In der soziologischen Forschung wurde zuletzt verstärkt diskutiert, dass die wachsende Armut in Deutschland die Mittelschichten zunehmend gefährdet. Eine prägnante Zuspitzung erfuhr diese Diskussion in der These der Auflösung der Mittelschicht.
Damit lassen sich zwei, im Kern verwandte theoretische Argumente diskutieren. Basierend auf der Ausgrenzungsthese ist anzunehmen, dass ein Schrumpfen der Mittelschichten vor allem mit einer Ausweitung sozial deprivierter Schichten einhergeht; darauf hat der Soziologe Olaf Groh-Samberg zuletzt immer wieder hingewiesen. Mit der Entgrenzungsthese kann man ebenfalls argumentieren, dass die Mittelschichten im Umfang abnehmen und durch Abwärtsmobilität prekarisierte Schichten und/oder dauerhaft ausgegrenzte Bevölkerungsschichten wachsen. Allerdings lässt sich aus der Entgrenzungsthese auch eine weitere Überlegung ableiten. Durch wachsende Schichtdynamik können auch wohlhabende Schichten an Bedeutung gewinnen, zum Beispiel durch verstärkte Aufstiegsmobilitäten aus mittleren sozialen Lagen. Gemeinsam teilen beide Thesen die Vorstellung, dass die sozialen Dynamiken in Deutschland in den vergangenen Jahren von wachsenden Ungleichheiten und einer Zunahme sozialer Polarisierung geprägt sind.
Es ist weiterhin unstrittig, dass nicht alle sozialen Gruppen in Deutschland gleichermaßen von Deprivationstendenzen und sozialen Abstiegen bedroht sind. Wie in vielen anderen westlichen Gesellschaften tragen zum Beispiel ältere Personen, Alleinerziehende, kinderreiche Familien, aber auch Menschen mit Migrationshintergrund besondere Risiken. Der Fokus dieses Beitrags liegt auf der Untersuchung letzterer Bevölkerungsgruppe. Damit greift der Beitrag auch ein Desiderat der Forschung auf. Anhand eines Vergleichs zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund werden Schichtzugehörigkeiten und Schichtdynamiken über einen Untersuchungszeitraum von mehr als 20 Jahren untersucht (1991–2012).
Dass Migrant(inn)en mit besonderen sozialen Risiken konfrontiert sind, wurde durch die Forschung in der Vergangenheit immer wieder belegt;
Zwischen den migrantischen Gruppen in Deutschland differieren die Risiken, aus den Mittelschichten herauszufallen, nicht unerheblich. Studien zeigen beispielsweise, dass (Spät-)Aussiedler(innen) geringere Armutsrisiken haben als eingebürgerte Migrant(inn)en oder Personen mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit; türkischstämmige und ex-jugoslawische Bürger(innen) tragen hingegen ein hohes Risiko.
Daran anknüpfend lässt sich mit Ingrid Tucci und Gert G. Wagner vermuten,
Daten, Methoden, Variablen
Für die Analysen dieses Beitrags wurden Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) aus den Erhebungsjahren 1991 bis 2012 verwendet. Die empirischen Auswertungen beziehen sich auf Befragte, die älter als 16 Jahre sind
Die zentrale Variable der Schichtzugehörigkeit enthält fünf Ausprägungen: (1) Personen, die der Oberschicht zugeordnet werden können, verfügen über mehr als 200 Prozent des nationalen Medianeinkommens. (2) Angehörige der oberen Mittelschicht haben Einkommen von 140 bis 200 Prozent des nationalen Medianeinkommens. (3) Personen, die der Mittelschicht angehören, verfügen über 80 bis 140 Prozent des Medianeinkommens. (4) Personen, die in einer "Prekariatszone" leben, können auf Einkommen von 60 bis 80 Prozent des Medianeinkommens zurückgreifen. (5) Die fünfte Gruppe enthält armutsgefährdete Personen, deren Einkommen unterhalb von 60 Prozent des nationalen Medianeinkommens liegt. Dieses Messkonzept orientiert sich an vergleichbaren Studien der aktuellen Sozialforschung.
Neben diesem Schichtkonzept wird im deskriptiven Teil der Analysen ein Lebenslagenansatz zur Bemessung von multiplen Armutsrisiken verwendet; Basis hierfür sind Arbeiten von Groh-Samberg.
