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Das Unbehagen in der bürgerlichen Mitte | Mitte | bpb.de

Mitte Editorial Die Mittelschicht – das unbekannte Wesen? Die Mittelschicht – stabiler als gedacht Gefühlte Verunsicherung in der Mitte der Gesellschaft? Die Auflösung der migrantischen Mittelschicht und wachsende Armut in Deutschland Die neue globale Mittelschicht Die Wiederkehr der Konformität? Wandel der Mentalitäten – Wandel der Generationen Das Unbehagen in der bürgerlichen Mitte Die Entstehung des Mitte-Paradigmas in Politik und Gesellschaft

Das Unbehagen in der bürgerlichen Mitte

Heinz Bude

/ 13 Minuten zu lesen

Das Unbehagen in der bürgerlichen Mitte resultiert aus der Erkenntnis, dass eine bürgerliche Existenzausstattung einen nicht davor rettet, im unteren Teil der Mitte zu landen und ein Leben voller Statusinkonsistenzen hinnehmen zu müssen.

In modernen Gesellschaften behaupten bürgerliche Lebensweisen in der Mitte der Gesellschaft ihren angestammten Platz. Da sind die Lebensformen der Langfristperspektiven, der Leistungsbereitschaft, der Bildungsbestrebtheit, der Selbstverantwortung, des Tradierungswillens, der Familienwerte, des gesellschaftlichen Teilhabeanspruchs, des zivilen Engagements und des persönlichen Bedeutungshungers zu finden. Man sieht sich selbst als Rückgrat der Gesellschaft, als Trägergruppe der Kultur und als Modell für Selbstverwirklichungsideale. Das sieht die Mitte nicht nur selbst so, die anderen, die von unten zur Mitte streben oder von oben mit der Mitte operieren, sehen das genauso. Das Publikum glaubt, in der Mitte der Gesellschaft die Chancen und den Charme einer modernen Gesellschaft verkörpert zu sehen, die nicht länger auf zugeschriebene Merkmale aufbaut, sondern erworbene Kompetenzen als ausschlaggebend für Anerkennung und Erfolg hält. Wer trotz Benachteiligung durch Elternhaus, Geburtsort oder Geschlechtsdefinition etwas aus seinem Leben machen will, muss sich selbst motivieren, sich selbst bilden und sich selbst erschaffen wollen. Fremdanklagen und Vorwurfsideologien mögen ihre berechtigten Gründe haben, können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass moderne Gesellschaften die Sozialisierung des Einzelnen als Individuierung seiner Person denken. Ohne Loslösungsenergie, ohne Selbstständigkeitsstreben und ohne Selbstbestimmungswillen bleiben einem die ungeheuren Möglichkeiten einer Gesellschaft, die die unablässige Differenzierung als Prinzip der Steigerung und den permanenten Wandel als Motor der Befreiung preist, verschlossen. Man muss schon Frau oder Herr über sein eigenes Schicksal werden wollen, um in einer modernen Gesellschaft sein Glück finden zu können. Darin liegt der bürgerliche Kern des modernen Versprechens auf Inklusion aller, die guten Willens sind.

Das moderne Berufssystem ist der objektive Ausdruck dieses sozialgeschichtlich tief sitzenden Zusammenhangs. Die freien Berufe wie Ärzte, Rechtsanwälte, Architekten, Berater und Therapeuten verlangen genauso professionelle Selbstdisziplin und das Denken in größeren Zusammenhängen wie die Positionen der leitenden Angestellten in den Serviceabteilungen und im mittleren Management. Im Handel oder bei den Banken muss man selbstständig disponieren und flexibel reagieren können. Und der unternehmerische Unternehmer, so wie Joseph Schumpeter ihn beschrieben hat, stellt sich als der bürgerliche Held der modernen Gesellschaft dar: wagemutig, energisch und verführerisch. Er ist dem freien Künstler näher als dem beamteten Wissenschaftler, die beide natürlich ebenfalls zum bürgerlichen Personal der gesellschaftlichen Mitte zu zählen sind. Aus unternehmerischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Motiven speist sich zudem die heute viel beschworene "kreative Klasse" in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen und bei den Anbietern von unternehmensbezogenen Dienstleistungen, die den bürgerlichen Code mit dem Dekor der Diversität beleben. Das gilt freilich in gleichem Maße für das fachgeschulte Personal in der exportorientierten Hochproduktivitätsökonomie, das mit Verantwortungsbewusstsein, systemanalytischen Kompetenzen und lebenslangem Lernen in die Regimes der "flexiblen Spezialisierung" eingebunden ist. Die Facharbeiterschaft entwickelter Ökonomien verkörpert eine betriebspraktische Bürgerlichkeit auf dem "Shopfloor", ohne die eine Industrie 4.0 nicht zu denken wäre.

