platziert, die sich dort für längere Zeit halten dürften. Entsprechend der Mitteorientierung könnte dies zur Folge haben, dass zumindest auf Bundesebene für längere Zeit Regierungsbildungen auf große Koalitionen hinauslaufen, während auf Länderebene in ausgewählten Fällen das Experiment eines Links- beziehungsweise Rechtsbündnisses gewagt wird, um die Reaktion der Wähler darauf zu beobachten und zu testen.

Es ist grundsätzlich nicht auszuschließen, dass im Gefolge dessen in Deutschland das politische System von einer auf die Mitte hin ausgerichteten Ordnung zu einer Blockbildung rechts und links der Mitte umgestellt werden könnte, doch ist eine solche fundamentale Veränderung zurzeit noch nicht zu erkennen. Es steht zu vermuten, dass es dazu nur dann kommen kann, wenn in Deutschland auch eine soziale Polarisierung entsteht, bei der die starken mittleren Schichten der Gesellschaft aufgerieben würden. Auch das ist zurzeit, trotz einiger lautstarker publizistischer Warnungen, noch nicht erkennbar, ist aber angesichts der Unsicherheit weltwirtschaftlicher Entwicklungen und weiterer Krisen im Euro-Raum nicht völlig unwahrscheinlich. Die für die Bonner wie die Berliner Republik charakteristische Mitte-Orientierung der Deutschen ist sicherlich nicht in Stein gemeißelt, aber sie ist zu tief in den politischen Mentalitäten der Deutschen verankert, als dass sie in einer kürzeren Zeitspanne verschwinden würde.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zit. nach: Hermann Fränkel, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, München 1962, S. 258.

  2. Zur Geschichte der Tyrannis im antiken Griechenland vgl. Helmut Berve, Die Tyrannis bei den Griechen, 2 Bde., München 1967; zur Tyrannis im spätmittelalterlichen Italien Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Stuttgart 197610, S. 27ff.

  3. Vgl. Jürgen Gebhardt/Herfried Münkler (Hrsg.), Bürgerschaft und Herrschaft. Zum Verhältnis von Macht und Demokratie im antiken und neuzeitlichen politischen Denken, Baden-Baden 1993.

  4. Eine detaillierte Darstellung der ideengeschichtlichen Kontroversen um die politische Rolle der Mitte findet sich bei Herfried Münkler, Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung, Berlin 2010, S. 75–136. Dort Einzelnachweise der nachfolgend angezogenen Autoren, auf die hier verzichtet wird.

  5. Zur Debatte dessen vgl. Herfried Münkler/Grit Straßenberger/Matthias Bohlender (Hrsg.), Deutschlands Eliten im Wandel, Frankfurt/M.–New York 2006.

  6. Vgl. Wilhelm Ehrlich, Wilhelm Busch, der Pessimist. Sein Verhältnis zu Arthur Schopenhauer, München 1962.

  7. Auf diesen Punkt hat Reinhart Koselleck immer wieder hingewiesen. Vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1979.

  8. Dazu ausführlich H. Münkler (Anm. 4), S. 225ff.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Herfried Münkler für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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Dr. phil., geb. 1951; Professor für Theorie der Politik am Institut für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin. E-Mail Link: herfried.muenkler@rz.hu-berlin.de