Trendanalysen – Schichtzugehörigkeit von Migrant(inn)en und Deutschen
Die Tabelle zeigt auf einen Blick, dass sich vor allem die Lebenssituation vieler Migrant(inn)en in Deutschland in den vergangenen Jahren deutlich verschlechtert hat. Bei den Migrant(inn)en, hier vor allem bei den türkischen Bürger(inne)n, ist die Mittelschicht stark geschrumpft. Kurz nach der deutschen Wiedervereinigung war die migrantische Mittelschicht noch etwa so groß wie die deutsche Mittelschicht. Inzwischen kann man nur noch 36 Prozent der Bürger(innen) ohne deutsche Staatsbürgerschaft dieser Gruppe zurechnen.
Diese Entwicklung geht mit einem klaren Anstieg der Armutsgefährdung einher, sie zeigt sich auch in einer Verdoppelung der Deprivation: 2012 verfügte etwa ein Viertel der nicht-deutschen Wohnbevölkerung über Einkommen, die unterhalb der Armutsgefährdungsgrenze liegen, und fast die Hälfte der Migrant(inn)en ist von einer oder mehreren Formen der Deprivation betroffen. Bei den Deutschen trifft das hingegen für weniger als 20 Prozent der Befragten zu. Besonders bedenklich ist die Entwicklung der Sozialhilfeabhängigkeit und die immer schwächer ausgeprägte Fähigkeit vieler nicht-deutscher Haushalte, Rücklagen zu bilden. In diesen Bereichen wächst die Kluft zwischen der deutschen und der nicht-deutschen Bevölkerung sehr deutlich. Die Gruppe der Bürger(innen) ohne deutsche Staatsbürgerschaft, die prekären Lebensbedingungen ausgesetzt ist (60 bis 80 Prozent des Medianeinkommens), ist ähnlich wie bei den deutschen Staatsangehörigen zwischen 1991 und 2012 in etwa konstant geblieben. Da diese Schicht jedoch sehr groß ist (aktuell 26,9 Prozent), lebte 2012 mehr als die Hälfte der ausländischen Bevölkerung in einer Zone der Prekarität beziehungsweise der akuten Armutsgefährdung; bei den türkischen Bürger(inne)n sind dies sogar zwei Drittel aller Befragten. Das ist alarmierend.
Zusätzlich ist darauf hinzuweisen, dass die Gruppe derjenigen, die sich in einer Wohlstandsschicht etabliert haben (140 bis 200 Prozent des Medianeinkommens), zwischen 1991 und 2012 leicht gewachsen ist. Und es zeigt sich, dass der Reichtum unter den Ausländer(inne)n in den vergangenen 20 Jahren ebenfalls zugenommen hat: Während 1991 nicht einmal ein Prozent der Ausländer(innen) reich waren, sind es aktuell etwa 3,5 Prozent. Damit sind alles in allem die Polarisierungstendenzen innerhalb dieser Gruppe deutlich stärker ausgeprägt als bei den Deutschen.
Die Befunde für deutsche Bürger(innen) verweisen auf ähnliche Tendenzen, aber auch auf deutliche Unterschiede zur nicht-deutschen Bevölkerung. Zwar lässt sich auch hier ein Schrumpfen der Mittelschicht beobachten,
Man kann diese Trendanalysen auf folgende Weise zusammenfassen: Erstens, für die Bevölkerung ohne deutsche Staatsbürgerschaft ist eine mehrfache Dynamik der sozialen Polarisierung festzustellen, die ein Anwachsen von Armutslagen, ein Schrumpfen der Mittelschicht und eine Zunahme des Reichtums umfasst. Zweitens, auch für die Bevölkerung mit deutscher Staatsbürgerschaft hat sich die soziale Schichtung zwischen 1991 und 2012 verändert. Ein Schrumpfen der Mittelschicht geht mit leicht wachsender Armut und einer Zunahme von Wohlstand und Reichtum einher.
Strukturanalysen – Risikogruppen
Welche Strukturierungsfaktoren sind für die Schichtzugehörigkeit besonders relevant? Lassen sich besondere Risikogruppen mit Blick auf eine wachsende Abstiegsgefährdung identifizieren? Und wie unterscheiden sich die Mikrologiken der deutschen und migrantischen Bevölkerung diesbezüglich? Zur Beantwortung dieser Leitfragen wurden eine Reihe vertiefender multinomialer Regressionsanalysen für 2012 berechnet.