Bürgerlichkeit meint also ein Set funktionaler Motive und genereller Kompetenzen, die sich von der Trägergruppe des Bürgertums und von der Trägerstruktur der bürgerlichen Gesellschaft gelöst haben. Man muss kein Bürger sein, um zu verstehen, dass einen unter modernen Verhältnissen nur ein gewisses Maß an Bedürfnisaufschub, Selbstprogrammierung und Existenzwagnis voranbringt. Wichtiger scheint die Infrastruktur einer bürgerlichen Gesellschaft mit den Strukturelementen der Marktwirtschaft, des Privatrechts, der repräsentativen politischen Willensbildung, einer freien Presse und einer assoziativen Selbstverwaltung und Selbstartikulation in Gestalt von Vereinen, Klubs oder Bürgerinitiativen. Aber die hat den Charakter einer objektiven Voraussetzung, nicht einer subjektiven Überzeugung für die Performanz einer eigenständigen und selbstverantwortlichen Lebensführung. So bleibt Bürgerlichkeit als Aufgabe für die Einzelnen übrig, wenn das Bürgertum verschwunden ist und die bürgerliche Gesellschaft sich verwirklicht hat.

Allerdings zeigt der Rückblick auf den Entstehungskontext der Bürgerlichkeitssemantik, dass darin immer schon die Spannung dreier bürgerlicher Welten, zwischen (englischem) Wirtschaftsbürgertum, (französischem) politischem Bürgertum und (deutschem) Bildungsbürgertum steckte. Die drei Schlüsselmotive des privategoistischen, des zivilassoziativen und des selbstkritischen Selbstverständnis’ gehören zweifellos im Ganzen einer bürgerlichen Selbstauffassung zusammen; aber es handelt sich um eine unruhige Konstellation, die immer wieder Frontstellungen zwischen den jeweiligen Repräsentanten hervorbringt. Assoziationsbürger und Bildungsbürger finden sich zusammen gegen die eindimensionalen, nur an Geld und Erfolg interessierten Wirtschaftsbürger; Wirtschaftsbürger und Assoziationsbürger machen gemeinsam Front gegen die wirtschaftsfremden und organisationsunfähigen Bildungsbürger; es können sich manchmal sogar Bildungsbürger und Wirtschaftsbürger gegen die Assoziationsbürger verbünden, wenn diese auf die Straße gehen und als "Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft" (Erwin K. Scheuch) Gesellschaftsveränderung predigen. Was die bürgerlichen Lebensweisen am Ende aber zusammenhält, ist die Abgrenzung gegenüber dem Adel, dem Klerus, den Bauern oder den Arbeitern. Konstitutiv ist, wie Pierre Bourdieu unermüdlich herausgestellt hat, die Bereitschaft zur Distinktion gegenüber dem Anderen, dem es an bürgerlichen Tugenden, bürgerlichem Geschmack oder bürgerlicher Verantwortung mangelt. Heute ist es vor allem die Abgrenzung gegenüber einer subalternen Population von "Ausgeschlossenen", bei denen nicht das Geld als der hauptsächliche Defizitfaktor angesehen wird, sondern die Unbürgerlichkeit von Lebensstil und Existenzauffassung. Krank, so belegt die Soziologie gesundheitlicher Ungleichheit, macht nicht die Belastung durch harte Arbeit und geringes Einkommen, sondern die fehlende Aufmerksamkeit für eine gesunde, durch ausgeglichene Ernährung, ausreichende Bewegung und reduzierte Suchtmittel gekennzeichnete Lebensweise. Mit seriösen wissenschaftlichen Beschreibungen dieser Art bekräftigt die bürgerliche Mitte ihr Selbstbild, Quellgrund der modernen Gesellschaft zu sein.

Die bürgerliche Mitte kann sich freilich auf Dauer nicht nur negativ stabilisieren, sie bedarf zudem einer positiven Bezugsfigur der Selbstidentifikation. Der Bürger ohne Geschlecht mit dem Geschmack des 19. Jahrhunderts kann es nicht sein, weil mit dieser Bezeichnung zu viel Klassenkämpferisches als Gegenbegriff zum Arbeiter verbunden ist. Man braucht für die große Gruppe der Facharbeiter und der wissenschaftlich-technischen Intelligenz eine weniger polemisch aufgeladene und trotzdem nicht völlig wertneutrale Bezeichnung. Das war auf der starken sozialliberalen Linie der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, auf die sich Konservative und Sozialdemokraten letztlich geeinigt haben, der Kunstbegriff des "Arbeitnehmers". Dabei handelt es sich um ein Hybridkonzept, das den Kampfbegriff des Arbeiters aus der emanzipatorischen Tradition der Arbeiterbewegung mit dem Rechtsbegriff des Staatsbürgers aus der Tradition der sozialen Demokratie verquickt. Das ordnungspolitische Konzept der "Arbeitnehmergesellschaft", so wie es M. Rainer Lepsius aus den programmatischen Verlautbarungen der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt herausgelesen hat, stellt einen auf soziale Teilhaberechte abgestellten Bezugsbegriff für die verbürgerlichte Mitte des "demokratischen Kapitalismus" in Deutschland dar. Damit ließen sich proletarische Stammgefühle, kleinbürgerlicher Aufstiegswille und großbürgerliche Inklusionsbedarfe gleichermaßen ansprechen. Dem Individualeigentum als Garant bürgerlicher Freiheit und Unabhängigkeit trat das Kollektiveigentum als verlässlicher Rahmen für die Akkumulation von sozialen Schutzrechten und persönlichen Versorgungsansprüchen an die Seite.

"Noch vor 30 Jahren", schrieb Ralf Dahrendorf Anfang der 1960er Jahre, "war für viele Menschen 'Bürger"' ein Schimpfwort und 'Proletarier' ein Ehrenname. (…) Die Gesellschaft war zutiefst gespalten in 'Bürgerliche' und 'Proletarier', in die, denen man nachsagte, dass sie mit den bestehenden Zuständen zufrieden sind, und die, die alles Bestehende umwälzen und eine gänzlich neue Gesellschaft errichten wollten. Das war, wie gesagt vor kaum 30 Jahren. Wie anders dagegen sehen wir diese Begriffe heute!" "Bürger zu sein", bilanzierte Dahrendorf mit Blick auf die von ihm nicht so genannte, aber in der Sache bereits gemeinte Arbeitnehmergesellschaft, gelte jetzt "als selbstverständliche Qualität des Menschen". Der auf soziale Anrechte bezogene Bürgerbegriff des Arbeitnehmers hatte zudem den Vorteil, sowohl die in die Erwerbstätigkeit strebenden Frauen als auch die ins Land geholten "Gastarbeiter" einzuschließen. Unter dem Dach des Arbeitnehmers traf der Bürger die Bürgerin und der inländische den ausländischen Staatsbürger auf Augenhöhe.

Zwei Entwicklungen waren für das Veralten der Arbeitnehmergesellschaft des Nachkriegs und für den Aufstieg der Bürgergesellschaft "in Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert" (Paul Kennedy) verantwortlich. Zum einen die Rolle der Bürgerbewegungen bei den Revolutionen im Ostblock, die unter Berufung auf einen bürgerlichen Begriff einer "antipolitischen Politik" gegen die Systemlüge des Kommunismus aufbegehrten; zum anderen die Dekonstruktionen des wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssystems durch die Pluralisierung der Berufsbiografien und Beschäftigungsverhältnisse.

Nach 1989 erhielten der Bürger und die Bürgerin, die ihre Stimme erheben und sich zu Bürgerbewegungen zusammenschließen, den Klang einer wieder gewonnenen zivilen Souveränität. Ein gesellschaftliches System kann sich noch so sehr gegen seine Mitglieder verschanzen, irgendwann melden sich die Bürger und fordern die ursprüngliche konstituierende Gewalt des Volkes gegen die geliehene konstituierte Gewalt seiner Regierung ein. Ohne diese immer wieder aufflackernde elementare bürgerliche Macht verliert sogar die Demokratie letztlich ihr Leben.