Die Ergebnisse dieser Berechnungen belegen, dass auch nach Kontrolle von wichtigen Strukturvariablen wie Geschlecht, Alter, Bildung, Erwerbsstatus und Familienstand signifikante Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund bezüglich der Schichtzugehörigkeit bestehen: Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist seltener als diejenigen ohne Migrationshintergrund in der oberen Mittelschicht und in der Oberschicht vertreten (Ausnahme: Bürger(innen) der Mitgliedsländer der EU vor der Beitrittsrunde 2004 (EU-15) und türkische Bürger(innen)). Zudem gehören Migrant(inn)en, abgesehen von EU-15- sowie polnischen Bürger(inne)n, signifikant häufiger der "Prekariatszone" an und leben häufiger in Armut als diejenigen ohne Migrationshintergrund. Die höchsten Armutsrisiken und die geringsten Wahrscheinlichkeiten in der Zone des Wohlstands beziehungsweise des Reichtums zu leben, haben die Russlanddeutschen.
Daneben bestätigen die Analysen auf der Ebene der Wirkungsweise von Strukturvariablen eine Reihe von Ergebnissen, die in der Forschung aktuell diskutiert werden;
Zwischen
Frauen und Männern
sind nach Kontrolle anderer sozialstruktureller Merkmale keine Differenzen bei der Schichtzugehörigkeit feststellbar. Hier zeigen sich keine Unterschiede zwischen der Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund.
Es gibt in Deutschland eine charakteristische
Altersspezifik
der Schichtzugehörigkeit. Die Altersgruppe der unter 30-Jährigen hat geringere Chancen, der Oberschicht oder oberen Mittelschicht anzugehören, als andere Altersgruppen. Bei den Armutsrisiken verhält es sich genau umgekehrt. Hier sind die Risiken der Jungen besonders groß und die der mittleren und älteren Altersgruppen viel geringer. Allerdings haben junge Erwachsene mit Migrationshintergrund keine statistisch erhöhten Risiken, der armutsgefährdeten Schicht anzugehören. Dies könnte daran liegen, dass junge Migrant(inn)en erst später im Lebenslauf einen eigenen Haushalt gründen. Haushaltsgründung, so zeigen Studien, kann mit einer Erhöhung von Armutsrisiken einhergehen, etwa wenn junge Menschen noch in einem Ausbildungsverhältnis stehen.
Die für diesen Beitrag vorgenommen Analysen bestätigen Befunde aus der Sozialstrukturforschung, nach denen es einen engen Zusammenhang zwischen
Bildungskapital
und sozialer Lage gibt. Diejenigen mit tertiären Bildungsabschlüssen haben deutlich geringere Armutsrisiken und wesentlich höhere Chancen, der Oberschicht oder oberen Mittelschicht anzugehören. Zudem leben Personen ohne formale Bildungsabschlüsse oder mit Facharbeiterabschlüssen signifikant häufiger in Armut beziehungsweise in der "Prekariatszone". Oberen Schichten gehören diese Gruppen kaum an. Der
Berufsstatus
ist ebenfalls relevant: Arbeitslose, Auszubildende/Praktikant(inn)en und Rentner(innen)/Pensionäre sind gegenüber der Referenzgruppe der Erwerbstätigen mit höheren sozialen Risiken konfrontiert. Allerdings ist bei den Menschen mit Migrationshintergrund in Westdeutschland der soziale Gradient der Bildung schwächer ausgeprägt, da sie tertiäre Abschlüsse weniger gut vor Armut und Prekarität schützen.
Bezüglich des
familiären Kontexts
zeigen die vorgenommenen Analysen, dass Doppelverdienerhaushalte ohne Kinder häufiger der Oberschicht und oberen Mittelschicht angehören und mit signifikant niedrigeren Armutsrisiken konfrontiert sind. Alleinerziehende gehören seltener den oberen Schichten an. Interessanterweise haben sie auch geringere Armutsrisiken als zum Beispiel Einpersonenhaushalte und finden sich häufiger in der "Prekariatszone" wieder. Familien mit Kindern gehören hingegen etwas häufiger zu den oberen sozialen Schichten. Doppelverdienerhaushalte mit Migrationshintergrund und ohne Kinder haben im Unterschied zu solchen Haushalten ohne Migrationshintergrund keine erhöhte Chance, Teil der oberen Schichten zu sein. Der Zusammenhang zwischen der Haushaltsebene und der Wahrscheinlichkeit, der "Prekariatszone" anzugehören, ist bei den Menschen mit Migrationshintergrund ebenfalls schwächer ausgeprägt, denn unterschiedlich zusammengesetzte Haushalte sind in der "Prekariatszone" mit fast gleich hohen Wahrscheinlichkeiten vertreten. Diesbezüglich weisen unter den Deutschen ohne Migrationshintergrund zum Beispiel Alleinerziehende erhöhte und Familien mit Kindern reduzierte Risiken auf.