Im Umbruch vom 20. aufs 21. Jahrhundert wurden zudem die konservierenden Effekte eines Systems garantierten Sozialeigentums zum politischen Thema. Es waren insbesondere sozialdemokratisch geführte Regierungen, die dem Tripartismus von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft im Blick auf eine sich verändernde Gesellschaft restituierten. Für die "Gesellschaft der Individuen" (Norbert Elias) passt das auf das "Normalarbeitsverhältnis" männlich dominierter Beschäftigung im ethnisch homogenen Milieu standardisierter Massenfertigung zugeschnittene Modell eines "sorgenden Staates" nicht mehr. Freiheitsspielräume in der work-life-balance und Flexibilitätserfordernisse im Produktionsmodell der "flexiblen Spezialisierung" sowie die Inklusion von Arbeitsmigranten bei relativ offenen Grenzen hatten nach der Auffassung der verschiedenen Varianten von new labour den Bürger von der starren Konstruktion des Arbeitnehmers emanzipiert. In der Rhetorik des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder beispielweise wurde das ordnungspolitische Konzept der Arbeitnehmergesellschaft durch das der Zivilgesellschaft ersetzt. Die Leute selbst können – und sollen – als Bürgerinnen und Bürger nach ihren eigenen Präferenzen entscheiden, wie sie Arbeit und Leben voneinander abgrenzen und aufeinander beziehen. Der Wohlfahrtsstaat soll sie daher nicht in Schablonen pressen, sondern ihnen die Wahl nach eigenem Gutdünken ermöglichen.

Allerdings gilt diese prononcierte Politik der Ermöglichung und Befähigung heute für viele als eine Art "passive Revolution" im Geiste des Neoliberalismus, die den stillen Gesellschaftsvertrag der Bundesrepublik aufgekündigt hat. Diese Botschaft geht freilich nicht primär von jenen aus, die sich als exkludierte Restpopulation des "aktivierenden Wohlfahrtsstaat" fühlen können, weil ihnen die Kompetenzen für vollzeitige und lebenslange Beschäftigungsverhältnisse abgesprochen werden, sondern kommt aus der Mitte der Gesellschaft, wo eine Stimmung der Angst vor dem Abrutschen und Wegbrechen umgeht. Die bürgerliche Mitte scheint ein Unbehagen in ihrem eigenen Milieu zu empfinden, das auf eine von außen kommende Vermarktlichung der Gesellschaft zurückgeführt wird, die die Seelen veröden und das Zusammenleben verwüsten lässt.

Schaut man sich das Innenleben des "Aufstiegsgeschiebes" auf der mittleren Ebene etwas genauer an, stößt man in der Tat auf einige strukturelle Veränderungen, die Zweifel am "gedachten Ganzen" einer inklusiven Mittelstandsgesellschaft mit sich bringen. Da ist zuerst das Thema wachsender sozialer Ungleichheit, das gerade in Milieus einer relativ komfortablen Lebensführung Platz greift. Es geht dabei nur vordergründig darum, dass man die Persistenz von Ausbeutung durch das eine Prozent der immer schon Reichen und Mächtigen beklagt, sondern man erschreckt zur Kenntnis nehmen muss, dass Leute aus dem eigenen Milieu durch die Erfindung einer begehrten neuen Dienstleistung im Netz oder eines neuen Produkts fürs Wohlergehen mit einem Mal zu reichen Leuten werden, die sich keine Sorge mehr machen müssen. Was haben die, was ich nicht habe, worauf haben die geachtet, was mir nicht aufgefallen ist, was haben die gewagt, wozu ich mich nicht getraut habe? Fragen dieser Art können eine Kaskade "relativer Deprivation" in Gang setzen, die einen zuerst unzufrieden und schließlich mürbe werden lässt. Man will zu den Cleveren gehören, die die Zeichen der Zeit erkannt haben und neue Gelegenheiten ergreifen, und muss sich zu denen rechnen, die zu beschränkt und zu lahm waren. Den Preis der Ungleichheit zahlen dem Ökonom Robert H. Frank zufolge diejenigen aus den Mittelklassen, die ins Rennen gehen, nicht diejenigen, die sich fernhalten und sich für die ruhigere, aber eben nicht so lukrative Variante des sukzessiven Statuserwerbs entscheiden.

Diese Logik wird noch durch eine zweite Veränderung in den Ausscheidungswettbewerben für begehrte Positionen verstärkt: Das sind die von Robert H. Frank und Philip J. Cook herausgestellten Winner-take-all-Märkte, bei denen minimale Differenzen in der Performanz darüber entscheiden, wer auf den ersten Rängen landet und alles mitnimmt. Es ist ein gewisses Etwas, das bei gleicher Qualifikation, gleicher Motivation und gleicher Disposition den Ausschlag gibt. Es ist zwar längst bekannt, dass Leistung noch keinen Erfolg garantiert, aber mit dem Wunderbegriff der Performanz kommt etwas Unberechenbares und trotzdem Erlernbares ins Spiel, das einen glücklich oder dumm da stehen lässt. Das sind die soft competences, die man angeblich durch Rhetorikkurse und Medientraining erwerben kann. Ein ganzes Coachgewerbe suggeriert dem ganz normalen Mittelklassemenschen, sich das gewisse Etwas aneignen zu können, das bei den Ausscheidungswettbewerben, in die man mit Ende 20 im Beruf, mit Ende 30 bei der Beziehung und mit Ende 40 für die Phase der lokalen Prominenz kommt, über Alles oder Nichts entscheidet.

Für Frank und Cook gelten diese Verhältnisse längst nicht mehr nur für die Sondermärkte des Spitzensports, der bildenden Kunst oder der Medienprominenz. Im Zeichen der verallgemeinerten Rhetorik des Rankings unterliegen heute auch Berufsmärkte für Scheidungsanwälte, Kieferorthopädinnen und Gestalttherapeuten, die Beziehungs- und Heiratsmärkte der Besserverdienenden und die Aufmerksamkeitsmärkte für die gehobene Selbststilisierung dem Winner-take-all-Prinzip. Überall stellt sich die Frage: Gehöre ich zu jenen, die mit lockerem Auftreten, aber unmissverständlicher Kompetenz die Szene beherrschen – oder muss ich mich zu denen rechnen, die immer nur zum Publikum gehören und höchstens darauf hoffen dürfen, dass sie ab und an nach vorne gebeten werden?

Ein dritter Strukturwandel in der sozialen Aufstellung in der Mittelklassewelt betrifft die Wahl der Bezugsgruppe, die man bei Forderungen nach mehr Geld, mehr Wertschätzung und mehr Macht aufruft. Lokomotivführer vergleichen sich mit Flugkapitänen, Quartiersmanager mit Unternehmensberater und Politiker mit Wirtschaftsbossen. Man fühlt sich im Zweifelsfall nicht der Welt der Kolleginnen und Kollegen verpflichtet, mit denen man tagtäglich zu tun hat, sondern orientiert sich bei seinen Forderungen und Aspirationen an denen, die ganz woanders etwas sehr Ähnliches tun, dafür aber viel mehr Einkommen, Prestige und Einfluss erhalten. So siegt durchaus legitime individuelle Vorteilsgewinnung über hergebrachte kollektive Kooperationsverpflichtung. Die Zeiten, in denen individuelle Tüchtigkeit und gemeinschaftliche Bindung in der Mentalität der Mitte zusammengehörten, sind anscheinend vorbei.

Diese drei Veränderungen der Teilnahmebedingungen an Prozessen der Statuszuweisung im Lebenslauf und der Statusreproduktion in der Generationenfolge deuten auf neue Spaltungstendenzen innerhalb des relativ stabilen Blocks der bürgerlichen Mitte hin. Es gibt vermehrt Studienabgänger aus bildungsreichen Familien ohne beruflichen Erfolg, Universalanwälte, die sich mit Allerweltsvorgängen so gerade über Wasser halten, und Architekten, die in ihrem Beruf noch nie Geld verdient haben.

Ein gebildetes Elternhaus, ein akademischer Abschluss, ein schönes Erbe garantieren noch keine entsprechende Statusposition in der bürgerlichen Mitte. Herkunft wird zu einer Ressource für Karrieren, die aufgrund falscher Wahlen des Studienfachs, des Wohnortes oder der Partnerschaft scheitern können. Das Unbehagen in der bürgerlichen Mitte der deutschen Gesellschaft resultiert aus der Erkenntnis, dass eine bürgerliche Existenzausstattung einen nicht davor rettet, im unteren Teil der Mitte zu landen und in Verhältnissen "prekären Wohlstands" (Werner Hübinger) ein Leben voller Statusinkonsistenzen hinnehmen zu müssen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Bd. 2, Frankfurt/M. 1976, S. 312ff.

  2. Vgl. David McClelland, The Achieving Society, Princeton 1961.

  3. Vgl. Ralf Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht, Hamburg 1965.

  4. Vgl. Werner Kudera et al. (Hrsg.), Lebensführung und Gesellschaft, Opladen 2000. Zugespitzt dann Hans J. Pongratz und G. Günter Voß, Arbeitskraftunternehmer, Berlin 2003.