Schlussbetrachtung
Die vorgestellten Analysen belegen für die (west-)deutsche Gesellschaft eine wachsende Polarisierung der Einkommensverteilung. Kernelemente dieser Entwicklung sind eine Schrumpfung der Mittelschicht sowie ein Wachstum der Bevölkerungsgruppen an den Rändern der Gesellschaft. Sowohl der Reichtum als auch die Armut haben innerhalb der vergangenen 20 Jahre zugenommen.
Die vorgenommen Analysen haben gezeigt, dass diese Entwicklung für Menschen ohne Migrationshintergrund weniger prägnant verläuft als für Menschen mit Migrationshintergrund. Bei Ersteren ist ein Schrumpfen der Mittelschicht nur mit einem relativ schwachen Anstieg der Armut und mit einer sichtbaren Zunahme des Wohlstands und des Reichtums verbunden. Letztere sind von Polarisierungstendenzen hingegen stärker betroffen: Sowohl Armut als auch Wohlstand beziehungsweise Reichtum nahmen zwischen 1991 und 2012 zu. Damit ist vor allem für Personen mit Migrationshintergrund und etwas weniger stark für die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund die These der zunehmenden Entgrenzung plausibel, und zwar in der doppelten Logik einer Aufwärtsmobilität aus der (unteren) Mitte der Gesellschaft in die Zonen des Wohlstands und des Reichtums und einer Abwärtsmobilität in die Schicht der Armutsgefährdeten.
Die Strukturen der Schichtzugehörigkeit wurden im zweiten Teil der empirischen Analysen für die einheimische und die migrantische Bevölkerung vertiefend untersucht. Der hieraus wichtigste Befunde ist, dass auch nach Kontrolle einer Vielzahl von Einflussgrößen signifikante Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund bezüglich der Schichtzugehörigkeit bestehen: Migrant(inn)en sind seltener in der oberen Mittelschicht und in der Oberschicht vertreten, und sie leben häufiger als die Deutschen ohne Migrationshintergrund in den unteren sozialen Schichten. Die "Mikrologiken" der sozialen Schichtung weisen zudem eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf, beispielsweise mit Blick auf Geschlechtszugehörigkeit und Alter. Ein wichtiger Unterschied in diesem Bereich bezieht sich auf die Strukturwirkung der Bildung: Tertiäre Abschlüsse schützen Personen mit Migrationshintergrund weniger gut vor einer Zugehörigkeit zu den unteren sozialen Schichten.
Die Veränderung der sozialen Schichtung von Migrant(inn)en ist ein Desiderat der Forschung in Deutschland, unabhängig von der bisherigen Debatte um die Auflösung der (deutschen) Mittelschicht. Ausgehend von den vorgestellten Ergebnissen, die auf wichtige Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Bürger(inne)n mit und ohne Migrationshintergrund hinweisen, lassen sich einige weiterführende Fragen erwähnen, die für zukünftige Forschungen relevant werden könnten: Im Rahmen der vorliegenden Analysen war zum Beispiel nicht zu klären, welchen Einfluss die sich verändernde Komposition der betrachteten Migrationspopulationen auf die Ergebnisse hat. So legen die zunehmende Rückwanderung von türkischen Bürger(inne)n in den vergangenen Jahren,
Eine ebenfalls verstärkte Aufmerksamkeit verdienen die besonderen Risikogruppen innerhalb der migrantischen Bevölkerung. Warum bietet zum Beispiel das überwiegend in Deutschland erworbene Bildungskapital von Migrant(inn)en weniger Schutz gegen Armut als dies für autochthone Deutsche der Fall ist? Schließlich ist es aus der Perspektive der Lebensverlaufsforschung eine lohnende Frage, wie sich die Armut im Hinblick auf eine Episodenhaftigkeit unterscheidet: Wie stabil sind Schichtzugehörigkeiten bei Migrant(inn)en, sind sie stabiler als bei den Deutschen ohne Migrationshintergrund? Diese Fragestellungen sind nicht nur soziologisch relevant, sondern auch gesellschaftspolitisch brisant und bedürfen weiterer Forschung.