  5. Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Tübingen–Basel 19937, spricht vom Familienmotiv (S. 258ff.) als einer zentralen bürgerlichen Motivation kapitalistischer Gesellschaften

  6. Vgl. Dieter Claessens, Familie und Wertsystem, Berlin 1979.

  7. Vgl. Thomas H. Marshall, Bürgerrechte und soziale Klassen, Frankfurt/M. 1992.

  8. Vgl. Amitai Etzioni, The Active Society, New York 1968.

  9. Vgl. Lionel Trilling, Das Ende der Aufrichtigkeit, München 1983

  10. Mit Talcott Parsons gesprochen haben Gesellschaft, Kultur und Person in modernen Gesellschaften ein bürgerliches Gepräge.

  11. Siehe etwa Niklas Luhmann (Hrsg.), Soziale Differenzierung, Opladen 1985.

  12. Siehe beispielsweise Ralf Dahrendorf, Der moderne soziale Konflikt, Stuttgart 1992.

  13. Vgl. Joseph Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin 19938.

  14. Vgl. Richard Florida, The Rise of the Creative Class, New York 2002.

  15. Vgl. Michael Vester/Christel Teiwes-Kügler/Andrea Lange-Vester, Die neuen Arbeitnehmer, Hamburg 2007.

  16. Vgl. Heinz Bude/Joachim Fischer/Bernd Kauffmann (Hrsg.), Bürgerlichkeit ohne Bürgertum, München 2010.

  17. Vgl. Reinhart Koselleck/Ulrike Spree/Willibald Steinmetz, Drei bürgerliche Welten?, in: Hans-Jürgen Pule (Hrsg.), Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit, Göttingen 1991, S. 14–58.

  18. Heinz Bude, Die Ausgeschlossenen, München 2008.

  19. So Stefan Hradil, Was prägt das Krankheitsrisiko: Schicht, Lage, Lebensstil?, in: Matthias Richter/Klaus Hurrelmann (Hrsg.), Gesundheitliche Ungleichheit, Wiesbaden 20092, S. 35–54.

  20. Vgl. M. Rainer Lepsius, Wahlverhalten, Parteien und politische Spannungen, in: Politische Vierteljahresschrift, 14 (1973), S. 295–313, hier: S. 308.

  21. So die Bezeichnung von Wolfgang Streeck, Die Krisen des demokratischen Kapitalismus, in: Lettre International, 95 (2011) 4, S. 7–17.

  22. Vgl. Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage, Konstanz 2000.

  23. Ralf Dahrendorf, Bürger und Proletarier. Die Klassen und ihr Schicksal, in: ders., Gesellschaft und Freiheit, München 1961, S. 133–162, hier: S. 133f.

  24. Dazu in erster Linie Vàclav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben, Reinbek 2000. Daneben György Konrád, Antipolitik, Frankfurt/M. 1984.

  25. Der Begriff geht zurück auf Michael J. Piore/Charles F. Sabel, Das Ende der Massenproduktion, Frankfurt/M. 1989.

  26. Siehe Kerstin Jürgens, Arbeits- und Lebenskraft, Wiesbaden 2009.

  27. Siehe zu dieser Deutung Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, Hamburg 2014.

  28. Das ist ein Bild von Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Soziale Mobilität und persönliche Identität (1964), in: Thomas Luckmann, Lebenswelt und Gesellschaft, Paderborn u.a. 1980, S. 142–160, hier: S. 157.

  29. Dies belegt Hans-Ulrich Wehler, Die neue Umverteilung, München 2013.

  30. Vgl. Robert H. Frank, Falling Behind. How Rising Inequality Harms the Middle Classes, Berkeley u.a. 2007, S. 13.

  31. Vgl. Robert H. Frank/Philip J. Cook, The Winner-take-all Society, New York 1995.

  32. Vgl. Hans Peter Dreitzel, Elitebegriff und Sozialstruktur, Stuttgart 1962, S. 99ff.

  33. In diesem Sinne auch Stefan Hradil/Holger Schmidt, Angst und Chancen. Zur Lage der gesellschaftlichen Mitte aus soziologischer Sicht, in: Herbert-Quandt-Stiftung (Hrsg.), Zwischen Erosion und Erneuerung. Die gesellschaftliche Mitte in Deutschland, Frankfurt/M. 2007, S. 163–226.

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Dr. phil., geb. 1954; Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel und Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS); zuletzt erschienen: "Gesellschaft der Angst" (2014); HIS, Mittelweg 36, 20148 Hamburg. E-Mail Link: heinz.bude@his-online.de